Peter Gay wurde 1923 in Berlin geboren, fand 1941 Aufnahme in den USA und war emeritierter Sterling Professor für Geschichte der Yale University und Direktor des Dorothy and Lewis B. Cullman Centers für Wissenschaftler und Schriftsteller an der New York Public Library. 1983/84 war Peter Gay Fellow des Wissenschaftskollegs in Berlin. Für seine Werke erhielt Gay unter anderem den National Book Award und den Ralph Waldo Emerson Award of Phi Beta Kappa. Von ihm erschien "Freud, Juden und andere Deutsche", 1986 (S. Fischer Verlag) und eine fünfbändige Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts: Erziehung der Sinne. "Sexualität im Zeitalter der Aufklärung" (1986), "Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter" (1987), "Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter" (1996), "Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich" (1997) und "Bürger und Bohème. Kunstkriege des 19. Jahrhunderts" (1999) (alle Verlag C.H. Beck). Er starb am 12. Mai 2015 im Alter von 91 Jahren in New York.
Preisträger 1999
Peter Gay
Meine deutsche Frage
Jugend in Berlin 1933-1939
Verlag C.H. Beck
München 1999
ISBN 3-406-42110-5
Autor
Begründung der Jury
"Die Jury zeichnet damit ein Werk aus, das auf exemplarische Weise die Beschreibung eines jüdischen Einzelschicksals mit der Analyse einer Epoche verbindet. Uneitel und unprätentiös, ohne Selbstmitleid und mit feinem Humor erzählt der Autor, der 1923 als Peter Fröhlich geboren wurde und 1939 buchstäblich in letzter Minute mit seiner Familie emigrieren konnte, das Drama seiner Jugend im Berlin der dreißiger Jahre. Er zeigt, wie widersprüchlich die Alltagsrealität unter der Nazi-Diktatur war, und gibt so eine Antwort auf die immer wieder gestellte Frage, warum viele deutsche Juden sich erst spät (oder auch gar nicht) entschließen konnten, das Land zu verlassen.
Mehr…
"Meine deutsche Frage" ist darüber hinaus ein Dokument der Selbsterforschung. Mit seinem an Freud geschulten Blick fragt Gay danach, welche Spuren das Trauma der Nazi-Jahre bei ihm hinterlassen hat. Und er versucht, mit seinen zwiespältigen Gefühlen Deutschland und den Deutschen gegenüber ins Reine zu kommen. Gay betreibt Aufklärung auf eine hierzulande fast verlorengeglaubte Weise: Er respektiert die Wirklichkeit der Geschichte und verhält sich zu ihr als Deuter und als Mahner. Er legt soziale Strukturen offen und ortet die Triebkräfte des Irrationalen. Dass er darüber hinaus sich das Gespür für das Kunstschöne, für den Umgang mit Wörtern und seinen Humor bewahrt hat, fand die Jury desgleichen hervorhebenswert.
Peter Gays Erinnerungsbuch zeugt vor allem aber von Mut und Wahrhaftigkeit. Es vereint die Genauigkeit der Beobachtung mit der Bereitschaft zur Versöhnung. In ihm lebt das Ethos der Aufklärung, das auch sein bedeutendes kulturhistorisches Oeuvre auszeichnet."
…Weniger
Verleihung
Am 22. November 1999 nahm Peter Gay in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Christoph Wild, Vorsitzender des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V. (ehemaliger Name des Verbandes bis 2003), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio wurde von Karl Dietrich Bracher gehalten.
Laudatio von Karl Dietrich Bracher
Als Historiker und Zeitzeuge zugleich hat Peter Gay uns Deutschen und allen an Deutschland Interessierten ein Buch über die Jugendgeschichte in der NS-Diktatur geschenkt, das in seinem bedeutenden Lebenswerk einen ganz besonderen Platz einnimmt.
