Helmuth James Graf von Moltke wurde 1907 in Kreisau/Schlesien geboren. Er schlug eine
juristische Laufbahn ein, verzichtete aber 1935 darauf, Richter zu werden, um nicht der NSDAP beitreten zu müssen. Von Moltke war Begründer und aktives Mitglied der Widerstandsgruppe Kreisauer Kreis. Er wurde am 11. Januar 1944 zum Tode verurteilt und zwölf Tage später in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Freya von Moltke, geboren 1911 in Köln, ist die Adressatin der Briefe. Die promovierte Juristin und Ehefrau des Widerstands-kämpfers hat die Texte aufbewahrt und zur Veröffentlichung freigegeben. Sie lebt heute in Vermont, USA. Freya von Moltke nahm den Geschwister-Scholl-Preis in München entgegen. Die Herausgeberin, Beate Ruhm von Oppen, lehrt am St. John’s College in Annapolis, USA. Von ihr liegen zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte vor.
Preisträger 1989
Helmuth James von Moltke
Briefe an Freya
1939-1945
Verlag C.H. Beck
München 1988
ISBN: 3-406-35279-0
Autor
Begründung der Jury
Der Geschwister-Scholl-Preis wird in diesem Jahr einer Sammlung von Briefen verliehen, die Helmuth James Graf Moltke zwischen 1939 und 1945 an seine Frau Freya geschrieben hat. Dieses Buch hat die Bedeutung einer nach einem halben Jahrhundert endlich veröffentlichten Autobiographie des aristokratischen Citoyen und religiösen Weltbürgers Moltke, der – wie er in den letzten Tagen seines Lebens schrieb – hingerichtet wurde, weil „nicht Pläne, nicht Vorbereitungen, sondern der Geist als solcher verfolgt werden soll.“
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Selbstporträt und Porträt seiner Frau zugleich, zeichnen diese Kriegsbriefe aus dem Widerstand zwei Menschen, deren christlich aufrechter Charakter ein Licht bis in unsere Tage wirft, die doch sonst noch so oft von den Schatten jener Jahre verdunkelt werden. Die Erde mag die Furchen der Gewalt über Jahrhunderte zeigen und in unseren stummen Ängsten mögen die Erfahrungen dieser Jahre noch lange verborgen wohnen: In unserer wachen Erinnerung überstrahlt schon heute der mutige Aufstand des Gewissens das Dunkel des rechtlosen Nazi-Terrors. Für diesen Aufstand sind Helmuth James von Moltke ebenso wie die Geschwister Scholl unvergessliche Zeugen.
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Verleihung
Am 10. November 1989 nahm Freya von Moltke, die Adressatin der Briefe, stellvertretend für ihren Mann Helmuth James von Moltke in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München den Preis entgegen. Oberbürgermeister Georg Kronawitter und Joachim Spencker, Vorsitzender des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V. (ehemaliger Name des Verbandes bis 2003), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio bei der feierlichen Preisverleihung hielt Klaus von Dohnanyi.
Laudatio von Klaus von Dohnanyi
Verehrte Gräfin Moltke, Herr Oberbürgermeister, Herr Spencker, meine Damen und Herren,
Es ist immer ein Buch, dem der Geschwister Scholl-Preis verliehen wird. Das Buch soll, so heißt es in der Stiftungsurkunde, dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse geben. Die Kriegsbriefe an Freya, die Briefe Helmuth James Graf Moltkes an seine Frau, 1939 bis 1945, werden veröffentlicht mehr als 50 Jahre nach jenem 22. August 1939, dem Datum, das der erste Brief dieser Veröffentlichung trägt.
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Briefsammlungen sind Selbstporträts in Mosaikform. Es gibt gute Biographien Moltkes. Die große Biographie Ger van Roons oder auch die von Balfour seien hier nur beispielhaft genannt. Es gibt Bücher über den Widerstand in Deutschland, über den Widerstand des Kreisauer Kreises, es gibt unendlich viele Reden zu den Gedächtnistagen, insbesondere in jedem Jahr zum 20. Juli. Was also können Briefe, und noch dazu solche ohne Antwort - denn die Ihren, Gräfin Moltke, sind ja wohl im wesentlichen verloren - was können diese Briefe im Sinne des Preises, im Sinne der Stiftungsurkunde bedeuten?
