Hans Deichmann, geboren 1907 in Köln, studierte Jura, wurde 1931 promoviert und begann im selben Jahr eine kaufmännische Lehre bei der IG Farben in Frankfurt. 1942 wurde er als Beauftragter nach Italien entsandt, wo er für das Rekrutieren von italienischen Freiwilligen für den Bau einer Chemiefabrik in Auschwitz zuständig war. Nachdem er die wahren Hintergründe der Anlage in Auschwitz erkannt hatte, nahm er Kontakt zum italienischen Widerstand auf. Mit Deichmanns Hilfe gelang es unter anderem weitere Rekrutierungen von Arbeitern für die IG-Farben-Auschwitz und andere oberschlesische Baustellen des GB Chem zu verhindern. 1945 kehrte Deichmann nach Deutschland zurück mit dem Wunsch, sich an einer geistigen und politischen Erneuerung zu beteiligen. In seinen Erwartungen enttäuscht, emigrierte er 1948 nach Italien, wo er bis zu seinem Tod 2004 lebte. Hans Deichmann ist der Bruder von Freya und Schwager von Helmuth James von Moltke.
Preisträger 1996
Hans Deichmann
Gegenstände
dtv
München 1996
ISBN: 978-3-423-30592-1
Autor
Begründung der Jury
Das Buch ist autobiographisch, aber keine chronologische Ich-Erzählung. Hans Deichmann beschränkt sich auf die Rolle des Chronisten 'HD‘ und macht seine Erinnerungen in kurzen Kapiteln an jeweils einem Gegenstand fest. Das gibt Freiräume für Assoziationen. Selbstdistanziert, ironisch und unpathetisch werden Kindheit und Jugend beschrieben, vor allem aber seine oppositionelle Haltung gegen den Nationalsozialismus,
die SS und die Wehrmacht. So verhinderte Deichmann z. B. die Zwangsverschickung römischer Männer in Arbeitslager nach Osteuropa, unterstützte die Resistenza bei einem missglückten Attentatsversuch auf Fritz Sauckel, den Verantwortlichen für die Zwangsrekrutierung von Millionen von Arbeitskräften in ganz Europa und warnte Mitglieder der Widerstandsbewegung vor ihrer drohenden Verhaftung.
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Das Buch dokumentiert den Mut, die Intelligenz, die Geistesgegenwart und die Schlagfertigkeit von Dr. Hans Deichmann in sehr anschaulicher Weise. Seine Gedanken am Tag der Befreiung sind bezeichnend für seine Einstellung: „Ihm war bewusst, er hatte es geschafft zu überleben, auf fast rechtschaffene Weise, fast, denn eigentlich hätte er nicht leben, sondern mit den anderen ein Opfer der NS-Verbrecher sein sollen; dies Unrecht musste er nun mit in die Zukunft nehmen“.
Hans Deichmann macht für Nachgeborene verständlich, „was es geheißen hat, inmitten eines verbrecherischen, alles erfassenden Terrors seine eigene und die Menschenwürde der immer seltener werdenden Freunde zu erhalten“. Sein Buch macht Mut zur Zivilcourage,
der Waffe der Machtlosen.
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Verleihung
Am 25. November 1996 nahm Hans Deichmann in einer feierlichen Verleihung den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Christoph Wild, Vorsitzender des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V. (ehemaliger Name des Verbandes bis 2003), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio hielt der Journalist und Publizist Erich Kuby.
Laudatio von Erich Kuby
Die Beschäftigung mit dem Material, mit dem ich für diese Lobrede versorgt worden bin, hatte mich erkennen lassen, dass ich mit Ihnen, Hans Deichmann, mir Ihrer Biographie auf ein klippenreiches Meer hinaussteuern würde, auf dem ich mir Improvisationen ohne Manuskript leicht Schiffbruch erleiden könnte. Das ist der Grund, warum ich es benütze.
Vor mir liegen in Buchform autobiographische Texte von Ihnen, in der einen Hälfte deutsch geschrieben und "Gegenstände" genannt, in der anderen, der italienischen, zu "Oggetti" geworden. Schon allein damit liefert das Buch, wir werden es sehen, eine Art Basiskommentar zu Ihrer Lebenskurve, der vielverschlungenen.
