es ist mir eine besondere Freude und Ehre, die Laudatio für Dina Nayeri und ihr Buch „The Ungrateful Refugee / Der Undankbare Flüchtling“ zu halten (oder besser: zu schreiben). Die Pandemie mag uns zwar daran hindern, dieses Buch gemeinsam in der großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität zu feiern - seine Bedeutung wird durch die die aktuelle Entwicklung jedoch nicht geschmälert, ganz im Gegenteil. Das plötzliche Auftauchen des Corona-Virus trifft Menschen auf der Flucht viel härter als uns hier: Grenzen werden geschlossen, Gesundheitspolitiker argumentieren in nationalistischen Logiken, und Lockdowns sind besonders für all jene katastrophal, die in überfüllten Notunterkünften oder Flüchtlingslagern hausen müssen.
Während der vergangenen Jahre hat sich der Ton gegenüber Asylsuchenden und Hilfsbedürftigen verschärft; nun da in Folge der Pandemie Verunsicherung und Armut auch in den reichsten Ländern der Welt spür- und sichtbar werden, ist dieser Ton regelrecht offensiv geworden: Wir sollen zu unserer Unmenschlichkeit stehen, fordern die einen; nur ja keine Geflüchteten aufzunehmen und damit Öl in die Flammen der ‚Neuen Rechten‘ zu gießen, meinen die anderen. Und so ist das Schicksal der Flüchtlinge – an unseren Grenzen und in unserer Mitte – kein Thema mehr, das Schlagzeilen macht. Zu beschäftigt sind wir damit, unsere eigenen Wunden zu lecken.
In der neuen Realität des Virus ist „Der undankbare Flüchtling“ umso bedeutsamer – gerade in diesen Tagen, wenn die Erinnerung an Sophie Scholl in selbstverherrlichenden Auftritten von Gegnern des Infektionsschutzes missbraucht wird. Der Geschwister-Scholl-Preis zeichnet ein Buch aus, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem gegenwärtigen Verantwortungsbewussten wichtige Impulse zu geben.“
Die Schriftstellerin und Publizistin Dina Nayeri – 1979 in Isfahan geboren – erzählt in ihrem Buch sehr persönlich von einem Leben auf der Flucht, ihrem eigenen und dem der Menschen, denen sie in europäischen Städten und unweit mediterraner Urlaubspromenaden begegnete. Als Kind war sie selbst eine Geflüchtete, die nach vielen Stationen gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in den USA Asyl erhielt.
Auf die Frage, warum sie nach zwei Romanen mit „Der undankbare Flüchtling“ ein Sachbuch veröffentlicht habe, antwortet Dina Nayeri, sie wolle „die Argumente über Flucht und Exil, die aus meiner Erfahrung stammen, ohne Schleier der Fiktion präsentieren“ (Der Standard, September 2020). So berichtet sie in ihrem Buch – einfühlsam und eindringlich – von Menschen, die vor Verfolgung, Kriegen und Bürgerkriegen fliehen, in der Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Und sie erzählt von einer Haltung gegenüber Hilfesuchenden, die sich ernstlich verhärtet hat, seit sie selbst sich vor mehr als 30 Jahren auf die Flucht gemacht hatte. So erklärte unlängst der Berater des amerikanischen Präsidenten, Stephen Miller, in einem Interview: Das berühmte Gedicht von Emma Lazarus, The New Colossus, habe nichts mit der Freiheitsstatue zu tun und sei nicht mehr als ein unwesentliches, im Nachhinein hinzugefügtes Detail. Diese Behauptung entspricht, wenig verwunderlich, nicht der Wahrheit. In den vergangenen vier Jahren hat sich die Einwanderungspolitik der USA drastisch geändert, und es ist nicht überraschend, dass Lady Liberty deshalb ihrer historischen Bestimmung als „Mother of Exiles“, als Mutter des Exils, entfremdet werden soll. Denn so nannte Emma Lazarus den Steinkoloss, als sie seine Entstehung mit ihrem Gedicht begleitete. Lazarus wusste, wovon sie sprach: Unermüdlich setzte sich die junge, aus großbürgerlich-sephardischem Haus stammende Aktivistin für die Belange russischer Jüdinnen und Juden ein, die seit den 1880er Jahren zu tausenden den Hafen von New York passierten – allesamt Flüchtlinge der Pogrome des Zaren.