Ich will offen sagen: Das war meine erste Reaktion, als die Bitte, hier heute Abend vor Ihnen zu reden, an mich gerichtet wurde. Ich hatte Zweifel. Und noch eine andere Bemerkung möchte ich machen. Jeder von uns trägt auf seine Weise sein Bild des Widerstandes aus einer besonderen Sicht in sich. Ich selbst bin aufgewachsen im Zwielicht der Konspiration, seit frühester Kindheit. Jedes Wort wurde mit Vorsicht gewogen.
Im nachhinein habe ich die ständige Angst meiner Mutter verstanden, die seit dem Januar 1933 und dann zum ersten Mal in den Stunden der Nacht des 30. Juni 1934 voller Angst war. Die ständigen Anrufe: Bist Du gut angekommen, wann kommst Du zurück? Ein Leben in der Konspiration, die ständige Hetze, aber auch das Gehetztwerden, das ich als Kind meinem Vater anmerkte. Ich war kaum 10 Jahre alt, als mein Vater in die Fritsch-Affäre verwickelt war, damals 1937/38, als dann auch der erste Putschversuch fehlschlug, wie ich nachträglich natürlich erst erfuhr.
Meine Kindheit und Jugend lag im Magnetfeld der Konspiration und der - wie ich dann später erfuhr - fehlgeschlagenen Attentate, der Enttäuschung und des immer wieder von neuem gemachten Anlaufs. Wir hatten also nach dem Krieg unser Bild des Widerstandes. Da waren die Einen, die wegen ihres Glaubens oder ihrer politischen Überzeugungen verfolgt waren. Da waren solche, die sich Vorstellungen von einer Nachkriegs-, Nach-Hitler-Regierung machten, insbesondere die Gruppe um den Oberbürgermeister Goerdeler, „Exzellenzen“, wie ich erinnere, nannte sie Helmuth Graf Moltke einmal in einem Brief nicht nur freundlich.
Dann waren diejenigen da, die nachdachten und auch aufschrieben, die sogar Sachen aufschrieben, wie es danach sein sollte, also der Kreisauer Kreis. Und dann waren da die Konspiratoren, die Täter. Ihre Überzeugung war: alles wird anders sein. das kann man nicht vorbereiten, man muss jetzt etwas tun, man muss das beenden, Hitler muss sterben, erst dann können wir mit dem Neuen beginnen!
So hörte ich nach 1945 die Stimme meines Vaters durch meine Mutter. Der Widerstand blieb für mich im Kern das Drängen zum aktiven Handeln, das Drängen in der Konspiration, und das war auch eine Kritik am Kreisauer Kreis. Natürlich gab es neben der Konspiration die vielen Formen des Helfens und des Verhinderns, aber im Mittelpunkt stand doch immer in meiner Erinnerung die Tat, das Attentat als Rechtfertigung. Es war nicht leicht aus diesem Blickwinkel mit dem Fehlschlag des Widerstands zu leben.
Haeftens Worte von der Tat, die noch einmal zeugen sollte für das, was Deutschland auch war, schienen den unendlichen Opfern einen Sinn zu geben. Ich musste erst Moltkes Briefe lesen, um nicht nur ihn zu verstehen, sondern, wie ich ganz offen sage, auch ein anderes, ein - wie ich heute meine - breiteres und tieferes Verständnis des Widerstandes zu gewinnen. Die vergebliche Tat, die vergebliche Konspiration bestimmt nach diesem Buch für mich nicht mehr das Bild des Widerstandes.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen das Lesen des Buches und will es Ihnen auch nicht abnehmen. Ich kann Ihnen auch kaum helfen hier von dieser Stelle aus, obwohl ich versuchen will, in einigen wenigen Ausschnitten Helmuth Graf Moltkes Worte selber hier wieder hörbar zu machen und damit das Bild eines Mannes zu schärfen, dessen Leben im Krieg, mit kaum 32 Jahren, mit diesen Briefen zum ersten Mal beschrieben wird, der mit kaum 37 Jahren hingerichtet wurde und der in diesen Briefen ein unbeabsichtigtes Selbstporträt und ein besonderes Bild des Widerstehens beschrieben hat, für mich bis heute lebendig.
