Ich will jetzt nicht so tun, als wär’s ein Preis wie jeder andere. Und als sei es ganz selbstverständlich, dass Hochhuth ins Alte Münchner Rathaus kommt, um sich ausnahmsweise loben zu lassen. Wo doch die Verrisse nur so rauschen, und viele erwarten, dass er als „unerträgliche Provokation“ heruntergemacht wird. Die Stadt hätte sich bestimmt leichter getan mit einem großbürgerlichen Thomas-Mann-Preis oder beim Überreichen der silbernen Straußenfeder. Mein Dank gilt darum den Stadträten, den bayerischen Verlegern und Buchhändlern: sie haben es zum größeren Teil entgegen ihrer abweichenden Meinung ein paar unabhängigen Leuten überlassen, den ersten Träger des großen Münchner Buchpreises zu bestimmen. Das ist kulturpolitisch ein Novum. Denn wem je München leuchtete, der weiß: wer hier die Lichtrechnung bezahlt, will auch gern selber die Birne einschrauben.
Rolf Hochhuth, wir wissen alle: wo Sie hinschreiben, erwächst Skandal. Oder sagen wir: wird Skandalöses sichtbar. Sie sind darin trainiert, Ohrfeigen und Fußtritte hinzunehmen oder auszuteilen. Zuletzt haben Sie in Basel, wie es heißt, „alte Wunden aufgerissen“. In Mannheim haben Sie erneut zugeschlagen. Und nicht obgleich, sondern gerade weil Sie das sind, was vorsichtige Feuilletonisten als „umstritten“ bezeichnen, sollen Sie als erster den Preis haben, der ausdrücklich auf den moralischen Impuls eines Buches zielt und auf seine Wirkung. Der Name „Geschwister Scholl“ heißt ja nicht, dass ein Umfeld von 1943 suggeriert werden soll. Er gilt einer unerschrockenen Haltung. Gilt dem Geschriebenen anstelle einer Tat. Der unbedingten Moral in der Politik – wobei vor allem Sie sich berufen dürfen auf Lessing. Denn dessen Wertmaßstab ist, ich zitiere: “Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen“. Lessing fährt fort: „Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte...“
Rolf Hochhuth, wenn es in der deutschen Nachkriegsliteratur einen gibt, der diese Mühe auf sich genommen hat und damit alle Welt ins Bedenken stürzt, sind Sie es. Sie sind ein unerschrockener, für manche ein vielleicht furchtbarer Nachforscher. Und gleichzeitig ein rigoroser Tatortphilosoph nach dem Prinzip, das schon Karl Jaspers bei Ihnen entdeckt hat: offen sein, Fragen ganz ernst nehmen. Sie haben gefragt: Wieso nur musste „Eine Liebe in Deutschland“, der polnische Kriegsgefangene und die Deutsche, am Galgen und im KZ enden? Sie haben gefragt: Was sagen die überlebenden Zeugen dazu? Sie haben gefragt: Wieso regt sich keiner mehr auf?
So kann nur einer fragen, der für sein Thema zu jung ist, denken manche. Hochhuth war ja bei Kriegsende 14. Aber, man muss sich einmal vorstellen, in diesem Dorf Brombach gäb’s noch Bauern, Landsknechte, Marodeure aus dem Dreißigjährigen Krieg – die wären für Hochhuth genauso weit weg und so exotisch, und seine Fragen wären ähnlich insistierend und grundsätzlich wie die an einen überlebenden Ortsgruppenleiter. Ich muss noch weiter gehen: nur durch eine solche Neugier, die zu jung erscheint für ihr Thema, schießt gegenwärtiges Verständnis in die abgelebten Zeiten. So haben viele damals Erwachsene jetzt von Hochhuth mehr über die Epoche erfahren, die sie, im Gegensatz zu ihm, selber mitgemacht haben.
Hochhuth wird in unserer jüngsten Vergangenheit genau an der Stelle fündig, wo die verblassende Augenzeugenschaft übergeht ins bessere Wissen aus dem Archiv. Das strapaziert. Das transportiert heutiges Bewusstsein zurück in frühere Verhältnisse. Wer sich mit Hochhuth befasst, kriegt so oder so die Wut. Ist betroffen. Denkt nach. Lenkt die Wut womöglich vom Thema weg auf ihn persönlich – jedenfalls hat „Eine Liebe in Deutschland“, wie noch jedes Hochhuth-Werk, einen Denkprozess in Gang gebracht. Hat viele heftig grübeln lassen über den Satz: „Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“ – mit dem bohrenden Vorausgedanken: ob wirklich alle Positionen unserer freien Gesellschaft sich guten Gewissens den weiterführenden Satz leisten könnten, der da hieße: „Was heute Rechtens ist, kann morgen nicht Unrecht sein.“
Ich brauche nicht auszuführen, was aus solchen ethischen Gewaltakten wird, wenn sich die Medien ihrer bemächtigen. Diesen beinahe klassischen Ernst können die einfach nicht einordnen. Die gehen in der Mehrfachreproduktion und –reaktion mit dem Thema durch. Es entsteht automatisch so etwas wie Meinungshysterie mit punktueller Hypermoral. Das öffentliche Vokabular und immer wieder die kärglichen drei parteipolitischen Meinungen reichen halt für Hochhuth nicht aus. Und weil er nirgends ganz hinpasst, sieht ihn jeder auf der anderen Seite. Für viele Gläubige das rote Tuch. Für die Roten ein unbrauchbarer Konservativer. Für Konservative viel zu revolutionär. Für Revolutionäre ein individualistischer Literat, der’s nicht bis zur marxistischen Systemkritik gebracht hat. Aber für Literaten ein bloßer Mitteiler, allzu verständlich, mit dramatisch aufgetürmtem Archivmaterial – während die Dramatiker sagen: er gehört gar nicht zu uns.
