"Die Demokratie ist eine Schule mit so vielen Klassen, so vielen Prüfungen, wie das Leben selbst. Nicht jedes Volk erreicht und besteht alle, und innerhalb des einzelnen Volkes sind immer eine gewisse Anzahl Schüler ausgesprochen schlecht. Es kommt nicht überall und nicht alle Tage vor, dass die Zurückgebliebenen gleich die Schule in Brand stecken möchten. Aber so ist es heute in Deutschland. Sie möchten brandstiften, um nicht lernen zu müssen, und inzwischen grölen sie, treiben Unfug und vergreifen sich tätlich an „politischen Gegnern“, wenn dumme Jungen überhaupt politische Gegner haben könnten. ... Aber die vernünftigen und brauchbaren Lebensschüler sind in Deutschland die Stärkeren. Sie werden dafür sorgen, dass uns das Schlimmste erspart bleibt."
Das schrieb Heinrich Mann im Jahre 1932. Ein Jahr später wurde das erste Konzentrationslager in Deutschland errichtet. In Dachau, d.h. genau genommen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Dachau, Prittlbach heißt es und wurde erst ein paar Jahre später eingemeindet. Viele Dachauer legen Wert auf diese Unterscheidung. Das Konzentrationslager Dachau war kein Vernichtungslager, obwohl Zehntausende von Menschenleben in ihm vernichtet wurden. In Dachau übte man ein, was man später in anderen Lagern zur Perfektion ausbauen sollte: Menschen zu entwürdigen, zu quälen, zu morden. Das Konzentrationslager Dachau war die "Schule der Gewalt", wie Hans-Günter Richardi es genannt hat.
Seit 27 Jahren gibt es eine KZ Gedenkstätte Dachau. Sie soll und kann eine "Schule der Demokratie" sein, könnte es noch viel mehr sein, wenn die entsprechenden Mittel vorhanden wären. Mit sage und schreibe drei Mitarbeitern verwaltet die Leiterin der Gedenkstätte Barbara Distel das Archiv und die Bibliothek, führt die weltweite Korrespondenz. 700.000 bis 800.000 Menschen besuchen jedes Jahr die Gedenkstätte. Viele möchten reden, Fragen stellen, nicht allein gelassen werden mit dem, was sie hier erfahren.
Acht Jahre hat Barbara Distel einmal auf eine halbe Planstelle gewartet. Noch nie hat ein bayerischer Ministerpräsident diese "Schule der Demokratie", die KZ-Gedenkstätte in Dachau besucht. Der jahrelange Streit um eine "Internationale Jugendbegegnungsstätte" soll hier nicht nachgezeichnet werden. Er ist Ihnen allen sicher hinreichend bekannt. Es wäre die erste Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik gewesen. Ob und wann die Kompromisslösung eines "Jugendgästehauses" Wirklichkeit wird, bleibt abzuwarten. Die Angst, dass das "unselige Band" zwischen dem "einen" und dem "anderen" Dachau zu fest geknüpft werden könnte, diese Angst hat sich in manchen Köpfen festgehakt. Die Gegner des Projekts wollen und können offenbar die Chance nicht erkennen, die darin liegt, aus der "Schule der Gewalt" für den Erhalt der Demokratie zu lernen.
Voraussetzung dafür ist, sich erinnern zu wollen und die Erinnerung auszuhalten. Voraussetzung ist, nicht den vielzitierten Mantel des Schweigens über diese Vergangenheit zu breiten; ein Mantel, der ohnehin nicht mehr wärmt, weil er längst zerschlissen ist, so eifrig auch viele an ihm herumstopfen mögen. Erinnerung aushalten. Das gilt weiß Gott nicht nur für die Dachauer, sondern für uns alle. "Wie halten Sie es nur aus", wurde der jüdische Psychoanalytiker Sammy Speier einmal gefragt, "in Deutschland zu leben?" Er gab die Frage prompt zurück: "Und Sie? Wie halten Sie es aus?"
Als Barbara Distel vor einigen Jahren zu einem Dachauer Notar ging, einem Mann, den sie nicht kannte, las er kopfschüttelnd: "Barbara Distel, Leiterin der KZ Gedenkstätte Dachau" und sagte: "Also KZ, das würde ich weglassen, das macht sich ganz schlecht."
Erinnerung aushalten, heißt wissen zu wollen, wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu werden, heißt wissen zu wollen, was Menschenverachtung bedeutet, die der Menschenvernichtung vorausging.