Da ist, meine Damen und Herren, in dieser Sammlung von Briefen kaum ein Brief ohne Beschreibung des schrecklichen Geschehens und der eigenen Stellungnahme dazu. Gefallene, Ermordete, Verfolgte, Geplagte, Es kam immer irgendwo in den Briefen vor. Aber kaum ein Brief auch ohne die Schilderung von Natur, Landschaft, Wetter und Freude am Leben. Kaum ein Brief ohne landwirtschaftliche Bewertung - an einer Stelle auf einer Reise nach Paris zum Beispiel neidvoll über die großen Flächen der französischen Landwirtschaft und der Hinweis, dass dort der Flachs offenbar bis 1,20 Meter stehe; unvorstellbar offenbar zuhause in Schlesien. Und kein Brief ohne die Beschreibung von Begegnungen mit Freunden oder Bekannten. Ich will kurz einen solchen Brief im Ausschnitt vorlesen.
Am 5. November 1941: "Das Essen bei Gramsch war nett. Es begann mir einem Tischgebet, das heute doch schon zu den Seltenheiten gehört. Ein Mann, der im Baltikum eingesetzt ist, erzählte teils interessant, teils Greuelgeschichten, die sicher wahr sind. Nachdem er im vollen Zuge war, konnte ich es nicht mehr anhören und sagte, wir müssen leider zu allen solchen Sachen den Mund halten, seit wir uns genau so benähmen. Da bekam ich begeisterte Unterstützung von Frau Gramsch, die sichtlich erleichtert war, dass jemand das gesagt hatte, der Mann wurde eingedeckt und wir gingen wieder zu mehr technischen Fragen über: Landwirtschaft, die neue Kautschukpflanze und ähnliches. Zu Essen gab es eine Ente, die Frau Gramsch gut tranchierte und nachher sehr schönes Obst aus Tirol."
600 Seiten Briefe, ohne die nach seiner Verhaftung - im wesentlichen ohne diese - mitten in der Drangsal des Krieges geschrieben, während der Kreisauer Vorbereitungen, nach und in den Bombennächten und unter Anforderungen der amtlichen Arbeit. Und fast unverschlüsselt, offen - und niemand hätte sie lesen dürfen außer Ihnen, Gräfin Moltke - offen über die Post. Man fragt sich: Wie kann ein Mensch so unangefochten bleiben von den dramatischen Veränderungen der Umwelt? Wie ist es möglich, dass die Briefe aus den Vorkriegstagen 1939 sich fast so lesen wie die Briefe aus dem Januar 1944, persönlich, gelassen und bestimmt, fröhlich auf eine nachdenkliche Weise und immer ehrlich. Was die Ehrlichkeit angeht, möchte ich auch eine kleine Stelle zitieren:
In Paris: (Der Brief ist in Paris geschrieben, schildert aber eine Szene in Brüssel.) "Die Anderen kauften Brot und ich fahndete nach anderen Dingen, z.B. Obst. In einem Laden sah ich einen halben runden Käse, aber nur einen. Ich dachte, das wäre doch die ideale Zulage zum trockenen Brot und wollte reingehen. Dabei genierte ich mich aber so, weil das sichtlich der letzte Käse war, weil der Laden schon leer gekauft war, ab vorne, dass ich wieder umdrehte. Erst als wir wirklich nichts zu essen fanden außer trockenem Brot entschloss ich mich, ein Stück des Käses zu kaufen."
