Sie hören aus der Barockmusik heraus, dass eine beruhigende Veranstaltung vorgesehen ist. Wär’s eine Aspekte-Sendung, müssten Sie damit rechnen, dass im musikalischen Hintergrund das Horst-Wessel-Lied mit der Internationalen kämpft und ein Kirchenchor dazwischenkommt, der seinerseits die Gitarre von Siegfried Zimmerschied im Nacken hat...
Es ist das erste Mal in der kurzen Geschichte des Münchner Geschwister Scholl-Preises, dass eines ganz klar wird: er prämiert nicht den schöngeistigen Ausweg. Der Name verlangt nach höherer Besessenheit auch etwas außerhalb der Literatur. Er verlangt eine riskantere Haltung. Und damit, meine Damen und Herren, sind Sie mitten in der Jury, die sich jedes Jahr fragt: was ist denn bei uns schon riskant?
Wenn sich einer wie Günter Wallraff unter falschem Namen in eine Firma einschleicht? Wenn sich einer wie Achternbusch als Christus-Figur auf den Marienplatz stellt und laut Scheiße schreit? In unserer volldemokratischen Landschaft sind sie zuletzt doch alle vollkaskoversichert. Oder muss erst einer aus der DDR kommen, damit wir wenigstens leihweise einen echten Verfolgten haben?
Manchmal regt sich auch der Verdacht: ob wir’s im unteren Bewusstsein der Zeitgenossen nicht schon zu sehr zu tun haben mit der abgenützten Zerknirschpflicht eines Veteranenkalenders? Bedenken Sie doch, meine Damen und Herren: für jeden unter 50 ist die Bundesrepublik überzogen mit moralischen Gedenk-Anlässen, die ererbt sind von den Vätern. Die meisten sind hineingeboren in ein System der negativen Sedanfeiern, möcht ich sagen. Und wer da nicht von Kindesbeinen an, als noch ungelernter Trauerarbeiter, eine traditionelle Betroffenheit übernimmt, von dem heißt es leicht: er hat von Geschichte nichts begriffen, ist unbelehrbar, reaktionär und für alles zu jung.
Aber ich schweife ab, bevor ich anfange. Ich will nur zu bedenken geben: die Geschwister Scholl wären heute im Pensionsalter. Aber ihr Preis ist ja nicht honoris causa reserviert für Senioren, die noch einmal davongekommen sind.
Hinzu kommt: in einem Staat mit elffacher Kulturhoheit und 1000 Preisen ist die einzelne Signalwirkung gering. Und auch die große Auszeichnung erregt Aufsehen nur dann, wenn ästhetische und politische Seh-Gewohnheiten aneinander geraten. Ich erinnere an den Frankfurter Goethepreis für Ernst Jünger – das war für manche eine Politisierung des Olympiers Goethe durch einen Silbenstecher von rechts außen. Und ich erinnere an den Darmstädter Büchner-Preis für Ernst Jandl – das war für manche eine Privatisierung des Revolutionärs Büchner durch einen Silbenspieler von halb links...
Liebe Frau Anja Rosmus-Wenninger, was geht Sie das an, werden Sie sagen. Wir reißen Sie hier aus Passau heraus in eine Öffentlichkeit, an die Sie in Ihren Schulaufsätzen nie gedacht haben. Wir bringen Sie in Verbindung mit Namen wie Hochhuth, Reiner Kunze, Franz Fühmann, Walter Dirks – die könnten alle Ihre Väter und Großväter sein. Und wenn Sie sagen: „Was hab denn ich mit Literatur zu tun?“, muss ich Ihnen ehrlicherweise antworten: nichts, vorläufig. Aber das Wort Literatur soll Sie nicht schrecken. Es handelt sich, entgegen dem verbreiteten Sprachgebrauch, um einen Buchpreis, bei dem, wie gesagt, der rein belletristische Anspruch nicht im Vordergrund steht.
Aber was dann? Den anderen Anspruch, den haben Sie selber an sich gestellt. Angestoßen von dem Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte“ um den Preis des Bundespräsidenten. Die Erforschung der Wahrheit über die 30er Jahre in Passau haben Sie dann weiter betrieben mit einem Ernst, dem ein ungläubiger Schrecken voranging. Ein Erschrecken darüber, dass die vorhandenen Literatur über diese Zeit nicht mit dem übereinstimmt, was Ihnen die Leute sagen. Aber was sie sagen, hat Ihnen auch nicht gereicht. Und schließlich mussten Sie sich vor ängstlich verschlossenen Archiven und vor noch verschlosseneren Menschen die Frage stellen und selber beantworten: warum reagieren die alle so gereizt?
Allein diese tätige Neugier aus erwiesener Unschuld hat aus der höheren Tochter in Passau, entschuldigen Sie die harten Ausdrücke, ein Zoon politikon gemacht, und das entfaltet sich nun gegen Widerstände in der Gesellschaft.
