Loben ist schwer. Die Laudatio als rhetorische Kunstform verlangt, dass man das Rühmenswerte zusammenträgt, das Tadelnswerte verschweigt: De laudandis nil nisi bene. „Zustimmung“, schreibt ein jüngerer Kollege namens Rainald Götz, „wirkt fast immer schwächlich.“ Der preisende Kritiker, so fährt er fort, möchte immer unsichtbar werden, möchte verschwinden in einem auf das Werk weisenden Gestus: „Hier! Das lesen!“ Da macht zum Glück ein älterer Kollege Mut: „Was ich nicht loben kann, davon sprech ich nicht“, erklärt er unumwunden in den „Zahmen Xenien“.In den Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Diwan des gleichen Kollegen steht der schöne Satz, es sei der menschlichen Natur gemäß und ein Zeichen ihrer höheren Abkunft, dass sie das Edle menschlicher Handlungen und jede höhere Vollkommenheit mit Begeisterung erfasse.
Also, zwischen Bedenken und Ermunterung, packen wir’s an, hüten uns vor den Superlativen, vor dem dick aufgeschmierten Lob, und erwärmen uns an den Vorzügen, die standhalten, an dem, was Goethe „die höheren Vollkommenheiten“ heißt. Wenn „lobpreisen“ mit „Preis“ zusammenhängt, dann hat unser Laudandus davon schon die Fülle geerntet, seit 1968 einen tschechoslowakischen, einen bayerischen, einen schwedischen, einen schlesischen, einen österreichischen und den Georg-Büchner-Preis, der als der angesehenste unter den deutschen Literaturpreisen gilt.
„Der hat doch schon so viele“, war denn auch eines der Bedenken, das dem Vorhaben, Kunzes letzten Gedichtband mit dem Geschwister Scholl-Preis auszuzeichnen, entgegenstand. Und, so setzen die Bedenklichen ihre Überlegungen fort, war dieser Preisregen auf den jungen Poeten nicht nur die Folge einer besonderen politischen Konstellation, seines Widerstandes gegen die Bevormundung in der DDR, seines Parteiergreifens für den Prager Frühling, seiner Absage und Ausreise? Hatte sich Kunze, eigentlich in der Sparte Naturlyrik eingetragen, nicht „nach und nach in einen parolenhaften Anti-Parolendichter verwandelt, über den sich hauptsächlich die Kritiker in der Bundesrepublik freuten, die sich nun ausführlich mit ihm beschäftigen konnten, ohne dabei schwierige ästhetische Fragen behandeln zu müssen.“
Der gleiche Kritiker beginnt seine Rezension mit dem zurechtrückenden Satz: „Es sind die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die immer wieder minor poets vorübergehend den Stellenwert großer Dichter geben – einen Rang, mit dem sie und auch ihre Leser schließlich nicht mehr fertig werden.“ Dem will ich energisch widersprechen: Niemand ist auf den Gedanken gekommen, Reiner Kunze in den Rang eines großen Dichters zu erheben. Wir verstehen uns hoffentlich, wenn ich sage, dass das Prädikat „groß“ in der Nachkriegszeit mit Sicherheit nur den beiden lyrischen Antipoden Brecht und Benn zukommt und versuchsweise vielleicht Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Peter Huchel. Soviel poetae magni und maiores gibt es wahrhaftig nicht, dass die Darmstädter Akademie jedes Jahr einen davon mit ihrem Preis auszeichnen könnte!
Aber unser Dichter, so sagt sein Widersacher, ist nicht nur kleiner, als er zu sein vorgibt oder als die ihm wohlgesonnenen Kritik behauptet, er ist auch noch mager dazu. „Viele der Texte wirken wie ausgepresst und enthalten dennoch keine Konzentrate, keine wertsteigernden Essenzen, sondern bloß Gedankenspelzen; und dieser Mangel an Themen verbirgt sich hinter einer großsprecherischen Gestik, die auffällig mit der poetischen Magerkeit kontrastiert.“ Eine schmale Figur, ein schmales Werk, so heißt es, drei Versbände, von denen zwei nicht einmal die hundert Seiten erreichen, sparsam bedruckt, mal sieben Verse, mal zwölf Verse, auch schon einmal nur sieben Worte. Und seit dem letzten, den „Sensiblen Wegen“, 1969, bis zu dem hier ausgezeichneten sind immerhin fast ein Dutzend Jahre vergangen, davon vier in der Bundesrepublik, dies so vorwurfsvoll gesagt, als verfüge die Bundesrepublik unstreitig über den besseren Kunstdünger für Gedichte...