Niemals sind diese Briefe ohne Anteilnahme, aber auch niemals ohne die Distanz, die der Mensch zum Leben und Überleben braucht. Das war eine andere Form von Widerstand. Moltkes Widerstand war menschliche Selbstbehauptung. Moltkes Briefe lassen erkennen, wie sehr er sich für die Erhaltung des Völkerrechts, die völkerrechtsgemäße Behandlung der Kriegsgefangenen, den Schutz der Juden, den Schutz von Verfolgten (wenn deren Schicksal ihm zu Ohren kam) über die er las oder hörte, - wie sehr er sich hier engagierte, Nächte arbeitete, mit Freude und manchmal auch mit Schadenfreude dann seiner Frau berichtete, wie es gelang, windelweiche Kollegen und Vorgesetzte sogar gegen Führerbefehle wenigstens auf Zeit wieder auf den Weg des Rechts zu bringen. Moltkes Briefe lassen jemanden erkennen, der eben nicht nur gedacht und auch nicht nur für die Zeit danach geplant hat, wie ich immer vermutete, sondern der wohl in seinem Rahmen getan, geholfen hat - das wussten wir alle - was ihm in seinem Rahmen möglich war, aber der eben darüber hinaus sich von dieser Form der Mithilfe und der Hilfe in seinem ganzen Leben erfüllen ließ.
"Man kämpft nicht für irgendetwas, sondern gegen irgendetwas: Hass ist die Dominante des Krieges, nicht Liebe, Feigheit, Muckertum, Massenpsychose züchtet der Krieg. Sieh einmal an: gestern war ich in einer Sitzung im A(uswärtigen) A(mt) wegen Judenverfolgung. Es war das erste Mal, dass ich dienstlich mit dieser Frage befasst war."
- Alles offener Brief.
"Ich habe gegen 24 Männer ganz eisern eine Verordnung angegriffen und im Augenblick auch aufgehalten, die bereits die Zustimmung aller Minister und des Chefs des OKW gefunden hatte. Und dann kam ich zurück und der eigentliche Referent im OKW fragte mich: warum haben Sie das getan? Sie können es ja doch nicht ändern, natürlich führen diese Maßnahmen zur Katastrophe. Dieser Mann war ein typischer ..."
und dann zitiert er zwei Verwandte.
"für den Charme und die Qualitäten dieser Männer", schreibt er weiter, "habe ich durchaus ein Organ, aber ihre Handlungen sind von der Zweckmäßigkeit bestimmt, und sie sind bar jeden moralischen Fundus. Sie sind wie Chamäleons: in einer gesunden Gesellschaft machen sie einen gesunden Eindruck, in einer kranken, wie der unseren, machen sie einen kranken. In Wahrheit sind sie weder das eine noch das andere. Sie sind Füllsel. Auch Füllsel muss es geben. Aber unerträglich ist es, wenn Füllsel, der die kranken Teile vergrößert, so tut als habe er eine moralische Berechtigung. – Ich weiß, ich bin rasend streng und ich werde auch immer strenger. Aber es ist nötig, sonst gerät man unbewusst in zweideutige Gesellschaft."
Der Gang der Geschichte, in der das Böse entfesselt war, das schien ihm offenbar jenseits menschlichen Tuns. Mir scheint, Moltkes inneres Ziel in diesen Jahren war, sicher zu machen, dass die Vorherrschaft des Bösen in seiner Zeit ihm, seiner eigenen menschlichen Gestalt nichts anhaben könne. Er wollte sich nicht entziehen, sondern er wollte mit Nichts seiner Person ein Teil dieses Bösen werden. Mit keinem Teil. Auch nicht als Attentäter. Vorbereitet zu sein für danach, das war wichtig; und menschlich zu bleiben jetzt, das war möglich. Aber wer sich vom Tempo, vom Kalender, von den Zielen des Bösen auch nur dadurch einbeziehen ließ, dass er sich auf diese einließ, um sie jetzt durch Konspiration zu bekämpfen, der lief eben auch Gefahr, unwillentlich ein Teil des Bösen zu werden.