„Die Flucht ist der erste Schritt im Leben eines Migranten“ (22), schreibt Dina Nayeri. Mit diesem Schritt wird ein neues Wesen geboren, das seine Sicherheit verloren hat und seine Vergangenheit eintauscht gegen die Hoffnung auf ein Leben ohne Angst.
Francesca Sanna, Illustratorin und Verfasserin des poetischen Kinderbuchs „Die Flucht“ beschreibt diesen Moment der Entscheidung im Gespräch einer Mutter mit ihren Kindern: „‘Was ist das für ein Land?‘, fragen wir Mama. ‚Dort ist man in Sicherheit.‘, sagt sie. ‚Und wo ist dieses Land?‘, fragen wir nach.“ Die Mutter reckt sich in die Höhe, um an die obersten Regale eines riesigen Bücherregals zu reichen, auf ihrer Suche nach Informationen über das Land der Sicherheit. „Wir wollen nicht weggehen, aber Mama sagt, das werde ein großes Abenteuer.“ Die Koffer sind gepackt, die Bücher – und damit die Geschichte, Kultur und Vergangenheit – bleiben zurück.
Mit diesem Schritt in die Flucht wird ein Mensch zum Migranten und verliert seine Zugehörigkeit als Einheimischer – eine Verwandlung, die Dina Nayeri aufmerksam nachzeichnet, ausgehend von den Erinnerungen an ihre „eigene verworrene Vergangenheit“. So schreibt sie: „Damals war mir das noch nicht bewusst, denn nach einer Flucht ist man euphorisch. Es ist wie ein Sprung in den Nebel, eine Auslöschung des alten Lebens, ein Mord an einem früheren Ich. Die Flucht erschafft ein Chamäleon, eine wachsame Kreatur, immer in Verkleidung.“ (22-23)
Wie weit diese Verlusterfahrung reicht und welche Konsequenzen sie hat, beschrieb Hannah Arendt 1943 in ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ für die, wie sie selbst, aus Europa Geflohenen: „Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. […] Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind. […] und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“ (Arendt, Wir Flüchtlinge, 2016, 10f, und 25, hg. von Thomas Meyer)
Arendt schreibt weiter, den jüdischen Flüchtlingen der 1930er und -40er Jahre sei bewusst gewesen, „dass unmittelbar nach der Ächtung des jüdischen Volkes die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt wurden. Die von einem Land ins andre vertrieben Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker.“ Wie Thomas Meyer zurecht folgert, ist für Hannah Arendt mit diesem Gedanken die Flüchtlingsfrage zu einer universellen Frage geworden. Flucht kann jeden treffen – ebenso wie der damit einhergehende Verlust der Heimat und Sprache, die soziale Deklassierung, die Lächerlichkeit. Flüchtlingen ist das Recht abhandengekommen, „Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird“, und sie sind nicht mehr imstande, es wiederzugewinnen. (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2001, 614)
Auf ihren Reisen durch Flüchtlingslager und -unterkünfte wird Dina Nayeri eine Geschichte erzählt, „dass man Migranten Beton in die Schuhe gieße und ihnen sage ‚Jetzt habt ihr Wurzeln.‘ Doch Wurzeln zu haben ist nicht dasselbe wie am Weggehen gehindert zu werden. […] Du sollst dich nicht mit den Einheimischen anfreunden, damit du nicht zu gut zurechtkommst in diesem Land. Du mit deinen Betonschuhen sollst keine Wurzeln schlagen. Wenn du anerkannt wirst, heißt das nicht, dass du über Nacht ein freier Mensch wirst. Du bist noch immer ein Fremder...“ (196-197)
Was folgt, sind: Assimilation, Anpassung, Vergessen. In sehr persönlichen Beschreibungen erzählt die geflüchtete Dina Nayeri, was sie selbst sich und ihrem Körper abverlangt hat, damit sie als Chamäleon so erfolgreich wurde, wieder frei zu entscheiden. Wie andere Flüchtlinge tauschte sie die Vielfalt ihrer Kultur ein gegen die Dankbarkeit der Assimilation – Oklahoma statt Isfahan, Fastfood statt Berberitzen und Granatäpfeln, eine operierte Nase, der Verlust der Muttersprache. Die Assimilation aber bleibt immer einseitig: „Ich mag das Wort nicht, denn es heißt, dass man seine Eigenart dabei aufgibt.