Er hat die Auszeichnung in hohem Maße verdient, erinnert der Geschwister Scholl-Preis doch nicht nur an den mutigen Widerstandsakt vom 18. Februar 1943, mit dem wenige Studenten der Universität München hier in der dunkelsten Zeit Deutschlands zur Erhebung gegen das verbrecherische Hitler-Regime und die fehlende Zivilcourage seiner allzu vielen Mitläufer aufriefen. Er erinnert uns auch unmittelbar an die schändliche Irreführung und Aufhetzung der Jugend zumal gegen die Juden, deren Auswirkungen Peter Gay uns persönlich auf sehr eigene Weise nahe bringt.
Mehr…
Es war in der Tat die so weitgehend verführte oder auch mundtot gemachte jüngere Generation zwischen den beiden Weltkriegen, der die Geschwister Scholl und ihre Freunde mit Professor Huber damals, Anfang 1943, angesichts der unsagbaren Verbrechen der deutschen Diktatur zuriefen: „Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuenswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je geduldet hat.“
Als ich zum Gedenken an diese mutige Aktion am zwanzigsten Jahrestag im Februar 1963 vor Münchener Studenten sprach, wusste ich noch nicht, dass meine Frau und ich wenige Monate später Peter und Ruth Gay in Stanford-Palo Alto/Kalifornien kennen lernen und auf unvergessliche Weise unser deutsch-amerikanisches Gespräch beginnen konnten, das Gays Buch jetzt auch erwähnt. Ruth Gay hat damals schon an ihrer Geschichte der „Jews in America“ geschrieben (veröffentlicht 1965) und uns später mit ihrer reichen, ergreifenden „Geschichte der Juden in Deutschland“ (1992) beeindruckt. Nun aber hat Peter Gay für uns Deutsche auf bewegende Weise geschildert wie schwer und doch letztlich notwendig ihm und vielen Verfolgten auch eine gewiss kritische Wiederanknüpfung an die Traditionen eines besseren Deutschlands wurde. Es war, wie er schreibt, seine „deutsche Frage, die auch jetzt noch nicht völlig beantwortet ist und es wahrscheinlich nie sein wird“ (S. 18 f.).
Solche Nachkriegs- und Nachdiktatur-Begegnungen mit Menschen wie ihm und seiner so leidvoll prägenden Erfahrung einer bitteren, doch Leben rettenden Emigration war für uns jüngere Deutsche damals wichtig, ob wir nun wie ich aus fast dreijähriger amerikanischer Kriegsgefangenschaft kamen oder, wie meine Frau, den Vater und drei Onkel im Widerstand vom 20. Juli verloren hatten. Es ging auch um die Wahrnehmung der zweiten Chance einer demokratischen Zukunft für Deutschland, die der befreiende Kampf des Westens für eine jedenfalls vom Nationalsozialismus erlöste Welt eröffnet hatte.
Von den Problemen und Chancen solcher Wiederbegegnungen mit dem zuletzt so verwerflichen Deutschland gibt nun dieses jüngste Buch Gays einen Eindruck: Im Akt der Erinnerung auch als Mahnung für Gegenwart und Zukunft, zeigt es ganz konkret und anschaulich den Hintergrund jenseits der vielen theoretischen, generalisierenden Großkontroversen über unsere Vergangenheit. Das Buch gibt auch aufs neue Zeugnis von den historischen und literarischen Qualitäten, die das ganze Lebenswerk des Preisträgers in seiner bemerkenswerten wissenschaftlichen Vielseitigkeit und gleichzeitig Engagiertheit auszeichnen: bis hin zu seiner großen Mentalitätsgeschichte des Bürgertums im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert.