Am 1. Juni 1940 schreibt er zum Beispiel, wie um einer späteren Kritik an dem Nur-Denken der Kreisauer zu begegnen (ich zitiere, es ist ein etwas längeres Zitat).
Er schreibt:
"Zur Frage des Kopf-in-den-Sand-Steckens, was wir angeblich in Kreisau betreiben, habe ich folgendes zu sagen. Es ist unsere Pflicht, das Widerliche zu erkennen, es zu analysieren und es in einer höheren, synthetischen Schau zu überwinden und damit für uns nutzbar zu machen. Wer davor wegsieht, weil ihm entweder die Fähigkeit fehlt zu erkennen oder die Kraft, das Erkannte zu überwinden, der steckt den Kopf in den Sand. Ob man aber Einzelheiten in sich aufnimmt, ob man sie diskutiert, ob man sie am Donnerstag oder Freitag erfährt, ist vollkommen gleichgültig. Im Gegenteil die Sucht, die Einzelheiten zu erfahren, führt dazu, dass man darauf viel zu viel Gewicht legt und darüber die genau so wichtige Aufgabe übersieht, diese Tatsachen zu sublimieren und in ihr richtiges Verhältnis zu bringen.
Wenn man hinter diesen Einzelheiten herjagt, dann hat man auch nicht die Kraft zu ihrer Überwindung. Dass die Fähigkeit zur Überwindung in einer friedlichen Atmosphäre größer ist als in einer gehetzten, ist sicher, und jeder der um sich diese friedliche Atmosphäre zu verbreiten imstande ist, ist ein lebendiger Träger und Antreiber in der richtigen Richtung. Frieden ist etwas anderes als Complacency. Wer um sich den äußeren Frieden zu erhalten Schwarz Weiß sein lässt und Böse Gut, der verdient den Frieden nicht, der steckt den Kopf in den Sand. Wer aber jeden Tag weiß, was gut ist und was böse und daran nicht irre wird, wie groß auch der Triumph des Bösen zu sein scheint, der hat den ersten Schritt zur Überwindung dos Bösen gelegt. Darum ist die Atmosphäre des Friedens von ungeheurer Wichtigkeit und man muss sie nicht gefährden.
Mein Lieber, es ist komisch, dass gerade ich Dir das gerade jetzt schreibe, wo ich mit nichts recht zurande komme. Aber vielleicht weiß ich es darum auch so genau. Ich hoffe, dass ich bis zum 8. wieder zurückgefunden habe zu der erforderlichen Sicherheit. Du aber verteidige die Methoden, mit denen das Berghaus so friedlich gehalten worden ist, und mache auf diesem Gebiet keine Kompromisse."
Das Wartenkönnen steht dann natürlich im Mittelpunkt dieses Widerstandes als menschliche Selbstbehauptung des Widerstandes durch Unangreifbarkeit. Er schreibt im Oktober 1940:
"Was wird dieser Krieg nicht alles aufräumen! Er bietet eine wirklich große Chance zu einer Zeit wirklicher Stabilität durchzustoßen. Es ist für mich so zum Greifen nahe, dass ich keine Geduld mehr habe und es ist mir grässlich, dieses Gesicht für mich behalten zu müssen. Aber ich muss abwarten und den komischen Tanz mitmachen."
Dabei hat Moltke die Folgen der Entwicklung früh erkannt und wohl nur einmal im Sommer 1940 an der historischen Perspektive der Niederlage gezweifelt, ein Verhalten, das er sich später nie verzieh.