Ich sehe, ich bin dem Gesetz der Laudatio ganz untreu geworden, habe nicht das Rühmenswerte, sondern das Tadelnswerte zusammengetragen, und muss nun eilends sehen, wie ich das wieder geradebiege. Ich lasse beiseite, ob Kunze ein Maior oder ein Minor, ob er mittelgroß oder überschlank ist, und sage zunächst: Er ist ein Dichter, und er will einer sein. Er nimmt das Wort ganz ernst, so ernst wie Hölderlin oder Baudelaire, und darum wäre nichts irriger, als in ihm so etwas wie einen Natur-, also Feld-, Wald- und Wiesenlyriker zu sehen, der aus Versehen in die hohe Politik geriet. Er nimmt eine Mission für sich in Anspruch, und zwar eine, die in gar keinem Fall einzuordnen ist in den Literaturbetrieb, in das kulturelle Tagesgeschehen, in Markt und Messe.
Hätte man den Kunze nur in Ruhe gelassen, wer weiß, wie viel Löwenzahn und Holunderbusch er produziert haben würde, zu unserer Freude – dieser Seufzer ist falsch. Kunze sah und fühlte von Anfang an Lyrik als Widerstand gegen den Staat, gegen diesen Staat und seine Machthaber, den Dichter als den kleinen, womöglich auch noch schmalen David mit der Schleuder gegen den Koloss. Sein Naturtalent bediente sich der Natur, weil sie selbst widerständig war, selbständig, ordnungswidrig mit ihrer Lebenskraft:
Greiz grüne
zuflucht ich
hoffe
Ausgesperrt aus büchern
ausgesperrt aus zeitungen
ausgesperrt aus sälen
eingesperrt in dieses land
das ich wieder und wieder wählen würde
hoffe ich
mit deinem grün
Das Grün in diesem Gedicht ist nicht das allegorische Hoffnungsgrün, nicht das alternative Polit-Grün, sondern die überwuchernde und überwältigende Kraft der Natur selbst, wie in dem Gedicht „Zuflucht hinter der Zuflucht“ aus dem Band „Zimmerlautstärke“, wo es von Gott, dem ratlos Befragten, heißt: „seine antwort wächst / grün durch alle Fenster.“
Der Dichter, wie ihn Kunze versteht und verkörpert, ist der Widerständler schlechthin, die Gegen-Regierung schlechthin. Dazu gehören, je nach Land verschieden, verschiedene Sorten von Mut: der Mut gegen Vergewaltigung in der DDR, der Mut gegen Verführung in der Bundesrepublik. Ich komme auf seine letzte Sammlung, den in der Bundesrepublik nach erst oder schon vier Jahren erschienenen und hier und heute ausgezeichneten Band „Auf eigene hoffnung“.
Die Bundesrepublik – er wird es ihr verdenken – verzeichnet jeden Namhaften von drüben zu ihr Gekommenen als Einnahmeposten in der Bilanz. Aber Kunze distanziert sich in dem Gedicht „Politiker, eines meiner Bücher lobend“:
Ein menschliches buch, sagte die stimme im telefon
Ich wartete ab
Trotz so vieler enttäuschungen
log im ohr, der kleinen schmiede,
von neuem der steigbügel bereit
Könnten Sie, sagte die stimme
nicht auch etwas schreiben
in unserem sinn?