Unheilvolle dreißiger Jahre
Das alles begann mit dem schweren Weg des zehn- bis sechzehnjährigen Peter Fröhlich im Deutschland der dreißiger Jahre, in dem viele der dann bald tödlich verfolgten Juden ihr Vaterland gesehen, ihm in Frieden und Krieg gedient, es schon seit den Zeiten der Aufklärung so ungemein bereichert hatten, dessen Kultur und Literatur sie liebten. Als schließlich in letzter Stunde, vor nun sechzig Jahren, der Familie Fröhlich gerade noch die Flucht aus der zunehmend rassistischen Gewaltherrschaft jenes Deutschland gelang, übernahmen sie im Rettungsland USA den neuen Namen Gay von den schon emigrierten Verwandten.
Der unglaubliche, monströse Massenmord an den Juden, dessen Formen und Ausmaße auch Peter Gay erst nach Kriegsende in Amerika voll erfahren hat, war weder ohne den alten christlichen Antijudaismus noch den neueren sozialdarwinistischen Rassismus denkbar, doch diese Wahnvorstellungen waren erst durch die „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges mit seinen Folgen einer Brutalisierung der Politik und mit den Instrumenten jenes nationalsozialistischen Totalitarismus umsetzbar geworden, vor dem Rechtsstaat und Kultur in Deutschland sich als hilflos oder verführbar erwiesen.
Es sind (nach zwei Jahren in Kuba und dem Studium in Denver und dann an der Columbia University New York) vor allem vier große Themenkreise, denen nach solchen Erfahrungen Peter Gays geistiges und wissenschaftliches Interesse gelten, ja zum neuen Lebensinhalt in der dankbar bejahten „Neuen Welt“ Amerikas werden. Sie überkreuzen sich wechselseitig in seinen so breit gefächerten, reichen und gut lesbaren Büchern. Da war und ist erstens die Frage nach Deutschland: zunächst in der Dissertation über Bernsteins demokratischen Sozialismus (1951); 1968 dann das sehr anregende, brillante Buch über Geist und Kultur in der Weimarer Zeit (den „Weimar spirit“) in einer „Republik der Außenseiter“, die nur für kurze Zeit, 1918 bis 1933, auch „Insider“ werden.
1978 folgt der wichtige Band mit den eindringlich-gedankenreichen Essays über „Freud, die Juden und andere Deutsche“ angesichts der Herausforderung des kulturellen Modernismus: hochinteressant auch die Kontroversen zwischen den streitbaren Brahms- und Wagner-Parteien sowie über die Rolle der Juden und ihrer Assimilation, die heute, nach dem Holocaust, bei ihnen selbst so umstritten ist. Aber thematisiert wird dabei auch Gays eigenes Deutschlandproblem, das er 1976 bereits in der New York Times unter dem Titel „Thinking about the Germans“ angesprochen hat, mit erheblichem Leserecho pro und contra zur Frage der Erneuerung Deutschlands. Und nun, zwanzig Jahre später, legt er Zeugnis ab vom Problem seiner eigenen Jugend in diesem Land, mit dem heute vor allem auszuzeichnenden Buch unter dem sprechenden Titel »My German Question«, der auch in der deutschen Ausgabe zu Recht beibehalten ist. „Meine deutsche Frage“ - das heißt sowohl damals wie heute, nach über siebzig Jahren der Erfahrung mit den frühesten und den späteren Problemen unseres, und seines, Deutschland.
Neuanfang in Amerika
Ein zweiter Themenkreis bringt nicht zuletzt das starke Bedürfnis einer Krisen- und Kriegsgeneration zum Ausdruck, sich in der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur, Befreiung und Unterdrückung, zwischen Dogmatismus, Fundamentalismen und offener Gesellschaft um neue Lebens- und Wertorientierung zu bemühen. Für Peter Gay, der sich keiner der Religionen verbunden fühlt, führt dies früh schon zu den erhellenden Studien und Büchern über den Geist der Aufklärung, besonders in Frankreich und den USA.