Er schreibt im August 1941:
'Die Nachrichten aus dem Osten" - August 1941, alles marschierte vorwärts nach Russland - "Die Nachrichten aus dem Osten sind wieder schrecklich. Wir haben offenbar doch sehr, sehr große Verluste. Das wäre aber noch erträglich, wenn nicht Hekatomben von Leichen auf unseren Schultern lägen. Immer wieder hört man Nachrichten, dass von Transporten von Gefangenen oder Juden nur 20% ankommen, dass in Gefangenenlagern Hunger herrscht, dass Typhus und alle anderen Mangel-Epidemien ausgebrochen seien, dass unsere eigenen Leute vor Erschöpfung zusammenbrächen. Was wird passieren, wenn das ganze Volk sich klar ist, dass dieser Krieg verloren ist - (1941 im August!) - und zwar ganz anders verloren als der vorige? Dazu mit einer Blutschuld, die zu unseren Lebzeiten nicht gesühnt und nie vergessen werden kann, mit einer Wirtschaft, die völlig zerrüttet ist? Werden die Männer aufstehen, die imstande sind, aus dieser Strafe die Buße und Reue und damit allmählich die neuen Lebenskräfte zu destillieren? Oder wird alles im Chaos untergehen? In 12 Monaten werden wir die Antwort auf die meisten dieser Fragen wissen."
Das war ein bisschen zu optimistisch. Er sah wohl auch die Gefahren der eigenen Lebensbahn. Wie eine Vorahnung, so scheint mir, schreibt er am 9. Oktober 1941:
"Der Abend gestern war eigentlich nicht fruchtbar, obwohl ich ihn sehr lange ausdehnte, um immer wieder zu versuchen, aus dem mir vorgesetzten Manne Funken zu schlagen. Aber es gelang nicht. Dafür war Poelchau wieder sehr nett und für mich belehrend."
Pfarrer Poelchau war der Pfarrer, der damals in dieser Zeit viele der Gefangenen besuchte und ihnen Beistand gab. Moltke fährt fort:
"Es war insofern eindrucksvoll, als er gerade benachrichtigt worden war, dass 5 von seinen Schützlingen um 7 Uhr abends eröffnet werden sollte, dass sie am heutigen Morgen um 5 Uhr hingerichtet werden würden. Er sitzt dann von 7 bis 5 bei ihnen, ließ sich aber heute Nacht vertreten. Ich habe mir diese Nacht beschreiben lassen: sie ist grauenvoll und doch irgendwie erhaben. Er sagte aber, dass kein Mensch so vorbereitet in den Tod ginge wie diese Leute; und er sagte, dass in den 8 Jahren seiner Praxis noch keiner – mit Ausnahme hysterischer Frauen - nicht ruhig zum Schafott gegangen wäre. Welch eine Leistung eine solche Nacht bedeutet. Es ist grauenhaft und schrecklich; aber es wirft doch Fragen auf, die in dieser Unbedingtheit, Nacktheit und Absolutheit sonst nicht auftreten."
Und wenige Tage später wird es überdeutlich. Er schreibt:
"Um 4 erwachte ich und dachte über Kreisau. die Meinen und den Krieg nach, eine Tätigkeit, die mich nicht quälte, sondern mich angenehm in den neuen Tag hinüberleitete. Bei dieser Gelegenheit wurde ich mir einer Wandlung bewusst, die während des Krieges in mir vorgegangen ist und die ich nur einer tieferen Erkenntnis christlicher Grundsätze zuzuschreiben vermag. Ich glaube nicht, dass ich weniger pessimistisch bin als früher, ich glaube nicht, dass ich das Leid der Menschheit jetzt, wo es grob materialistische Formen angenommen hat, weniger fühle, ich finde auch heute, dass der Mörder mehr zu bedauern ist als der Gemordete, aber trotzdem trage ich es leichter; es hemmt mich weniger als früher.
Die Erkenntnis, dass das, was ich tue, sinnlos ist, hindert mich nicht, es zu tun, weil ich viel fester als früher davon überzeugt bin, dass nur das, was man in der Erkenntnis der Sinnlosigkeit allen Handelns tut, überhaupt einen Sinn hat. Manchmal hadere ich mit mir selbst, indem ich mir vorwerfe, ich hätte mir diese Theorie aus Bequemlichkeit zurechtgelegt; vielleicht ist es auch so, ich vermag aber dennoch nicht, davon zu lassen.
Vergib den Erguss."