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Mir wurde gesagt, der Preis werde für ein Buch verliehen, und dieses Buch seien eben die "Gegenstände" bzw. "Oggetti". Sie haben sich ausdrücklich dagegen verwahrt, Ihr Buch als Konfession mit literarischem Anspruch zu lesen, zu der es unvermeidbarerweise dann doch geworden ist. Dennoch kann ich mich dem Motiv für die Verleihung des Preises an Sie gerade deshalb unterwerfen, weil die "Gegenstände" nichts anderes sind als das Mosaik Ihres Lebens, das ich skizzieren will.
Darin kommen Sie in der ersten Person Singular, also als "ich", nicht vor, sondern nur als HD, in Versalien gedruckt. Erlauben Sie mir für einen Augenblick doch den Literaturkritiker zu spielen und zu sagen, dass Sie, sich hinter der Chiffre HD versteckend, es den Lesern etwas zu leicht gemacht haben, das Anekdotische, das die "Gegenstände" auch haben, vordergründig wahrzunehmen, die moralische und intellektuelle Legitimation Ihrer Existenz überschattend, die nun 88 Jahre währt. Die Jury hat die Katze gerade noch am Schwanz erwischt. Damit will ich sagen, es bestünde durch die formale Ausblendung des "ich" die Gefahr, dass der Ernst, das Wagnis, das Risiko Ihres Lebens vielleicht nicht von jedem Leser an Hand der Lektüre des Buches begriffen wird. Ihre Neigung zum Understatement kommt noch hinzu.
In der Einleitung schreibt der Verleger, es seien "Erzählungen", die stets die moralische und intellektuelle Unabhängigkeit des Autors bezeugen. Diese "Erzählungen" erinnerten mich daran, dass die Worte "Gegenstand" und "Gegenständlichkeiten" zu vielgebrauchten Begriffen des Realisten Schopenhauer gehörten, so dass ich bei ihm zu blättern anfing und alsbald auf die Doktorarbeit des 23jährigen stieß, "Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund", worin er vier Kategorien der Gegenstände unterscheidet, er nennt sie Klassen, von denen die erste eine Definition gibt, die haargenau auf Ihre Anwendung des Begriffs "Gegenstände" zutrifft, so dass ich sie zitieren möchte:
"Die erste Klasse der Gegenstände unseres Vorstellungsvermögens bilden die anschaulichen oder empirischen Vorstellungen: wir nehmen sie wahr in den Ordnungsschematen unseres Bewusstseins Raum und Zeit. Die Art ihrer Verbindung ist die Kausalität, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Im Reiche des organischen Lebens heißt die Ursache "Reiz", im Reiche des Bewusstseins "Motiv". Er fügt in Klammern bei "Satz vom zureichenden Grunde des Werdens". Es ist Ihr "Werden", das Ihre "Gegenstände" festgehalten haben.
Zwischen den "Gegenständen" und den "Oggetti" sind Behördendokumente faksimiliert wiedergegeben. Geordnet nach ihrer Entstehungszeit zitiere ich einige:
- Vom 16.3.42 stammt ein Dienstausweis des Beauftragten für den Vierjahresplan, sprich Göring, für eben diesen HD.
- Der von der Questura di Roma Ihnen überreichte Personalausweis ist auf den 7.Juli 1943 datiert.
- Eine Identity Card wurde Ihnen am 6.9.45 vom Military Government of Germany ausgestellt.
- Vom 1. Januar 1948 stammt ein Brief des hessischen Staatsministeriums, worin es heißt, auf Deichmann in seiner Funktion als Dienstaufsichtsführender Vorsitzender der Spruchkammer Obertaunus sei beim gegenwärtigen Stadium der Denazifizierung nicht zu verzichten.
Sie haben bereits verstanden, warum ich die Biographie HD's ein klippenreiches Meer genannt habe. Sie hätte sich so wie geschehen nicht entwickeln können, wäre über Ihrem Leben nicht ein Dach ausgespannt gewesen, das von drei höchst verschieden konstruierten Stützen getragen worden ist:
- Der Bruder Ihrer Mutter Ada war Georg von Schnitzler, kaufmännischer Direktor der IG Farben mit Hauptsitz in Frankfurt: das riesige Bürogebäude steht heute unter Denkmalschutz. IG Farben war das größte chemische Unternehmen Europas. Diesem mächtigen Onkel verdankte es HD, dort mit 23 Jahren, kurz vor Abschluss seiner Promotion, als Lehrling eingestellt worden zu sein mit einem Taschengeld von 40 RM. HD gefiel es bei IG Farben überhaupt nicht, aber er blieb dort, zunächst war es ein soziales Schutzdach, sodann eine lebensbestimmende Verbindung.