Es sollte eine Laudatio werden. Rolf Hochhuth: es ist eine. Auch wenn es so klingt wie der Entwurf für ein Toleranzedikt. Das Sie gar nicht nötig hätten. Denn Ihre Fragen an die Deutschen haben sich durchgesetzt gegen die genannten Kräfte unserer Gesellschaft. Auch Ihr Theater ist resistent gegen Kritik. Und selbst wo Sie weit übers Ziel hinausschießen, bleibt zumindest der Eindruck: da war also doch ein Ziel.
Um ihre „Liebe in Deutschland“ ins Licht des Geschwister Scholl-Preises zu rücken, möchte ich daran erinnern, dass es sich um ein aktenkundiges Momentbild handelt aus dem „geistigen Gefängnis“, wie Deutschland im ersten Flugblatt der „Weißen Rose“ genannt wird. Und dessen Aufbrechen Sophie Scholl vor dem Volksgerichtshof in München mit dem inzwischen historischen Satz begleitet hat: „Einer muss schließlich damit anfangen.“ Außerdem steht „Eine Liebe in Deutschland“ im Rang eines Nachrufs auf den polnischen Kriegsgefangenen, was vor lauter deutscher Bestürzung fast vergessen wird. Lassen Sie mich eine eigene, selbstverständlich unautorisierte, Phantasie hinzufügen. Von dem polnischen Schriftsteller Tadeusz Nowakowski wissen wir, dass der jetzige Papst ein traumatisches Erlebnis im polnischen Abwehrkampf vom September 1939 kennt: da rennt ein Fähnrich aus dem Schützengraben mit dem Schlachtruf „Mir nach! Alles oder nichts!“ Aber als er sich nach Minuten umsieht, ist er allein, die Soldaten haben sich nicht vom Fleck gerührt. Und so sei heute wieder Anlass zu der Überlegung, ob das gläubige Fußvolk diesem Fähnrich mit der Tiara nachfolgt oder nicht... – Es gehört kein historischer Surrealismus dazu, sich vorzustellen, dass im Jahr 1939 statt des Soldaten Stasiek Zasada aus Hochhuths Buch der gleichaltrige Karol Wojtyla in deutsche Gefangenschaft geraten wäre. Wojtyla ist auch ein Davongekommener der Geschichte. Und ich glaube, dass ihn der Fall seines Kameraden Zasada mindestens so anrührt wie den deutschen Leser.
Bei Hochhuth das Wichtigste: Schuld löst sich da nicht auf in den Verhältnissen. Noch zwischen den schrecklichsten Dokumenten rechnen Sie mit dem Einzelnen, der sich auch anders hätte verhalten können. Auf keinen Fall wollen Sie die moderne intellektuelle Beihilfe leisten zu Verantwortungsflucht im Gefolge der Frankfurter Schule – kurzum: für mich kommen Sie direkt, wenn auch verspätet, aus Schillers moralischer Anstalt. Und dass gerade Sie und nicht einer der progressiven Veränderungs-Spezialisten schreibend so massive Folgen haben, bestätigt doch: die altmodische Hand aufs moralische Herz ist immer noch ernster zu nehmen als ein Griff ans ideologische Portepée.
Rolf Hochhuth, Sie haben einmal gestanden, dass Sie sich in München sehr wehren müssen gegen die Reize der Stadt. Und dass Sie eine kritische Einstellung geradezu aufbauen müssen in sich, damit Sie sich nicht allzu wohl fühlen. Diesen Zwiespalt in der Natur gönne ich Ihnen weiterhin. Nichts soll Sie, als einen Münchner Preisträger, von der Arbeit abhalten. Sie sollen aber auch merken, dass die Stadt Ihre wie auch immer aufgebaute kritische Haltung zu würdigen weiß. Ob Sie die nun als Vorsicht verstehen, als Abwehr, als Bürgerpflicht oder als Präventivschlag. Jedenfalls haben Sie sich, und dafür der Preis der Geschwister Scholl, um die Nachforschung der Wahrheit verdient gemacht. Unabhängig davon, was andere mit dieser Wahrheit anfangen können.
Armin Eichholz, München 13.11.1980
Es gilt das gesprochene Wort.