"Im Frühjahr 1935. Ein kleines Mädchen wagt auf der Straße nicht an einem Pferd vorbeizugehen, das mit seinen Vorderhufen auf dem Bürgersteig steht. Ihre Schwester sagt beruhigend zu ihr: "Geh doch, das Pferd weiß ja nicht, dass wir jüdisch sind.'" Nachzulesen in einem Aufsatz von Wolfgang Benz.
1985 haben sich der Historiker Wolfgang Benz und die Leiterin der KZ Gedenkstätte Barbara Distel zusammengetan, um der Erinnerung ein Forum zu geben. Die Dachauer Hefte. Viele der Überlebenden haben die Kraft zum Überleben nur aufgebracht, um später Zeugnis von dem ablegen zu können, was sie überlebt haben. So auch Teo Ducci, der in dem hier ausgezeichneten Heft Nummer 7 schreibt: "Ich war überzeugt, dass ich mein Leben retten musste, um eine Aufgabe zu erfüllen. Ich musste als Zeuge auftreten."
"Wir sind die Letzten. Fragt uns aus", heißt ein Gedicht von Hans Sahl. Er hat geschrieben, auch ohne gefragt worden zu sein, und über Jahrzehnte kaum Verleger für seine Bücher gefunden. Entweder hieß es, es sei zu früh für eine Auseinandersetzung oder es hieß, es sei zu spät.
In den Dachauer Heften kommen Zeugen zu Wort, die bisher noch nicht gehört wurden. Von Anfang an war es den Herausgebern wichtig, den persönlichen Erinnerungen einen wissenschaftlichen Rahmen zu geben. Ihnen ging es nicht darum, den Lesern wohlfeile "Betroffenheit" zu schenken, sondern sie mit Leid, Mut und Fakten zu konfrontieren. Betroffenheitspathos ist ihre Sache nicht. Es geht ihnen nicht, wie sie schreiben, "um die Beschwörung der Vergangenheit als Selbstzweck, sondern um die Nutzanwendung der Erinnerung für eine demokratische und humane Gesellschaft."
Deshalb brauchen wir gerade heute die Dachauer Hefte, brauchen sie als Schulhefte für die Demokratie, damit, um das Zitat von Heinrich Mann aufzunehmen, die Schüler lernen, statt brandzustiften.
Das mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Heft Nr. 7 hat den Titel "Solidarität und Widerstand". Es ist "den im Verborgenen gebliebenen Widerstandskämpfern und denen gewidmet, denen Solidarität selbstverständlich war." Wir haben Glück. Wir brauchen heute nicht den Mut, von dem man nicht weiß, ob er einem zuwachsen würde, wenn es nötig wäre, Widerstand zu leisten. Die Gnade der späten Geburt hat unsere Generation gnädig davor bewahrt, uns auf diese Weise bewähren zu müssen. Aber das heißt noch lange nicht und zur Zeit erst recht nicht, im behaglichen Lehnstuhl der Demokratie eindösen zu dürfen. Plötzlich ist das Polster durchgesessen und dann wird es verdammt ungemütlich.
Vielleicht ist unsere Demokratie noch nicht gefährdet. Aber sie wird angegriffen. "Machen wir uns nichts vor", hat Richard von Weizsäcker auf der Demonstration in Berlin gesagt oder zu sagen versucht, "was im Laufe dieses Jahres geschehen ist, das hat es bei uns bisher noch nie gegeben in der Nachkriegszeit. Es geht bösartig zu." "Es ist hohe Zeit", mahnte er, "sich zur Wehr zu setzen."
Sich wehren heißt handeln, selber handeln und nicht darauf warten, dass andere es tun, Politiker, Gewerkschaften, Unternehmer oder Kirchen. "Es nützt ja doch nichts", sagen viele und wollen weder demonstrieren, noch Aufrufe unterzeichnen, noch Mahnwachen halten, noch jene respektieren, die es tun. Das ist doch nur gut gemeint, sagen sie herablassend und lächeln sich ob des naiven Engagements der anderen den Dünkel der Wissenden ins Gesicht. Lethargie kommt in zahlreichen Grimassen daher. Es ist an der Zeit, sich einzumischen. Dabei wissen wir alle, dass ein einzelnes Sandkorn das Getriebe nicht stört, sondern dass erst ein kleiner Sandsturm, der Hunderttausende aufwirbelt, ein leichtes Knirschen hervorruft. Es hat in den letzten Wochen vernehmbar geknirscht. Fast eine Million Menschen sind in der Bundesrepublik auf die Straße gegangen, um für unsere Verfassung zu demonstrieren. Übrigens: achtzig Millionen sind wir.