Am 16.April bekam er einen Brief von einer ihm wichtigen Frau - ich werde noch auf sie eingehen - worin stand: "In Deiner Berufsangelegenheit bin ich ein Feigling. Natürlich halte ich nicht viel von IG Farben, die hast Du mir ausgetrieben, aber ich weiß nicht, was ich vom Staat halten soll. Wie soll ich Dir raten, die Planke loszulas-sen im reißenden Strom der Zeit, wenn ich dafür nichts anderes zu bieten habe." - Die Verfasserin dieses Briefes war Eugenie (Genia) Schwarzwald, geborene Nussbaum, von jüdischen Eltern in Galizien geboren, um 1900 eine der wenigen Frauen mit dem Doktortitel. In Wien führte sie ein offenes Haus, Treffpunkt der künstlerischen und literarischen Elite jener Jahre vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Ihre Freunde nannten sie Fraudoktor, in einem Wort geschrieben und gesprochen, so auch von HD. Sie erkor sich den viel jüngeren Freund zum geistigen Weggenossen. Als er in diesen Kreis aufgenommen wurde, war er 21, sie in ihrem sechzigsten Jahr. Sie wurde seine wichtigste Bezugsperson, sein Guru. Sie befand sich im März 1938 auf einer Vortragsreise in Dänemark, als Wien Hitlers Einzug bejubelte. Ihr Mann, noch in Wien, hatte nicht das für die Emigration nötige Geld. Von ersparten 10.000 RM bekam er von HD 9.000. Die Schwarzwalds konnten sich retten.
- Ihre Schwester Freya wurde, 20 Jahre alt, die Frau des 24jährigen Helmuth James von Moltke, dessen Schlossbesitz Kreisau, heute in Polen gelegen, einer der konspirativen antinazistischen Treffpunkte des danach benannten "Kreisauer Kreises" war, mit Moltke als spiritus rector.
Zusammen mit Freya, Moltkes Witwe, gab er in Italienisch eine Sammlung der Briefe des am 23.Januar 1945 Ermordeten heraus, geschrieben zwischen 1926 und 1945. Einem Buch über Fraudoktor gab er den Titel: "Leben mit provisorischer Genehmigung". Für unsere Öffentlichkeit sind das versunkene Welten, einschließlich der WEISSEN ROSE auf dem Müllhaufen der Zeitgeschichte gelandet, soll ich sagen entsorgt, woran auch dieser Preis und gelegentlich vom Kalender befohlene Festreden nichts ändern. Der Eindruck drängt sich auf, es seien politische Zensuren erteilt worden.
Das Handein Deichmanns während des Krieges und sein reflektierendes Schreiben nach 1945 hatte einen hohen sozialen Status zur Voraussetzung, in den er hineingeboren worden war. In den ersten Jahrzehnten des zu Ende gehenden Jahrhunderts war die Bankierfamilie Deichmann in Köln zur obersten Schicht des Besitz- und Bildungsbürgertums zu zählen. Darüber schrieb HD: "Einerseits Produkt meiner Klasse, was ich zuweilen als positiv ansah, andererseits nicht zu ihr gehören zu wollen".
Es ist die Formel, die als Motto über diesem Leben stehen könnte, gültig geblieben bis heute, ungeachtet dessen, dass HD, in zweiter Ehe mit einer Italienerin verheiratet, in Mailand dem Anschein nach ein gesichertes bürgerliches Leben führt. Dennoch ist er nicht aus der Situation herausgekommen, die der Berliner zwischen Baum und Borke nennt, der Engländer in between. Einerseits nicht nur im äußeren Lebenszuschnitt Italiener geworden, andererseits unzerreißbar angebunden an deutsche Kultur, deutsche Sprache, deutsches Tun und Lassen auch im politischen Sinn.
Des zum Beweise diene ein Hinweis auf den leidenschaftlichen Kampf, den er mit Briefen an und über den Lebenslaufverfälscher Kurt Waldheim zwischen Mai 1986 und Januar 1989 geführt hat. Darunter der Brief vom 17.Juli 1987 an den damaligen Bundespräsidenten v. Weizsäcker, als er gehört hatte, dieser wolle Waldheim empfangen. Der Brief endet mit dem Satz: "Im Namen vieler Deutscher und vieler Österreicher bitte ich Sie, beschmutzen Sie sich und uns nicht mit Waidheim". Die Antwort aus dem Amt, nicht vom Präsidenten selbst, war leeres Wortgeklingel.