“, sagt Dina Nayeri im Interview. „Warum muss Assimilation immer nur von einer Seite ausgehen? Beiden Seiten müssen daran teilhaben. Mir gefällt der Ausdruck beiderseitige Assimilation, bei der sich die Menschen gegenseitig in liebevoller Weise beeinflussen.“ (Der Standard, September 2020) Nur auf diese Weise könnten Gesellschaften komplexer werden. Mit der Forderung nach einseitiger Assimilation beraube sich eine Gesellschaft der Chance, bereichert zu werden – dass nämlich die Vielfalt der neuen und alten Kulturen abwechselnd von allen getragen würde. In einer Situation wechselseitiger Assimilation stellt sich die Frage der Dankbarkeit für keinen – oder aber für beide, und letzteres kann durchaus mit eigennützigen Interessen begründet sein: Franz Kafka empfahl seiner Verlobten Felice Bauer im Sommer 1916, sich im Berliner Jüdischen Volksheim zu engagieren – aber dort den Flüchtlingen nicht etwa Unterricht zu erteilen, sondern im Gegenzug von ihnen zu lernen: „Es ist auch eine der eigennützigsten Angelegenheiten“, so Kafka. „Man hilft nicht, sondern sucht Hilfe, es ist aus dieser Arbeit mehr Honig zu holen, als aus allen Blumen der Marienbader Wälder“ (an Felice, 30.7.1916).
Hinsichtlich des Konzeptes einer wechselseitigen Assimilation hat Europa im Allgemeinen, und Deutschland im Besonderen, sich immer schwergetan. Von den paradigmatischen „Fremden“, den europäischen Juden wurde erwartet, sich unter Aufgabe ihrer kulturellen Identität an die jeweilige Landeskultur anzupassen: Alles dem Juden als Individuum, nichts den Juden als Gemeinschaft, so versprach es die Französische Revolution. Obwohl die Betroffenen zur Aufgabe ihrer Sprache, Kultur und teilweise auch ihrer Religion gezwungen wurden, seien sie dankbar gewesen, kritisiert der deutsch-jüdische Schriftsteller und Jurist Josef Kastein in seiner 1931 erschienen „Geschichte der Juden“ - dankbar sogar für Jahrhunderte der Verfolgung: „Im Überschwang ihrer Bereitwilligkeit, alles Erdenkliche zu konzedieren, formulieren sie sogar einen Dank dafür, daß die Häupter der christlichen Kirche ihnen allzeit Wohlwollen und Schutz entgegengebracht hätten. Die Quelle solcher historischen Erkenntnis bleibt dunkel.“
Der sprichwörtliche Dank des Flüchtlings zieht sich nach dem Ersten Weltkrieg, im Zuge der ersten weltweiten Flüchtlingskrise, durch die Feuilletons und Reportagen. Joseph Roth findet ihn zum Beispiel in Paris bei Herrn Weingrod: „Ich habe Herrn Weingrod gefragt: ‚Wie sind Sie nach Paris gekommen?‘ Da sagt Herr Weingrod: ‚Excusez, monsieur, pourquoi nicht nach Paris? Aus Rußland schmeißt man mich hinaus, in Polen sperrt man mich ein, nach Deutschland gibt man mir kein Visum. Pourquoi soll ich nicht kommen nach Paris?‘ Herr Weingrod ist ein tapferer Mann […] und ist immer guter Laune. Er hat sich in Frankreich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. Viele Ostjuden haben freiwillig und aus Dankbarkeit im französischen Heer gedient.“
Etwa sieben Millionen Menschen waren nach dem Ersten Weltkrieg auf der Flucht, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es über 30 Millionen. Diese beiden humanitären Desaster hatten zur Folge, dass die internationale Staatengemeinschaft das Problem der Flucht wahrnahm und Handlungsbedarf erkannte. Anfang der 1920er Jahre reagierte der neuberufene Hochkommissar für Flüchtlingsfragen beim Völkerbund, der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen, mit einem Reisedokument für staatenlose Flüchtlinge. Obwohl Marc Chagall, Anna Pawlowa und andere Prominente zu den Inhabern dieses „Nansenpasses“ gehörten, wurde es keine Erfolgsgeschichte. Vladimir Nabokov schrieb von einem höchst minderwertigen „Dokument von kränklich grüner Farbe. Sein Inhaber war wenig mehr als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher und hatte die größten Strapazen auf sich zu nehmen, wenn er etwa ins Ausland reisen wollte – je kleiner die Länder, desto mehr Umstände machten sie.“ (Nabokov, Erinnerung sprich, 1999, S. 375).