Es klopft, in der Reihe der Werber, auch der geistliche Würdenträger an die Tür. Man hat läuten hören, dass Kunze der Religion nicht fern stehe. Und Kunze antwortet:
Er sagte nicht: seid
Schöpfer
Er sagte: dient
dem glauben
So gering ist sein glaube
in die schöpfung
Sehr eilig hat es ein anderer Dränger und Vereinnahmungsmeister. Er klopft nicht, er hämmert an die Tür: Ich finde, es ist höchste Zeit, Bitte, lassen Sie von sich hören undsoweiter! Kunze antwortet dem verführerischsten aller Weiß- und Weichmacher, dem Mann von der Branche:
Höchste zeit kommt von innen
Höchste zeit ist, wenn die kerne
schön schwarz sind
und das weiß zuerst
der baum
Die Metapher ist alt, würde Kunze antworten, auch das Dichterhandwerk, der Dichterberuf, die Dichter-Berufung ist alt, und neu an meinem Gedicht ist nur das eine etwas weiter getriebene Apfelkunde, das wissen, dass die Apfelkerne erst blässlich sind, dann bräunlich, erst zuletzt schön, nämlich glänzend schwarz, und auf die Kerne, auf den Kern kommt es an. Dichten hat mit dem Kern, mit dem „ Herz der Dinge“, mit dem „Alten Wahren“ zu tun und kann darum keine Rücksicht auf den Betrieb, und nicht einmal auf die Kommandos des durchlauchtigsten aller Literaturkritiker nehmen. Kunze, heißt das, lädt sich auch nicht in Wohlwollen, in Wohlstand, in Erwartungshorizonte einspannen.
Er hat in der DDR Mut bewiesen, zwar nicht den tollkühnen Mut der Geschwister Scholl, der den Kopf kostete, aber doch den beständigen Mut des Widerspruchs, der ihn die Stimme kostete. Er hat in der Bundesrepublik Mut gezeigt, als er, immerhin angewiesen auch auf Einkünfte aus literarischer Arbeit, sich bei Passau ansiedelte, das seine letzte bedeutsame Rolle in der Literatur zur Zeit des Nibelungenliedes spielte, und als er es darauf ankommen ließ, dass das Establishment den Kopf schüttelte über seine altmodische, stifterhafte Renitenz.
Dieser Mut nun hängt auf eine besondere Weise mit seiner Schreibweise, seinem Lakonismus, seiner ganz gegen die laufende Suada der Zeit gerichtete Einsparung von Druckerschwärze zusammen. Wo Getöse ist, muss man lauter schreien, würde die schlüssige Empfehlung lauten. Kunze sagt: Wo Getöse ist, wo die Verstärker aufgedreht werden, darf man höchstens in Zimmerlautstärke sprechen. Und auf die gleiche Weise setzt er gegen das Rauschen der Rhetorik die kurzen Sätze, die wiederhergestellten Wörter, die sich im Nach-Denken, nach dem Hören, entfaltenden Pointen.
Er hat das bei Brecht gelernt, er hätte es bei Günter Eich studieren können. Er könnte Erich Kästner zitieren, der kurz und bündig reimte:
Wer was zu sagen hat,
hat keine Eile.
Er lässt sich Zeit und sagt’s
In einer Zeile.
In diesem Sinne ist Kunze der Dichter absolut nicht hölderlinisch, sondern eher lessingisch, nicht in Oden oder Elegien redend, sondern epigrammatisch. Das wäre an vielen Beispieen zu zeigen, die für den hier Vortragenden und sein Publikum zugleich den Vorteil hätten, dass sie kurz wären. Aber ich will zum Schluss ein etwas längeres Gedicht vortragen, zwölf Zeilen, eines, das in den Zusammenhang des dichterischen Redens gehört und das gleichzeitig für diejenigen, die Kunze nur flüchtig kennen, oder die mit sich über seinen Rang nicht ins Reine kommen, bezeugen soll, was er in seinen guten Augenblicken kann:
DIMENSION
Gern setze ich mich zum taubstummen, mit den lippen
wörter schälen
Zuhören kann fast nur noch der taube
Er will verstehen
Und nur der stumme auch weiß, was es heißt,
vergebens ums wort zu ringen
Hin und wieder ernennen wir uns durch zunicken
zu alten hasen (jeder im nacken
die meutefühlige narbe)
Gern setze ich mich zum taubstummen, mit den augen
hören, wenn ringsum sich die stimmen
überschlagen
Werner Ross, München 24.11.1981
Es gilt das gesprochene Wort.