"...es war still im Gebirg, wo sie gingen, der und jener. Still wars also, still dort oben im Gebirg. Nicht lang wars still, denn wenn der Jud daherkommt und begegnet einem zweiten, dann ists bald vorbei mit dem Schweigen, auch im Gebirg … Die Geschwätzigen. Haben sich ... etwas zu sagen. Gut, lass sie reden …
Bist gekommen von weit, bist gekommen hierher …
Weiss ich.
Weisst du und willst mich fragen: Und bist gekommen trotzdem, bist, trotzdem, gekommen hierher, warum und wozu?
Warum und wozu … weil ich hab' reden müssen, vielleicht, zu mir oder zu dir …"
Die Juden, die da gekommen sind in Paul Celans kleiner Geschichte "Gespräch im Gebirg" gehen in Anlehnung an Büchners "Lenz" "wirklichkeitswund" durchs Gebirg. Sie sind gekommen, um sich auszusprechen. Auszusprechen über ein undenkbares, ein das Fassungsvermögen sprengendes, monströses Menschheitsverbrechen. Undenkbar, weil vor Auschwitz die verfügbaren Idiome versagen (Lyotard).
Trotzdem sind sie da, zum Gespräch in der Einsamkeit des Gebirgs. Geschwätzig sind sie auch noch, schweigen nicht im Angesicht einer Wirklichkeit, für die unser Begreifen keine Begriffe bereitstellt. Trotzdem ist das Signum einer Existenz nach Auschwitz nicht Schweigen. Schweigen ist Sache der Täter. "Wenn die rassisch Deportierten in den Jahren gleich nach dem Kriege geschwiegen haben," wie Alain Finkielkraut sagt, "so nicht, wie es ein melodramatisch-verlogenes Klischee gerne hätte, weil sie sprachlos dastanden, sondern weil ihnen niemand zuhörte! Man hüte sich vor dem falschen Pathos des Unaussprechlichen!"
Das Gegenteil ist der Fall. Auch wenn die tödlich Verletzten wissen, dass durch die bloße Weitergabe der Fakten nichts von der eigentlichen Natur ihrer Leiden sich mitteilen lässt, also sich nicht der Illusion hingeben, ein Nichtgezeichneter könnte auch nur im geringsten nachempfinden, so verspüren sie doch den Drang, Zeugnis abzulegen. "Die Erinnerungen melden sich, es gibt kein Entkommen." (Ruth Elias)
Aber das Dilemma haben sie schon "in den Nächten von Auschwitz geträumt: Sprechen und nicht angehört werden" war Primo Levis Angst.
Die überlebenden Juden haben gesprochen und sprechen sich noch aus. Sie haben uns Romane und Gedichte geschrieben, "eine Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst" (Celan), trotzdem mit eindeutiger Richtung: sie suchen den Anderen, halten auf ein Du zu.
Sie haben ein anderes Idiom gesucht, jenseits der "tausend Finsternisse todbringender Rede" (Celan) – der Sprache, dem Sprechen, dem Gespräch den Trost abzuringen versucht.
Es verhielt sich also keineswegs so, wie die Falschzitierer Adornos uns weismachen wollen, dass nach Auschwitz Gedichte zu schreiben unmöglich sei. Adornos Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben, sei barbarisch, war von anderer Sorge getragen, dass es nämlich leichter fällt, in der Kultur mitzuspielen, die den Mord gebar, wenn der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird.
Primo Levi, Jean Améry, Paul Celan, der vor zwei Tagen 70 geworden wäre, hat Auschwitz längst nach Auschwitz, in unserer Gesellschaft, noch geholt. Ihre Werke sind Kulturbesitz. Solange sie glauben konnten, das Wort sei dialogisch, so lange haben sie gelebt.
"Sofern es überhaupt ein Bewältigen der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat. Aber auch dies Nacherzählen löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden. Es bewältigt nichts endgültig. Vielmehr regt es zu immer wiederholendem Erzählen an", wie Hannah Arendt sagt. Viele sind es nicht mehr, ein paar Übriggebliebene, die bei Bedarf erzählen können. "Wir sind die Letzten, fragt uns aus", ruft Hans Sahl in seinem Gedicht.
Eine hat gefragt. Viele Jahre ihres aktiven Lebens dafür gegeben, zu wissen, wie es gewesen ist, von denen, die darauf gewartet haben, ihre Geschichte zu erzählen. Lea Rosh, die wir als versierte und schlagfertige Regentin von Talkshows kennen, die ernsthaft ihre Gegenwart bewältigt, sich denen an die Seite stellt, die schwach am Rande unserer Gesellschaft stehen. Sie ist zu den letzten Augenzeugen in Europa gekommen, ganz oben im Norden, ganz unten im Süden, um die Gedächtnisprotokolle der Überlebenden und ihrer Retter zu hören.
Nach mehrjährigen Recherchen hat sie in diesem Jahr wohl ihre umfassendste Arbeit zum Thema Nationalsozialismus vorgelegt. Mit der wissenschaftlichen Unterstützung des Historikers Eberhard Jäckel ist eine vierteilige Fernsehserie entstanden, deren erster Teil noch zu einer humanen Sendezeit ausgestrahlt wurde, deren weitere Teile dann aber das Schicksal vieler so genannter anspruchsvoller Beiträge ereilte, nämlich zur besten Schlafzeit über den Bildschirm zu laufen.
Parallel zur Fernsehdokumentation ist das gleichnamige, eigenständige Buch erschienen, das wir heute auszeichnen. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", so der Titel nach einer Verszeile aus Paul Celans Todesfuge.