Ich erinnere mich, wie intensiv wir uns damals in Stanford darüber verständigen konnten: Peter aus der existentiellen Erfahrung des neuen, trotz allen Beschwernissen so viel überzeugenderen Amerika der Freiheit, Offenheit und Toleranz. Auch mir verhalfen Krieg und Gefangenschaft zum besseren, ja elementaren Verständnis für jene vorwiegend westliche Tradition von Demokratie und Menschenrechten, von der sich Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg zu seinem Unheil entfernt und zum Teil auf einen verhängnisvollen Eigenweg begeben hatte - bis schließlich zur Kriegserklärung an die westlichen Demokratien überhaupt.
Der große Neuanfang Peter Gays als Historiker im Amerika der fünfziger und sechziger Jahre stand also im Zeichen seiner zum Teil preisgekrönten Studien über Rousseau, Voltaire (1959) und die Aufklärung. Er sieht sie (Band 1) nicht zuletzt als Aufstieg eines „Modern Paganism“, wie er sein Buch von 1966 nennt. Es geht ihm dabei um die Bedeutung eines säkular-religionskritischen Aufklärertums im künftigen Modernismus, dem er sich als entschiedener Freigeist verwandt fühlt.
So schrieb er gleichzeitig denn auch über die schwindende Rolle der puritanischen Historiker schon im kolonialen Amerika (1966). In weiteren Büchern interpretierte er die Aufklärung (Band z) geradezu als „Science of Freedom“ (1969) und erläuterte schließlich die ihm am Herzen liegende alte und neue Aufgabe der Aufklärung in „Bridge of Criticism“ (1970) am Beispiel eines Dialogs zwischen Religionskritikern wie Lukian, Erasmus und Voltaire: Hier werden Werte wie Geschichte und Hoffnung, Einbildungskraft und Vernunft, Beschränkung (constraint) und Freiheit in ihrer Bedeutung als Leitwerte für unsere zunehmend säkulare Kultur und Zeit herausgestellt.
Von hier führen uns Gays Arbeiten der siebziger Jahre nun hinüber in einen dritten Themenkreis: Geschichtsschreibung. Hierher gehören die Mitwirkung an großen Übersichtswerken wie „Historians at Work“ (1972 bis 75) und „History of the World“ (1972), dann aber auch die schönen Essaybände „Style in History“ (1974) und „Art and Act“ (1976). Der eine mit lebendigen Studien über vier große, höchst verschiedene Historiker, beispielhaft für das 19. Jahrhundert, doch in ihren sehr individuellen Motiven und besonderen Zielen: Edward Gibbon und Leopold von Ranke, Thomas Macaulay und Jacob Burckhardt. Der darauf folgende Band widmet sich (»Art and Act«, also etwa: Kunst und Ausführung) den »Causes of History«; er enthält ebenfalls vergleichende anschauliche Studien zur bildenden Kunst der Moderne am Beispiel der Maler Edouard Manet und Piet Mondrian sowie des aus Deutschland emigrierten Architekten und Bauhaus-Gründers Walter Gropius.
Die große Mentalitätsgeschichte
In den achtziger Jahren schließlich, nach langer Vorbereitung, konzentriert sich Peter Gay auf seinen vierten Themenkreis, nämlich das staunenswert intensive und zugleich umfassend vergleichende Unternehmen einer Mentalitäts- und Gefühlsgeschichte im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert; er hat es soeben mit dem fünften und letzten Band vollendet (1986 bis 1999). Namentlich aus der reichen, freilich häufig stilisierten Literatur zeitgenössischer Selbstbeobachtungen in Autobiographien, Tagebüchern und Briefen schöpft er eine ebenso üppige wie geistvolle Kulturgeschichte des intimen Gefühlslebens in Spannung und Gegensatz zu den Konventionen des bürgerlich-viktorianischen Zeitalters.