Einmal auf die Straße zu gehen hat nichts mit Widerstand zu tun. Nicht einmal mit Zivilcourage. Die meisten von uns müssen für ihr politisches Bekenntnis noch nicht bezahlen. Gratismut ist das Privileg der Demokratie, Zivilcourage die Voraussetzung für ihren Bestand.
"Mein Job", hat Barbara Distel einmal gesagt, "hat in unserer Gesellschaft einen sehr niedrigen Stellenwert. Einige Leute betrachten einen, als ob man einen psychischen Defekt habe, wenn man so etwas macht wie ich; jemand Sensibles, sagen sie mir ins Gesicht, könne das ja gar nicht schaffen."
Dann kann auch Wolfgang Benz nicht sehr sensibel sein. Er hat vierzig Bücher zum Thema Nationalsozialismus und Nachkriegsdeutschland geschrieben oder herausgegeben. Und nun publizieren die beiden auch noch die Dachauer Hefte. Weder Barbara Distel noch Wolfgang Benz haben sich vom Schrecken des Themas überwältigen lassen. Keiner von beiden fühlt sich als Märtyrer, als Opfer einer Gesellschaft, die unentwegt ihre Stifte zückt, um den Schlussstrich zu ziehen. Barbara Distel sagt, sie könne nur versuchen dazusein, wenn sie gebraucht würde. Wolfgang Benz betont, er sei nicht aus schlechtem Gewissen, sondern eher zufällig an das Thema geraten, er sei kein guter Mensch, sondern Historiker.
Ist das, was Barbara Distel und Wolfgang Benz tun, Ausdruck von Zivilcourage? Ein Begriff übrigens, den wir, so ist es im Grimmschen Wörterbuch nachzulesen, dem Eisernen Kanzler verdanken. Büchmann machte das Zitat aus dem Jahre 1864 zum geflügelten Wort. "Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut;" sagte Bismarck zu Robert v. Keudell, "aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Civilcourage fehlt."
Zivilcourage ist ein Begriff, mit dem sich deutsche Lexika Gelehrte offenbar schwer tun. Das mag einen überraschen oder auch nicht. Im Großen Brockhaus von 1935 kommt Zivilcourage vorsichtshalber gar nicht vor. Obwohl bezweifelt werden darf, dass die Aufnahme des Wortes ins Lexikon die Haltung der Mehrzahl der deutschen Bevölkerung nachhaltig beeinflusst hätte. Und heute, da wir nach der Erfahrung des Dritten Reichs einigen Grund hätten über Zivilcourage nachzudenken, steht im Großen Brockhaus, Zivilcourage sei der "Mut, sich im bürgerlichen Leben für die eigene Überzeugung einzusetzen." Dann hat auch Herr Schönhuber Zivilcourage. Es müsste wohl noch etwas anderes hinzukommen, um die Zivilcourage zu bestimmen, etwas, das mit Zivilisation, mit humanitas und Kultur und Rechtsgefühl zu tun hat.
Zivilcourage ist der Mut, die bürgerliche Gesellschaft zu verteidigen, die den Weg von der Barbarei zur Gesittung gegangen ist. Dazu gehört die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, etwas zu wagen und das beharrlich und ausdauernd. Zivilcourage ist kein Abenteuer, sondern eine Geisteshaltung im Alltag – aus religiösen, aus weltanschaulichen, aus moralischen Gründen. Bürgerlichen Mut haben nicht nur die intellektuellen Verteidiger der Aufklärung, die sich dann, wenn ihre Ideale mit Füßen getreten werden, streitbar zu Wort melden. Bürgermut haben auch und gerade der vielzitierte kleine Mann und die weniger zitierte kleine Frau, die nicht vergessen, dass der Mann, die Frau, das Kind nebenan Menschen sind wie sie. Wobei wir mit Worten wie Mensch und Menschlichkeit sicher vorsichtig und frei von allem Pathos umgehen sollten. Der Mensch, sagt Hans Sahl ganz im Blochschen Geist, kann nicht das Endprodukt der Schöpfung sein. Der Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen – auch er ein fast Vergessener, den kaum einer hören wollte- hat es bitterer zusammengefasst, als er das "homo homini lupus" umwandelte in "homo homini homo", der Mensch ist des Menschen Mensch; noch unzivilisiert also, noch unfähig zur Zivilcourage.
