„Wie heiß wird er sein, der Herbst 1983?“, fragt Walter Dirks in der Septembernummer der von ihm zusammen mit Eugen Kogon im 38. Jahrgang herausgegebenen Frankfurter Hefte. Ein heißes Ereignis dieses Herbstes steht jedenfalls fest: die Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an den, der so fragte. Ich finde diesen Vorgang durchaus aufregend: herzerwärmend und gemütserhitzend. Gelegentlich wurde die Sorge laut, der Münchner Mut-Preis könnte ins Fahrwasser allzu geläufiger Namen und Leistungen geraten; könnte dadurch, dass er das ohnehin Anerkannte prämiert, den Stachel einbüßen, der in seinem Titel steckt. Da ist was dran: Eine ihrer Dornen beraubte Weiße Rose wäre gerade in diesem Gedenkjahr keine gute Sache. Also plädierten einige für einen möglichst provozierenden Preisträger…
Wir haben ihn gefunden! Die unter dem Titel „War ich ein linker Spinner?“ versammelten „republikanischen Texte“ erfüllen den Anspruch des Preises in exemplarischer Weise. Vor allem schon deshalb, weil das Buch von der Person des Autors nicht ablösbar ist. Es bietet Querschnitt und Quintessenz eines die vergangenen (ach, noch keineswegs vergangenen) fünfeinhalb Jahrzehnte umfassenden journalistischen Engagements, der Schreibtischtaten (warum soll der Begriff den Bösewichtern, und auch noch den banalen, vorbehalten bleiben?) eines Mannes, der es sich in den eigensinnigen Kopf gesetzt hat, mit der Feder sich einzumischen in den zeitgeschichtlichen Prozess, in dem unsere Sache verhandelt wird.
Er tat dies ungefragt und unbeauftragt, ohne Rücksicht auf irgendwelche Windrichtungen, unbekümmert um Erfolg. Ob das, was er für wahr hielt, dem Interesse der jeweiligen Exekutive entspreche oder zuwiderlaufe, übte keinerlei Einfluss auf die Wahl seiner Worte – sieht man vom Sonderfall der Diktatur ab, der die Wahrheitsliebe zwingt, ins Gewand der List zu schlüpfen. Aber auch unterm demokratischen Vorzeichen bleiben die legalen Machthaber der natürliche und übermächtige Gegner des schreibend sich Einmischenden, der in ihnen ein zwar notwendiges, aber eben doch ein Übel sieht und, wenn er das Wort Exekutive hört, von ferne den Umriss einer Guillotine erblickt.
Da ich hier als Laudator auftrete, darf ich wohl den Mund ein wenig voll nehmen und Walter Dirks einen Heiligen der Feder nennen. Überheblich kann der Vergleich nur für den klingen, der über dem Glorienschein, den man ihnen nachträglich verpasst hat, übersieht, was für schwierige, fürchterlich unbequeme Zeitgenossen die meisten dieser Heiligen waren; wie in ihnen jedes Mal gewissermaßen Jesus vor den Großinquisitor tritt, um sich sagen lassen zu müssen: „Warum bist du gekommen, uns zu stören?“
Als Mittel, den Störer mundtot zu machen, hat sich nicht nur der Scheiterhaufen bewährt, sondern ebenso auch die offizielle Heiligsprechung. Was auf Seiten der Mächtigen Werkzeug der Disziplinierung ist, hat für den, der gezähmt werden soll, die Gestalt der Versuchung. Es gibt eine Romantik des Dagegenseins, verführerisch wie alle Romantik, die von den Realisten, sofern sie am Ruder sind, nicht ungern gesehen wird. Im reibungslos funktionierenden Zusammenspiel des Staatstheaterensembles kann die Opposition zur fixen Rolle werden. Walter Dirks – der Linkskatholik vom Dienst, der christliche Sozialist, der das verrufene Wort durch das Attribut, mit dem er es legiert hat, auch für Status-quo-Exponenten akzeptabel macht (ein christlicher Sozialist klingt merkwürdigerweise nur halb so schlimm): das könnte manchem so passen.