Es wäre unmöglich, im Rahmen der Feier dieses Leben im Detail nachzuzeichnen. Am 4. Juni 1990 ist im New Yorker über Deichmann ein Artikel erschienen, dessen deutsche Übersetzung als Typoscript 29 einzeilig beschriebene Seiten umfasst. Worauf ich mich beschränken muss, sind Fixpunkte, die zu Wendepunkten geworden waren.
Der bei der IG in Frankfurt zum Bearbeiter Italiens aufgestiegene HD erfreute sich auch im "Dritten Reich" der Erlaubnis, dessen ausufernde Grenzen zu überschreiten, was ihm u.a. möglich machte, 1936 die Schwarzwalds in Zürich zu treffen ohne Gestapo-Kontrolle. Ich zitiere aus dem New Yorker, der seinerseits HD zitierte:
"Kaum hatten wir die Grenze hinter uns gelassen, hielten wir an, stiegen auf einen nahen Hügel und riefen laut: Hitler ist ein Drecksack, Hitler ist ein Verbrecher. Es war so notwendig, das einmal laut schreien zu können". Gewiss, es erleichterte, aber als politische Proklamation war es so falsch wie die hundertfach im FAZ-Magazin-Fragebogen gegebenen Antworten auf die Frage; "Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten?" Es ist immer wieder Hitler, als sei er vom Mond zunächst auf Wien - dort. speicherte er in seinem fabelhaften Gedächtnis, was er dann predigte und tat -, dann auf München, dann auf das Reich herabgefallen. Seit Goldhagen sollten sogar FAZ-Leser das eigentlich nicht mehr glauben, aber er bewirkte in dieser Hinsicht offensichtlich nichts.
1936 lassen Deichmanns Lebensumstände und der entfachte Führer-Mythos verstehen, dass dieser Antinazi, dieser Liberale, das politische Produkt einer Jüdin, in Hitler noch den eigentlichen Urheber des deutschen Absturzes ins Kriminelle sah, und doch war es gerade umgekehrt: es war die politische und moralische Verderbtheit der Deutschen, ihre historisch vorprogrammierte Insuffizienz - ich sage bewusst der Deutschen - dank deren Hitler seinen Zerstörungs- und Vernichtungswahn zur Staatsdoktrin machen konnte.
Die erste, allerdings grundstürzende Korrektur des politischen Weltbildes, seines ihm in Köln anerzogenen Glaubens an das Volk der Dichter und Denker verursachten seine Dienstreisen, die er für den Gebechem zum Bunawerk der IG Farben in Auschwitz unternahm. Die dort kurze Gastspiele gebenden Direktoren der Firma haben von Sklavenarbeit, ja vom ganzen nahegelegenen KZ nichts bemerkt, auch nicht den grauenhaften Geruch der Krematorien (so logen sie im Nürnberger IG-Prozess), während Auschwitz bei HD eine positiv wirkende Bewusstseinskrise auslöste. Danach war für ihn der Begriff "Hochverrat" obsolet geworden, und fortan hatte die italienische resistenza nach Mussolinis Sturz in ihm eine zuverlässige Hilfskraft. Das ist bei den knowing men in Italien bis heute nicht vergessen.
Er hat sich nicht vorgemacht, eine Heldenrolle zu spielen, hat sie auch nicht gespielt, vielmehr mit List und Schläue den deutschen Besatzern, diesen ehemaligen Duce-Verbündeten, die jetzt in Italien hausten wie in Polen, manchen Wind aus den Segeln genommen.
"Indem ich die ernsten Dinge spielerisch anging, mit einer Art von non-chalance, Tag für Tag, gelang es mir einiges zu erreichen". Das war nur in Italien möglich, dessen Bevölkerung trotz faschistischer Judengesetze die letzte Schranke in Europa gegen die lückenlose Durchführung der "Endlösung" gewesen ist. Nichts dergleichen lässt sich von den Deutschen sagen, wo "Widerstand" nicht einmal als innere Haltung, also auf ungefährliche Weise, zur Sache des Volkes geworden ist. Auch nicht im letzten Kriegsjahr.