Wenn wir heute von zivilisierten Ländern sprechen, meinen wir meist, dass es dort Telefon und Fernsehen gibt. Licht und Krankenhäuser, Straßen und Autos und geheizte oder gekühlte Hotelzimmer. Oswald Spengler lässt grüßen. Kein Wunder, dass Zivilcourage mit der Umdeutung des Begriffs Zivilisation zu verkommen droht. Als in einer Diskussion ein junger Mann einmal fragte, welche Lehre man denn nun aus den Schrecken des Nationalsozialismus ziehen könne und er zur Antwort bekam, sich in barmherziger Zivilcourage zu üben, meinte er enttäuscht: "Ist das alles?"
Es ist das Schwierigste. Wir brauchen uns nur im Alltag selbst zu beobachten:
Greifen wir ein, wenn ein Ausländer in der U-Bahn als Kanacke oder Bimbosau beschimpft wird oder wenn junge Leute das Horst Wessel-Lied singen?
Widersprechen wir unseren Vorgesetzten, von denen wir beruflich abhängig sind, wenn uns deren politische Linie oder deren Handlungsweisen moralisch empören?
Stehen wir beim Abendessen auf, wenn jemand rassistische Witze erzählt und uns mit diesem dröhnenden Lachen der Unbelehrbaren malträtiert?
Zivilcourage ist nicht nur das Gegenteil von Feigheit, sondern auch das Gegenteil von Lethargie und Schweigen. Zivilcourage widersteht der Resignation. Und dazu gehört mehr, wie gesagt, als einmal auf die Straße zu gehen. Barbara Distel und Wolfgang Benz denken nicht daran zu resignieren. Und es wäre beschämend, wenn wir es täten, beschämend angesichts derer, die unter ganz anderen Umständen den Mut zum Handeln nicht verloren. "Werner Scharff war sich bewusst", heißt es im Heft 7 der Dachauer Hefte, "dass er die Deportationen nicht aufhalten konnte, doch mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln entriss er einzelne der tödlichen Maschinerie."
In den Dachauer Heften wird dagegen angeschrieben, dass wir vergessen, was war und das heißt auch, nicht zu verdrängen, was ist. Der Boden für die Saat, die zur Zeit aufgeht, wird seit langem aufs Feinste gedüngt. Von Bitburg über die Ablehnung einer "durchmischten und durchrassten" Gesellschaft, von der Auktion, auf der die "Toilettengarnitur von Adolf Hitler in Sterling Silber nach einem Entwurf von Frau Prof. Gerda Troost" angeboten wird, bis zur Forderung nach "asylantenfreien Zonen" reicht der Mist, auf dem diejenigen sprießen, die nur darauf stolz sind. Deutsche zu sein.
Erinnerung aushalten. Wolfgang Benz arbeitet zur Zeit an einem Buch über Kinder, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Barbara Distel, so konnten es die Leser des New Yorker in diesem Sommer erfahren, hat Angst davor, was geschehen wird, wenn die ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau aussterben.
"Wer", fragt sie, "wird dann da sein, um die Gedenkstätte zu erhalten?" Die Frage ist auch an uns gerichtet. Wir sollten sie beantworten, sollten dem Comite International de Dachau der ehemaligen Lagerhäftlinge ein deutsches Komitee zur Seite stellen. Diejenigen, die leichtfertig von der "besonderen Verantwortung Deutschlands" sprechen, sind meist auch leicht fertig mit dem Thema Verantwortung, haken es ab bis zum nächsten Gedenktag. Wenn wir uns verantwortlich fühlen, müssen wir dafür etwas tun. Und sage keiner, es nützt ja doch nichts, ohne es versucht zu haben. In der Schule der Demokratie muss man mitarbeiten, sonst fliegt man raus – als einzelner oder als Nation.
In dem Comite International de Dachau, in Barbara Distel, Wolfgang Benz und den Autoren des Dachauer Heftes Nr. 7 haben wir "ausgezeichnete" Lehrer. "Man hat die Freiheiten und Rechte zu erwerben durch Erlernung der Pflichten und Gebundenheiten", so noch einmal Heinrich Mann aus dem Jahre 1932. "Ließe ein ganzes Volk, z.B. das deutsche, sich von den schlechten Lebensschülern verleiten, dann würde es leider solange Schläge bekommen vom Leben und von der Welt, bis es endlich in der untersten Klasse von vorn wieder anfangen müsste zu lernen."
Gabriele von Arnim, München 23.11.1992
Es gilt das gesprochene Wort.