Nehmen wir hier also gar einen Akt der Konformierung vor? Die Verbindung des Namens der Geschwister Scholl mit dem des Preisträgers schließt eine solche Interpretation aus. Wer das Werk von Walter Dirks kennt, wer insbesondere seine beiden letzten Bücher – fast gleichzeitig mit dem rot eingebundenen „linken Spinner“ ist ein „singender Stotterer“ in Blau erschienen, autobiographisches Pendant zum Porträt des Publizisten – gelesen hat, braucht sich um die Widerstandskraft ihres Autors nicht zu sorgen. Er hat sich, je älter er wurde, um so weniger bereit gefunden, seinen Frieden mit Verhältnissen zu machen, die seiner Vorstellung von Frieden widersprachen und die er gegen seinen beschwörenden Einspruch sich immer mehr festigen sah.
„Wir sind dabei, den Frieden zu verlieren.“ Der berühmte Anfang des berühmten Aufsatzes aus dem Jahre 1950 über den „restaurativen Charakter der Epoche“, nachzulesen in dem Buch, das wir hier preisen, meint mehr als die verpasste Chance des Neuanfangs nach dem zu unserem unverdienten Glück verlorenen Hitlerkrieg. Er signalisiert auch die Gefährlichkeit der restaurativen Politik, die zunächst ja keineswegs auf der Hand lag. Ihre Tragik liegt darin, dass die Maßnahmen, die sie zum Schutz ihres liebsten Kindes, der Sicherheit, ergreift, zum größten Risikofaktor werden.
Dies erweist sich erst jetzt, im Zeitpunkt der zum Ausbruch gekommenen Krise. Man muss die Hellsicht des Journalisten von 1950 bewundern und zugleich den Weltlauf beklagen mit seinem fatalen Hang, positive Erwartungen so gut wie nie, negative Prophezeiungen fast immer in Erfüllung gehen zu lassen. Walter Dirks täuschte sich nicht, als er die tödliche Gefährlichkeit der Restauration und des ihr zugehörigen Geistes der Strategie in statu nascendi erkannte. Die Aufsätze, die das Buch enthält, haben keineswegs nur historisches, sondern höchst aktuelles Interesse.
Dieses traurige Rechtbehalten teilt ihr Verfasser mit anderen hervorragenden Diagnostikern unserer kranken Zeit – etwa mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Während aber Lagebeurteiler von solchem Rang meist den Blickpunkt der politisch Verantwortlichen einnehmen, identifiziert sich Walter Dirks seit eh und je mit den vielen, über deren Köpfe (man nehme das „über“ im doppelten Wortsinn) die Entscheidungen getroffen zu werden pflegen. Ihm fehlte und fehlt es nicht an revolutionärer Motivation. Ist sie die Folge eines Vaterkonflikts, den man gewöhnlich für sie voraussetzt?
Darüber gibt das andere Buch „Der singende Stotterer“ Auskunft. Nicht das Elternhaus, wohl aber die Schule figuriert in dieser Biographie als paternitäre Bastion, an der sich Widerspruchsgeist und Widerstandselan entzündeten; es ist insbesondere die Turnhalle des Dortmunder Gymnasiums, die den Ungeist der auf Gleichschritt und Disziplin pochenden Autorität eines ganzen Zeitalters verkörpert. Dem Marschieren und Laufen in Kolonnen, einer Bewegung, die im toten Kreise ging, setzte der Wandervogel seine Parole des Aus- und Aufbruchs entgegen: Die katholische Jugendbewegung wurde für Walter Dirks zum stärksten Vehikel einer gegen die Vaterwelt geübten Opposition. Er ist sich stets treu geblieben, rühmen Verfasser von Geburtstagsartikeln mit leicht gerümpfter Nase; es klingt ein bisschen nach nie überwundener pubertärer Trotzhaltung. Der ewige Wandervogel. Die Lektüre der beiden Bücher belehrt eines Besseren: In dieser Treue zu sich selbst erkennen wir den Reflex auf die Kontinuität einer von den fürchterlichsten Lektionen fürchterlich unerschütterten Herrschaft der Väter.