Eine von den Opfern her rekonstruierte Wahrnehmung geht den Weg von Deportation und Ermordung der europäischen Juden nach. Der sich an der Opferperspektive orientierende Zugang zeigt die unerträgliche Sinnlosigkeit der Vernichtung; einer Vernichtung um der Vernichtung willen und als solche ohne Beispiel in der Geschichte. Das war auch die Kernaussage von Eberhard Jäckels Beitrag, mit dem er als erster die so genannte Historikerdebatte in der Zeit eröffnete.
Wenn also die Autoren in ihrer Dokumentation der Frage nachgehen, warum von den am Genozid beteiligten 17 europäischen Ländern die einen mehr als die anderen mitgetan haben, so bleibt immer der Tod ein deutscher Meister, der allerdings einen großen Betrieb in Europa unterhalten konnte. Der Hinweis auf die Mittäterschaft der anderen entlastet nicht die deutsche Urheberschaft. Dieses Copyright zieht sich wie eine Blutspur durch Europa.
Aber genug davon! Wer will es denn immer und immer wieder hören! Und sie, die Geschwätzigen mit ihren Erinnerungen, die nicht die eigenen sind. Und überhaupt heute, wo wir doch überall von Auschwitz hören: beim Robbensterben, beim Holocaust der Bäume, bei den Hühner-KZ's.
Die "Unfähigkeit zu trauern", so lautete schon vor über zwanzig Jahren die Diagnose von Alexander und Margarete Mitscherlich angesichts des Verhältnisses der Deutschen zu ihrer Vergangenheit. Nach Freud kann es gar nicht anders sein. Schließlich können wir Trauer nur einem geliebten Objekt oder Subjekt gegenüber entgegenbringen. Wie also kann Trauer empfunden werden jenen gegenüber, die man gar nicht geliebt hat?
Sicher, Trauer äußert sich über den Verlust unserer großen Schriftsteller, Künstler, Schauspieler, Musiker, Wissenschaftler, die unsere Kultur so unvergleichlich gemacht haben. Aber "es gibt nicht wenige, beson ders unter den Gebildeten, "wie Hannah Arendt sagt, "die heute noch öffentlich die Tatsache beklagen, dass Deutschland Einstein aus dem Lande verjagt hat – ohne zu begreifen, ein wieviel größeres Verbrechen es war, Hänschen Cohn von nebenan zu töten, auch wenn er kein Genie war."
Hänschen Cohn ist verschwunden und hat sein Grab in der Todesfuge. Aber nicht wenige empfinden eher die Zumutung, mit den nur 12 Jahren deutscher Geschichte unentwegt konfrontiert zu werden als Trauer, verlangen umgekehrt, endlich aufzuhören damit.
Besonders jetzt, wo Deutsche sich endlich mit dem Nationalen aussöhnen können, stehen die Toten und Lebenden von Auschwitz wieder im Wege und laden den positiven Prozess mit Negativem auf. Es ist schwierig in diesem Land, eine positive Kontinuitätsgeschichte zu schreiben. Der 20. Juli oder die Geschwister Scholl können da heraushelfen. Zu sehr war das Nationale in den Nationalsozialismus eingegangen.
Viele haben die Teilung Deutschlands als unmittelbare Strafe für die Verbrechen des Nationalsozialismus bewertet. Nicht als Resultat des Kalten Krieges. Der Fall der Mauer stellt sich dann folgerichtig als abgeleistete Sühne dar.
Dann muss erst recht Schluss sein mit dem Reden über Auschwitz. Die historische Stunde gebiete den Blick in die Zukunft, es gilt das Neue Deutschland aufzubauen, das eine von Problemen volle Gegenwart zu bewältigen hat und deren Vergangenheit wiederum zur Aufarbeitung ansteht. Eine Geschichte überlagert die andere. Vieles spricht dafür, dass die Auseinandersetzung mit den DDR-Taten – schwer genug – dennoch leichter vonstatten gehen wird, weil es sich hier um die eigenen Leute, die Brüder und Schwestern handelt.
Es ist gut, dass sich die Jury nach dem Mauerfall noch entscheiden konnte, die Arbeit von Lea Rosh und Eberhard Jäckel auszuzeichnen. Hoffentlich ist sie nicht für längere Zeit die letzte ihrer Art, die sich Gehör verschafft hat. Die Konkurrenz um die Beschäftigung mit den Vergangenheiten hat eingesetzt.
Der Geschwister-Scholl-Preis ist nach jenen benannt, die in ihrem zweiten Flugblatt schrieben: "Wir schweigen nicht, wir sind euer böses Gewissen … Die weiße Rose lässt euch keine Ruhe." Es waren Deutsche, die nicht haben schweigen können, Menschen, die haben reden müssen, zu denen, die sie nicht haben hören wollen. Sie haben das bekanntlich mit ihrem Leben bezahlt.
"Die Welt bleibt unmenschlich, wenn sie nicht dauernd von Menschen besprochen wird. Erst indem wir darüber sprechen, vermenschlichen wir die Welt und in diesem Sprechen lernen wir, menschlich zu sein." (H. Arendt)
Sie sind gekommen zu ihnen, den Übriggebliebenen, damit sie, wie es in dem Buch heißt, "ihre Geschichte erzählen konnten, uns Fremden, Deutschen."
Dafür haben wir Lea Rosh und Eberhard Jäckel zu danken.
Rachel Salamander, München 25.11.1990
Es gilt das gesprochene Wort.