Als Mensch, als Durchschnittsmensch wie er meinte, vorbereitet zu sein für die Zeit danach, darum ging es ihm. Im November 1941 schreibt er einmal:
"Vor was für riesigen Problemen stehen wir, und welcher Gigant soll sie lösen? Ist es denkbar, dass eine Gruppe von Durchschnittsmenschen das schafft? Oder ist nicht vielmehr wahrscheinlicher, dass eine solche Gruppe als dass ein Gigant das fertig bringt?“
Meine Damen und Herrn, dieses, ich möchte das auch noch einmal ausdrücklich sagen, Frau von Oppen. so vorzüglich edierte Buch gibt wohl für den Leser ohne weiteres Nachschlagen in anderen Büchern wenig Hinweise auf die unmittelbar inhaltliche Arbeit, die politischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises. Das ist ja auch verständlich, die Briefe waren ja offen, wie ich gesagt habe.
Historiker werden dennoch neue Zusammenhänge aus den Briefen erkennen können. Aber ist das wirklich heute noch so wichtig? Ist das das Wichtigste dieser Veröffentlichung? Ich glaube nein. Mir scheint besonders wichtig - und deswegen, so meine ich, verdient dieses Buch den Geschwister Scholl-Preis - mir scheint besonders wichtig, dass aus diesen Briefen, aus diesem Buch erkennbar wird, was den Kopf des Kreisauer Kreises ausgemacht hat. Nicht die Papiere für danach, wie ich meine. Sowenig übrigens wie der Widerstand sonst nur durch die fehlgeschlagenen Attentate gekennzeichnet werden kann.
Alles wird anders sein, da hatten die Kreisauer Kritiker vielleicht recht. Aber - und das weiß ich erst jetzt nach dem Lesen dieses Buches - dass ein Mensch nicht nur die Integrität seiner Person, also nicht nur Sauberkeit in der politischen Situation, sondern die ganze Fülle seiner Menschlichkeit in dieser Zeit behaupten konnte, selbst behaupten konnte - mit Hilfe seiner Frau behaupten konnte, dass er nicht ein Teil des Strudels wurde, in den alles gezogen wurde, sondern trotz dieser Bedrängnis und dieser Bedrohungen ein Mensch, so wie er war, bleiben konnte: Das macht, so scheint mir, Helmuth von Moltke heute zu einem besonderen Vorbild. Und das macht diese Ausgabe von Briefen so deutlich und so bedeutsam.
"(I)ch wäre", schreibt er `43 im Januar, „so gerne zu Hause bei euch, habe gar keine Lust hier zu sein. Ich kann ja doch nur warten. Ich bin zu sehr davon überzeugt, dass sich gar nichts anderes tun lässt, als dass ich an all die Geschäftigkeit der Anderen glauben könnte.“
Die Geschäftigkeit der anderen – das war die der Konspirateure.
„Warten ist eben viel schwieriger als Handeln und daher ist es so undankbar, Menschen dazu zu bewegen. Im Grunde bin ich eben nur mit Friedrich" - das ist Mierendorf - "und Steltzer hierüber wirklich einig; die Anderen fügen sich nur widerwillig."
Sicherlich hatte er manchmal auch selber Zweifel an diesem Warten, er schreibt im Oktober 41 einmal:
"Eine Bekannte von Kiep hat gesehen, wie ein Jude auf der Strasse zusammenbrach; als sie ihm aufhelfen wollte, trat ein Schutzmann dazwischen, verwehrte es ihr und gab dem auf dem Boden liegenden Körper einen Tritt, damit er in die Gosse rollte; dann wandte er sich mit einem Rest von Schamgefühl an die Dame und sagte: „So ist es uns befohlen.“ (Ich bin sicher, es haben auch noch andere zugesehen außer von Kiep).