Das Prädikat Haltung, das in solchen Fällen gern verliehen wird, möchte ich Walter Dirks ersparen. Wie sagte Adorno (mit dem Dirks übrigens im Frankfurter Institut für Sozialforschung zusammenarbeitete und der ihm in frühen Jahren die Ohren für eine neue Ästhetik der Tonkunst öffnete)? „Wer Haltung hat, lehnt sich in seine Persönlichkeit zurück…“ Sie ist, so verstanden, das Gegenteil dessen, was unseren Preisträger auszeichnet: produktive Unruhe, Hoffnung, die sich durch massive Enttäuschungsschläge nicht entmutigen lässt, eine gegen die chronisch widerkehrende Versuchung zum Widerruf behauptete Option für das Leben, dessen Gesetz Wandlung, Erneuerung heißt.
Mögen bei Walter Dirks die revolutionäre Motivation, die Parteinahme für den Menschen in seiner Ohnmacht auch ihre psychologisch und soziologisch bestimmbare Herkunft haben – ihr eigentlicher Ursprung liegt anderswo. „Wenn man’s so hört, möchte’s leidlich scheinen, / Steht aber doch immer schief darum; / Denn du hast kein Christentum.“ Gretchens Antwort auf Fausts Antwort auf Gretchens Frage – hier müsste sie anders lauten: „Was du auch schreibst, die Wahrheit will’s mir scheinen, / Und es steht gar nicht schief darum; / Denn du hast ein Christentum.“
Das spezifisch Christliche begegnet mir im Denken des Walter Dirks als Überzeugung von der Kreatürlichkeit des Menschen. Der Begriff schließt zweierlei ein: Ebenbild und Erdenwurm. Als Gottes Ebenbild gewinnt der einzelne absoluten und unendlichen Wert, als endliches Geschöpf bleibt er auf Erlösung angewiesen. Gerade weil ihm auf Erden nicht voll und ganz, nicht auf die Dauer zu helfen ist, bedarf er der tatkräftigsten mitmenschlichen Hilfe. Walter Dirks fasst diese Zweigleisigkeit in die Unterscheidung von Heil und Wohl – sie steckt in der Formel vom christlichen Sozialismus.
Mit der Vorstellung der menschlichen Gebrechlichkeit, Gebrochenheit hängt aufs engste der Appell zu einer radikalen Sinnesänderung zusammen. Die leidenschaftliche Beschwörung, aus den gewohnten Denkbahnen auszubrechen, der Vergangenheit im Sinn einer Wiederkehr des Gleichen um der Zukunft willen abzusagen, findet sich am Anfang aller vier Evangelien. Es ist die Botschaft Johannes des Täufers. Auch heute sind seine Nachfolger Rufer in der Wüste.
Angesichts des desolaten Weltzustandes bietet der Preis an Walter Dirks keinen Anlass zum Jubel. Ach, kein Sieger tritt da auf uns zu. Immer wieder nahmen die Dinge den Verlauf, der ziemlich genau in der Gegenrichtung seines Engagements, seiner Wünsche und seiner Hoffnung lag. Die Entscheidungen fielen gegen ihn. Unter solchen Umständen ist die Frage „War ich ein linker Spinner?“ alles andere als eine Floskel. Vielleicht haben die Leute wirklich recht, die ein solches Denken ins schöne Reich der heilen Ideen verbannen. Vielleicht. Ausgemacht ist es noch nicht, ob die Sieger von gestern und heute nicht die Verlierer von morgen sind. Positiv und mit seinen Worten gesagt: „Es ist nicht sicher, dass die Geschichte schlimm ausgeht.“
Albert von Schirnding, München 28.11.1983
Es gilt das gesprochene Wort.