Zufällig erfuhr HD, woran in Peenemünde gearbeitet wurde, die Information konnte er über eine italienische Relaisstation nach England durchbringen. Eine Woche nach diesem "Verrat" zerstörten 600 britische Bomber die Fabriken des Herrn Wernher von Braun, weswegen sich der Einsatz von V1 und V2 bis in den Sommer 1944 verzögerte. Das muss nicht unbedingt auf HD zurückzuführen sein, es fiel ihm auch nie ein, derartiges zu behaupten, aber immerhin hatte er damit mindestens vor sich selbst zu erkennen gegeben, dass er nun wusste, er sei mit seinem deutschen Pass Mitglied einer das eigene Volk umfassenden kriminellen Vereinigung geworden.
Sollte ich für dieses Leben Deichmanns noch eine zweite Formel finden, so lautete sie: Mönchlein, Mönchlein, du hast eine Wanderung auf schmalem Grat bestanden, von dem ein Absturz von Stunde zu Stunde möglich, ja wahrscheinlich gewesen wäre.
Sie war mit 1945 noch nicht zu Ende. Der Optimist HD kehrte nach Deutschland zurück, verdrängte Erfahrungen, wollte sie verdrängen und wieder ein guter, das heißt ein blinder Deutscher werden, sich der Hoffnung hingebend, die von den Siegern befreiten Deutschen würden nicht nur darangehen, die Trümmer ihrer Städte aufzuräumen, ihre Dächer zu flicken, leere Fensterhöhlen mit Pappe abzudichten, sondern auch mit sich selbst zu Rate zu gehen und zu leisten, was dann Vergangenheitsbewältigung genannt wurde, die ausgebliebene, obwohl es in der ehemaligen BRD so aussah - und von vielen geglaubt worden war, sie seien aus ihrer eigenen Geschichte ausgestiegen.
Vielleicht hätte es bei HD etwas länger gedauert, solche trügerischen Erwartungen zu hegen, wäre ihm nicht die bereits erwähnte Spruchkammer-Funktion angetragen worden, die er, äußerlich gesehen, vorbildlich erfüllte, die ihn aber mit Entsetzen wahrnehmen ließ, wie es um die befreiten Deutschen wirklich bestellt gewesen ist. Sie sammelten sogenannte "Persilscheine" selbst bei jenen, oder versuchten es jedenfalls, die sie zuvor bei der Partei denunziert hatten. Ich weiß, wovon ich spreche, ich kenne konkrete Fälle.
Eine längere Geschichte sei kurz gemacht: Deichmann begriff, der Nationalsozialismus sei kein Betriebsunfall gewesen. Wenn er nun wieder nach Italien zurückkehrte, eine Italienerin heiratete, in Mailand lebt, so war das Emigration im genauen politischen Sinn des Wortes. Das hat ihn zu einem legitimen Empfänger dieses Preises gemacht. In den fünfziger Jahren führte ich mit den Scholls, vor allem mit Inge, lange Gespräche, denn ich wollte einen Film über die "Weiße Rose" machen. Das Ergebnis war, den Plan aufzugeben, der bis zu Besetzungsfragen gediehen war, weil jeder noch so verantwortungsvoll unternommene Versuch Überlebender, die "Weiße Rose" politisch-pädagogisch zu verwerten, fragwürdig erschien, und mir bis heute fragwürdig erscheint.
Die Verleihung des Preises ist mehr eine Gesinnungs- als eine Qualitätsfrage der schriftstellerischen Leistung: es sollten ihn nur Personen bekommen, denen es über ein halbes Jahrhundert hin bewusst geblieben ist, dass das Überleben eines aktiven Widerständlers einerseits ein Geschenk des sogenannten Schicksals ist, andererseits eine unkündbare Lebenshypothek, die nie ganz abgetragen werden kann. Sie, Hans Deichmann, verwenden in einem Brief an Ernst Nolte, geschrieben 1987, die Formel von der Vergangenheit, die nie vergeht. In meinem Katalog von Selbstprüfungen ist dieses Problem als die Gefahr des Verlustes der sozialen Unschuld eingegangen.
Dass Sie diesen Preis, mit diesem Gewicht behängt, spät aber doch zuerkannt bekommen haben, ist ein Ereignis, das mit Ihnen zu feiern, wir hier zusammengekommen sind.
Erich Kuby, München 25.11.1996
Es gilt das gesprochene Wort.
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