Nach dem Zweiten Weltkrieg, der siebenmal so viele Menschen heimatlos zurückließ wie der Erste, verpflichtete die Genfer Flüchtlingskonvention alle unterzeichnenden Nationen, Flüchtlinge nicht nur Nothilfe anzubieten sondern auch Zugang zu Arbeitsmärkten und Sozialleistungen, und darüber hinaus ihre Bildungsabschlüsse anzuerkennen. Vor allem ging es darum, die Welt dafür zu sensibilisieren, was Flucht für den Einzelnen bedeutet. Benjamin Ferencz, Chefankläger in den Nürnberger Prozessen, die sich dieser Tage zum 75. mal jähren, zog für sich einen Schluss aus dieser Erfahrung: Ferencz ist ein ausgesprochener Gegner der aktuellen amerikanischen Einwanderungspolitik, im Besonderen der Trennung minderjähriger Kinder von ihren Eltern. Die Ablehnung von Hilfsbedürftigen ist in den Augen des inzwischen 100-jährigen Juristen nichts anderes als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Heute befinden sich fast 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, 15 Millionen mehr noch als vor drei Jahren. Alle zwei Sekunden flieht ein Mensch. Hinter diesen Zahlen stecken persönliche Schicksale, aber auch Träume und Wünsche. Ohne Heimat, ohne Pässe fehlt es den betroffenen Menschen an jeglichen Rechten – selbst am Recht, eine politische Vertretung zu wählen, die für sie eintritt. Gäbe es eine ‚Nation of Refugees‘, wäre die Bevölkerung dieses Landes zahlenmäßig fast so groß wie Deutschland – allerdings ohne ein BIP von 4 Billionen Dollar. 2015 lancierte ein amerikanisch-israelischer Geschäftsmann die Idee einer Refugee Nation – die Flagge (ein schwarzer Balken auf rettungswestenorangem Grund) gibt es seitdem. Das Projekt, das mit dem Kauf einer unbevölkerten Insel realisiert werden sollte, fand jedoch keine praktische Umsetzung.
Dina Nayeris Buch „Der undankbare Flüchtling“ ist, und das muss betont werden, nicht nur ein Buch über oder gar für Geflüchtete. Ohne den Zeigefinger moralisch zu erheben, wendet es sich an alle Gesellschaften, die ihre Chance verpassen, eine Form der beiderseitigen Assimilation zuzulassen und zu fördern. Immigranten würde gern an den Kopf geworfen, dass sie undankbar seien, sagt die Autorin. Dabei sei es doch nichts anderes als ein Zufall, dass der eine in diesem Land geboren sei und deshalb auf der Flucht, der andere in jenem und folglich sicher und geborgen. (Der Standard, September 2020)
Flucht ist eine universelle Erfahrung – und sollte auf diese Weise für jeden von uns anknüpfbar und zumindest ansatzweise verständlich sein. Es ist schließlich kein Zufall, dass Fluchterzählungen eine zentrale Rolle für Religionen als Wertesysteme spielen: vom Auszug der Israeliten aus Ägypten – und der Flucht vor einem grausamen Pharao, bis hin zu Maria und Josefs Flucht in die entgegengesetzte Richtung vor König Herodes.
Der Verlust einer Heimat – in Raum oder Zeit – sei universell und verbinde uns alle, so Dina Nayeri: „Wir driften von den sichern Orten unserer Kindheit davon. Es gibt keinen Weg zurück. (…) Was die Vergangenheit angeht, so sind wir alle Migranten und unsere Heimat lebt in der Erinnerung, wo wir sie eingeschlossen haben und so tun, als wäre sie unverändert.“ (391)
Eine kluge Einsicht am Ende eines wichtige Buches, die gehört und verstanden werden soll, da sie uns über alle Grenzen und - existentiell unterschiedlichen - Erfahrungen hinweg vereint: Was die Vergangenheit angeht, so sind wir alle Migranten und unsere Heimat lebt in der Erinnerung.