Schon die Titel geben uns Einblicke in die Schwerpunkte des Werkes: von der „Erziehung der Sinne“ und der „Liebe im bürgerlichen Zeitalter“ über den „Kult der Gewalt“ und „Die Macht des Herzens“ - also „die Erforschung des Ich“ mit der Ambivalenz von Schein und Sein des Bürgertums - bis hin zum Schlussband der Reihe, der unter dem Titel „Bürger und Boheme“ die „Kunstkriege des neunzehnten Jahrhunderts“, zumal auch die Verfemungen und Verbote gewagter Kunst behandelt. Es ist ein Werk, das zur Aufdeckung der inneren Befindlichkeiten des Menschen, der verborgenen Schichten des Seelenlebens nun vor allem auch die psychologischen Aspekte der Geschichte hervorhebt. Diese Methode hat dem Autor als erklärtem Freudianer neben Bewunderung manche Kritik eingebracht, die auch seine große Biographie Sigmund Freuds trifft.
Peter Gay ist nicht nur ein unersättlicher Leser und Forscher, sondern zugleich ein begabter Vermittler. Wir nehmen teil an seinen Entdeckungen und kritischen Einsichten in Leben und Schaffen zeittypischer wie auch unzeitgemäßer Personen, zum Beispiel Richard Wagner und Oscar Wilde, oder Dickens, Stendhal und Balzac. Unleugbar ist die Bedeutung und Pionierkraft, die solcher Analyse und Darstellung in kultur- und sozialgeschichtlicher, zugleich psychologischer Hinsicht zukommt, auch wegen der Fülle der Zeugnisse und geistvollen Interpretationen.
Dabei geht es wesentlich darum, die durchbrechende Moderne so wie die neuen Anfechtungen des Modernismus zu zeigen: und dies alles am Vorabend der dann so verwüstenden, dezidiert antibürgerlichen Totalitarismen von rechts wie von links im zwanzigsten Jahrhundert.
Der Autor schließt seine vergleichende Bilanz einer gleichsam europäischen „Sittengeschichte“ von Queen Victoria bis Sigmund Freud mit der „Coda: Eine bürgerliche Erfahrung“. Darin spricht er auch von seiner Wendung zur Psychoanalyse Mitte der siebziger Jahre: „Genau diese Seite meiner Arbeit hat die beharrlichste Kritik hervorgerufen ...: einerseits etwas Lob für die 'korrekte’ Geschichtsschreibung, andererseits das unüberhörbare Befremden angesichts meines scheinbar massiven Rekurses auf Freudsche Ideen. Ich sage 'scheinbar’, weil ich reduktionistische Erklärungen immer abgelehnt und an der ursächlichen Bedeutung der Außenwelt für historische Ereignisse oder Epochen festgehalten habe. Den Kritikern scheint entgangen zu sein, dass beides, förmliche Geschichtsschreibung und psychoanalytische Deutung, in meiner Arbeit unlöslich miteinander verquickt ist (sic) und es ohne die letztere zur ersteren nicht gekommen wäre. Vielleicht müsste ich herbe Genugtuung darüber empfinden, dass ich von zwei entgegen gesetzten Polen zugleich aufs Korn genommen werde: Die ‚normalen’ Historiker monieren, dass ich Freud zu sehr, die Psychohistoriker, dass ich ihm zu wenig verpflichtet bin.“
Hinter diesem Bekenntnis steht sein ganzes Leben seit den besonderen Erfahrungen der Berliner Jahre und danach. Für Peter Gay ist die Psychoanalyse also mehr als eine Hilfswissenschaft, worüber wir in der Tat als Historiker und Politik- oder Sozialwissenschaftler (der er ja wie ich auch einmal war) getrost und mit Gewinn immer wieder streiten können - auch an Hand seines Buches „Freud for Historians“ von 1987.