"Wie kann jemand so etwas wissen und dennoch frei herumlaufen? Mit welchem Recht? Ist es nicht unvermeidlich, dass er dann eines Tages auch dran kommt und dass man ihn auch in die Gosse rollt? - Das alles sind ja nur Wetterleuchten denn der Sturm steht vor uns. - Wenn ich nur das entsetzliche Gefühl los werden könnte, dass ich mich selbst habe korrumpieren lassen, dass ich nicht mehr scharf genug auf solche Sachen reagiere, dass sie mich quälen, ohne dass spontane Reaktionen entstehen. Ich habe mich selbst verzogen, denn auch in solchen Sachen reagiere ich über den Kopf. Ich denke über eine mögliche Reaktion nach, statt zu handeln."
Aber bis in den Tod blieb Moltke unangreifbar in seiner Person.
Der Widerstand der Selbstbehauptung: wird für uns heute in einer Zeit, in der physischer Mut von niemandem eigentlich verlangt wird, vorbildlich, in einer Zeit, in der ganz andere Gefahren der Anfechtung durch Anpassung; bestehen. Und das ist es, so scheint mir, warum Moltke heute noch einmal besonders zählt. Ich habe das auch erst durch diese Briefe begriffen.
Noch einmal Moltke:
"Warum können Menschen eigentlich keine Geduld haben? Das scheint die Tugend zu sein, die am aller schwersten zu erwerben ist. Ich habe es ja auch lieber wenn alles schnell geht, aber ich bin doch relativ geduldig. Selbst König und Delp, die doch eigentlich Kraft ihrer Disziplin, also ihrer Ausbildung als Theologen, das Warten gelernt haben müssten, können es nicht, und wenn auf eine Aktion der unvermeidliche Rückschlag kommt, so werden sie unruhig und sehen nicht, dass das Tal auch wieder durch eine Höhe abgelöst wird."
Moltkes Leben war ein anderes als das vieler anderer der Täter im Bereich des Widerstandes oder bewusster Märtyrer des Antifaschismus. Sein Leben scheint mir heute, wie alle großen Leben der Geschichte, auch dem Bereich der Dichtung näher zu rücken als nur der politischen Geschichte.
Es war eben nicht so wichtig, ob die Kreisauer Papiere realistisch waren, wie viele in der Nachkriegszeit beim Durchblättern dieser Papiere aufschrieben oder sagten. Wichtig war der Geist, aus dem sie sind und in dem sie geschrieben wurden. Und noc h wichtiger als der Geist, in dem geschrieben und gedacht wurde, war es am Ende, so scheint mir, dass Moltke in diesem Geiste, ja dass er diesen Geist selbst konsequent bis zu seinem Tod gelebt hat. Er schrieb wenige Tage vor seiner Hinrichtung:
"Nicht Pläne, nicht Vorbereitungen sondern der Geist als solcher soll verfolgt werden."
So seine Worte in der Antwort auf Freisler.
Meine Damen und Herren, die „Briefe an Freya“ entsprechen dem, was in der Stiftungsurkunde auch steht, nämlich dass jährlich ein Buch auszuzeichnen sei, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt, das geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.
Vor wenigen Tagen fuhr der Bundeskanzler Kohl nach Polen und dorthin, wo heute Kreisau liegt. Jetzt soll dieses Schloss Kreisau, ein Geschenk an den Feldmarschall preußischer, imperialer Ansprüche; das Schloss eines preußischen Moltke, der denselben Vornamen trug wie jener Bismarcksche Feldherr; jetzt soll ausgerechnet dieses Schloss zum zentralen Ort deutsch-polnischer Verständigung werden und damit Frieden stiften in Europa.
Man würde diese Geschichte nicht glauben und diese Umkehr von Geschichte nicht für möglich halten, wenn es nicht wahr wäre. Deswegen will ich zum Schluss einige Zeilen von Hölderlin lesen, deren Sinn am Ende dieser Rede im Zusammenhang mit dem Bild Helmuth James Graf Moltkes ich, so glaube ich, nicht noch einmal begründen muss. Das Gedicht heißt „Andenken“.
„Der Nordost wehet,
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.“
Und dann heißt es am Schluss:
„Ausgehet der Strom. Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis der See,
Und die Lieb' auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.“
Klaus von Dohnanyi, München 10.11.1989
Es gilt das gesprochene Wort.
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