Ihr Buch über Widerstand und Verfolgung am Beispiel Passaus in den Jahren 33-39 ist also auch ein Buch über Widerwillen und Verdrängung beim Erinnern. Es liest sich wie ein Exposé für einen Tatort-Krimi. Und es unterscheidet sich von Arbeiten der meisten Fachhistoriker:
1. durch die fleißig, im überschaubaren Raum, zusammengetragenen Grenznachrichten zwischen dem scheinbar noch privaten und doch schon vorpolitischen Verhalten im Nationalsozialismus. Es entspricht der exemplarischen Auskunft einer Verkäuferin: „Mei, mia ham so dahiglebt, mit da Politik hama uns ned so auskennt“.
2. erkenne ich in dem Buch keine vorgefasste Meinung. Kein bequemes Erklärungsmodell. Die Autorin buchstabiert sich vielmehr zurück, als erlerne sie eine untergegangene Sprache. Und
3. die synthetisch rekonstruierten Menschen aus Archivmaterial, Gesprächsfetzen und Fragebogen behalten bei ihr das Fragmentarische, das Unvereinbare, den offensichtlichen Zwiespalt in der Natur. Und damit bleibt sie jedenfalls in der Nähe der erreichbaren Wahrheit.
In Passau weiß man jetzt mehr über das Funktionieren eines vorwiegend unpolitischen Gemeinwesens im Nationalsozialismus. Mir imponiert, wie sich Anja Rosmus-Wenninger an die verschollenen Fakten herangearbeitet hat – und zwar ohne der linken Lehre aufzusitzen von der unbedingt „denunziatorischen Aufgabe der Geschichtsschreibung“.
Nicht als Tochter eines Diözesanratsvorsitzenden, sondern auf Grund ihrer Nachforschungen erkennt sie auch die entscheidende Rolle der katholischen Kirche. Es heißt in ihrem Resümee: „Bauern und die Mehrzahl der Bürger waren aus Tradition ‚schwarz’, behielten ihren Kontakt zur Kirche und waren dem Nationalsozialismus wenig zugetan.“
Bei der Gelegenheit wage ich eine bescheidene Bitte an jene Damen und Herren Stadträte, die sich dem einstimmigen Votum der Jury nicht anschließen können. Lassen Sie sich bitte nicht durch den publizistischen Wirbel um das Buch und nicht durch einseitige Akzentuierung ablenken von dem mutigen, sauberen Griff einer 24jährigen in unsere Vergangenheit. Wer mit diesen Augen die Geschichte neu sieht, versteht die Jungen besser und hat mehr Stoff zum Nachdenken.
Man muss auch verstehen, warum Frau Rosmus-Wenninger vielen Familien in Passau so unheimlich geworden ist. Den Archiven geht natürlich einiger Kontext ab. Und irgendwas ist ja noch dran an der berühmten Rede des 86jährigen Cato, der meint: man kann sich vor niemandem verteidigen als vor denen, mit denen man gelebt hat.
Ein Missverständnis wäre noch auszuräumen: dass mit der Münchner Laudatio für Anja Rosmus-Wenninger etwa verbunden sei eine Art Maledictio für Passau. Das könnte sich die vormalige Hauptstadt der Bewegung gar nicht leisten. Als Studienobjekt für Geschichtsstudenten hat sie leider weitaus mehr zu bieten.
Meine Damen und Herren, wenn ich jetzt behaupte, Frau Anja Rosmus-Wenninger hat Geschichte von innen zum Sprechen gebracht, stelle ich sie geradezu wie ein Maskottchen aufs Pult des diesjährigen Deutschen Historikertags in Berlin. Dort nämlich entdeckten die Professoren nach der soziologischen, der schrecklichen Zeit ihres Fachs wieder den Menschen als den Gestalter und Erleider der Geschichte. Es war die Rede von der alten „mikrohistorischen Besenkammer“, über die heute wieder der Weg zur Erkenntnis führen muss. Diese Theorie, von der ja auch unser neuer, unser Reitz-voller Heimatbegriff nutznießt, hat Anja Rosmus-Wenninger mit ihrem Material aus der Praxis bestätigt. Sie ist, im wissenschaftlichen Sinn, die erste junge Frau, die wieder aus der historischen Besenkammer kommt, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Liebe Frau Rosmus-Wenninger, ich hoffe, wir haben Sie nicht allzu sehr strapaziert. Ich beglückwünsche Sie herzlich zum fünften Geschwister Scholl-Preis.
Sie sind jetzt so alt wie Hans Scholl, als er am 23. Februar 1943 hingerichtet wurde. Und vielleicht macht Ihnen der schwere Name zu schaffen. Aber vor Ihnen liegt noch allerhand. Und ich wünsche Ihnen das Glück, dass Sie mit Ihrer Familie und mit Ihrer Arbeit diesen Satz von Claudel auskosten können, den Hans Scholl in seinem letzten Brief vor der Hinrichtung zitiert. Er heißt: „Das Leben ist ein großes Abenteuer zum Licht“.
Aber wenn Ihnen dieser Satz zu groß ist, lesen Sie bitte den Brief zu Ende, da heißt es ganz sachlich: „Es wäre vielleicht gut, wenn wir in Zukunft uns nicht so sehr die Reflexionen unserer Herzen als unseres Verstandes mitteilen würden“.
Mir scheint, ein bisschen haben Sie sich daran schon gehalten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Armin Eichholz, München 19.11.1984
Es gilt das gesprochene Wort.