„My German Question”
Auch unser heute preisgekröntes Buch, gleichzeitig mit dem Schlussband der Mentalitätsgeschichte Gays erschienen, steht auf dem Grund der Entwicklung, die sein Denken und Schreiben während und nach der deutschen Diktatur in nun fast fünfzig Jahren genommen hat. „My German Question“ handelt nicht so sehr von der Diktatur selbst, vielmehr verbindet es nun die ursprüngliche persönliche, sozusagen vorliterarische Erinnerung der Jugend in Berlin und des Emigrationswegs mit den vielschichtigen Einsichten und zugleich festen Überzeugungen, die Gay als Forscher und Autor in diesen langen Jahrzehnten gewonnen hat. Die neue Annäherung an Deutschland nach den Jahren der tiefen Enttäuschungen und des fundamentalen Erschreckens, in das ihn die wachsende Kenntnis der im deutschen Namen und mit deutsch-österreichischem Ideologie-Fanatismus verübten Massenverbrechen stürzte, stand im Zeichen eines langen Ringens zwischen Verbitterung und Hoffnung auf Erneuerung des Zerstörten - aber auch einer festen und entschiedenen Ablehnung aller apologetischen Tendenzen. So hat er sich ähnlich wie Felix Gilbert schon 1976, also lange vor dem sogenannten „Historikerstreit“ von 1987, sehr kritisch zu den Thesen in den Werken eines Ernst Nolte geäußert, besonders zum Beispiel gegen Noltes den Nationalsozialismus bagatellisierende Unterstellung, „jeder bedeutende Staat der Gegenwart, der sich ein außerordentliches Ziel setzte“, habe „seine Hitlerzeit mit ihren Ungeheuerlichkeiten und ihren Opfern gehabt“. Mit Recht fordert Peter Gay demgegenüber vor allem eine Sensibilität für die Unterschiede und Ambivalenzen zwischen guten und üblen oder trüben Traditionen gerade deutscher Politik- und Geistesgeschichte seit der entscheidenden Zeit der Aufklärung und besonders dann zwischen Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur samt ihren Nachwirkungen.
Was mir nun aber für den besonderen Rang seines Erinnerungsbuchs innerhalb des Gayschen Gesamtwerks zu sprechen scheint, ist die überzeugend ressentimentfreie Art, mit der er nach diesem Schicksal über seine eigene Geschichte und Entwicklung berichtet.
Anschaulich und lebendig wird hier scheinbar mühelos und doch höchst treffend der Leser zum Mitfühlen und Nachvollziehen des Lebens dieser geächteten und zunehmend rechtlosen Minderheit gebracht. Das Bild der dreißiger Jahre und die Befindlichkeit des Erzählers werden nicht etwa tagebuchartig gespiegelt, sondern unter Einbeziehung späterer Betrachtung und Empfindung gezeichnet. Es ist bei einer melancholischen Grundstimmung, die auch die aufschlussreichen Familienbilder nicht leugnen, ein Buch klarer Berichte und Reflexionen, detailliert, abgewogen und glaubwürdig - kurz, das Erinnerungsbuch eines Historikers, der eindringlich und bewundernswert offen auf die auch für die weitere Familie unvorhersehbar wechselvolle Zeit und bedrohliche Umwelt blickt: so im Kapitel „Überlebensstrategien“ auf ihren Alltag, das Schwanken und die Probleme um eine schließlich 1939 doch unvermeidlich notwendige Emigration und die schwierigen Anfangsjahre in der Fremde.
In Amerika dann erlebt er immer wieder die vorwurfsvolle Frage, warum man so lange in Deutschland geblieben sei. Die Antwort: Sie lebten dort noch unter „widersprüchlichen Signalen“, „mixed signals“, wie das entsprechende Kapitel lautet. Der Vater konnte als verwundeter Frontsoldat des Ersten Weltkrieges zunächst mit gewissen Rücksichten rechnen und das Geschäft fortführen; der Onkel bekommt aus gleichem Grund groteskerweise sogar noch Mitte 1935 „im Namen des Führers und Reichskanzlers“ das von Reichspräsident Hindenburg gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“, unterschrieben vom Berliner Polizeipräsidenten (am 25. 6. 1935). Die Zukunft war lange nicht abzusehen, das Pro und Contra einer Emigration auch ohne Sprachkenntnisse und mit tuberkulosekranker Mutter schwer abzuschätzen, die Hoffnungen und Illusionen auf ein rasches Ende des NS-Regimes verbreitet unter vielen Gegnern: “Hitler wird schnell abwirtschaften“, wurde zunächst weithin angenommen.
Geschichtliche Erfahrung
Dies ist in der Tat ein Buch “ohne Anklage, ohne Selbstmitleid, ohne Klischee“, wie auch ein kenntnisreicher Rezensent schreibt (Hartmut Jäckel, FAZ vom 3. Dezember 1998). Dass die schreckliche Katastrophe, in der sich Deutschlands schwere moralische Schuld und Unfähigkeit zur demokratischen Politik damals vereinten, vor allem aufs Furchtbarste jenes Judentum treffen würde, das für die deutsche Kultur und Wissenschaft der Moderne so Wesentliches bedeutete, wird vielen Betroffenen erst spät ganz fassbar. Peter Gay zeigt auf anrührende Weise, wie es um eine durchaus deutsche Familie und ihren den bedrückenden Zeitumständen entsprechend bemühten „guten Jungen“ steht, trotz der im allgemeinen nicht unfreundlichen Atmosphäre seines Wilmersdorfer Goethe-Gymnasiums wird es doch Jahr für Jahr einsamer um ihn, bis ihn im Unheilsjahr 1938 auch seine Schule fallen lässt. Es blieb nur die Lehrstelle bei einem taubstummen Zahntechniker.
Eindrucksvoll, wie Peter Gay es immer wieder vermag, uns an der eigenen Geschichte und der Familie in dem Klima jener Jahre der zunehmenden Isolation, der seelischen Nöte und äußersten Gefahren teilnehmen zu lassen. Wie er die Auswirkung des Erlebten und die der Flucht folgenden schweren Jahre auf die eigene weitere Entwicklung nachzeichnet, besonders packend durch die ständige psychologisch-kritische Selbstanalyse, gibt dem Leser das Gefühl, in der einsichtsvollen Schilderung auch die unmittelbaren Umstände seines vielschichtigen und facettenreichen, so schweren und dann doch erfolgreichen Weges durch diese Zeit hautnah und nachdenkend mitzuerleben.
Auch im Licht der heutigen Erkenntnisse ist diese Erzählung des Deutschland-Kapitels seines Lebens im Auf und Ab jener Jahre von bleibendem Wert: eine Geschichte, wie sie nicht aufrichtiger, treffender und überzeugender denkbar ist, dabei überaus differenziert in ihrem alltagsgeschichtlichen Realismus wie in ihrem politischen und moralischen Gehalt. Sie hält auch die scheinbaren Positiva fest: die den Juden zeitweise noch verbleibenden Nischen und Ersatzbetätigungen in der deutschen Umwelt, bei Peter Gay und seinem Vater besonders auch die gemeinsam genossene Leidenschaft für den Fußball und das Briefmarkensammeln - durchaus auch eine Art „Überlebensstrategie“.
Dann freilich, in jenem Schicksals- und Entscheidungsjahr 1938, bricht die bisherige, schon kümmerliche Hoffnung gänzlich zusammen. Der „Anschluss“ Österreichs mit seiner schubartigen Verschärfung des schlimmsten Antisemitismus (der auch Sigmund Freud aus Wien vertreibt), die kriegsnahe Bedrohung und schließlich auch Besetzung der Tschechoslowakei und die mit bitterem Humor so genannte „Reichskristallnacht“ vom 9. November (im Juni hatte schon die Münchner Synagoge gebrannt), Pogrome, Zerstörung und Erpressung nun gegen alle Juden überhaupt lassen keine Wahl mehr: Die kärglichen Aussichten auf ein baldiges Ende des Regimes sind zunichte.
Doch mittels einer zum Glück unbemerkt bleibenden Manipulation des Datums gelingt endlich am 27. April 1939 die Abfahrt mit dem letzten Flüchtlingsschiff, das wenigstens noch Kuba erreichen wird; viele Verwandte fallen später dem Holocaust zum Opfer. Dass in diesem Jahr 1939 schon mit den Euthanasie-Aktionen das Vorspiel zur systematischen Ermordung der Juden begann, ahnten damals freilich noch wenige.
Wiederbegegnung
Um so zögernder stand Peter Gay auch lange nach 1945 dem Gedanken an einen Deutschlandbesuch gegenüber. Kein Zufall, dass mit dieser seiner „deutschen Frage“ einer „Rückkehr nach Berlin“ („Return of the Native“) dramatisch das ganze Buch beginnt. Als Franz Neumann, durch sein Buch „Behemoth“ (1941) über das NS-System unter den Professoren der Columbia University der bekannteste Emigrant von 1933, im Jahre 1950 nach Berlin fährt, um beim Aufbau der gegen kommunistische Gleichschaltung neu gegründeten „Freien Universität“ zu helfen, wirft der junge Dozent Peter Gay ihm unverhohlen „Sentimentalität“ vor, was Neumann freilich mit dem nämlichen Vorwurf an Gay quittiert. Das zwingt ihn, wider Willen doch wieder an Deutschland zu denken. Aber erst 1961 kann er sein so verständliches Zögern vor einer Reise, dann von Frankreich aus, nach Berlin überwinden, als ihn ein amerikanischer Kollege zu seinen Gastvorlesungen an der FU Berlin einlädt: Es wird ein kritisch gestimmter und beobachtender Versuch der Wiederbegegnung mit noch zwiespältigen Eindrücken und Gedanken. Um so lebendiger geschildert dann die Rückkehr in längeren regelmäßigen Besuchen seit Ende der sechziger Jahre, die nun auch in das Erinnerungsbuch eingeht.
Gays Buch ist von großem Wert nicht nur für Historiker und Politiker, sondern für alle, die wissen wollen, wie verschieden jene Geschichte die einzelnen treffen und ein Leben lang begleiten konnte, wie die Ausgestoßenen mit diesem Schicksal leben konnten, und worin Peter Gays „Deutsche Frage“ eigentlich besteht. Es geht nicht nur die Altersgenossen oder nachträglich Interessierten auf allen Seiten an, sondern besonders jene hoffentlich vielen, die in Deutschland und anderwärts aus der Geschichte einer solchen Diktatur noch in so genannten „Friedenszeiten“ auch heute zu lernen bereit sind: die also hinsehen und nicht wegsehen, wenn es um die Geschichte unseres Jahrhunderts geht - um unserer besserer Zukunft willen.
Für uns ist das Buch eines der bewegendsten Zeugnisse über diese Jahre des Unheils, die wir gleichzeitig, doch in so verschiedener Weise erlebt und schließlich überlebt haben. Und wir sind aufrichtig dankbar, dass Peter Gay diese sein ganzes weiteres Leben so nachhaltig prägende Jugendgeschichte nicht für sich behalten, sondern sie ganz offen und ungeschützt uns allen überliefert hat. Diese Erfahrung zeigt uns, welche neuen Dimensionen gegenseitigen Verstehens gerade auch die Offenbarung solch anscheinend weniger spektakulär verlaufener Schicksale vermitteln kann. Ein Bericht wie dieser wird neben Schmerz und Trauer über das unwiderruflich Geschehene doch zugleich Bewunderung für die Bewältigung und Darstellung dieser Erfahrungen und so auch Ermutigung zum politischen Engagement für eine demokratische Gesellschaft wecken. Es ist ein beispielhaftes Stück Zeitgeschichte.
Karl Dietrich Bracher, München 22.11.1999
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger
Dankesrede von Peter Gay
"Bevor ich meinen Wortschwall über Sie ergehen lasse, möchte ich eine kurze Bemerkung voran schicken, die Sie hoffentlich nicht zu tief enttäuschen wird: Der Name Martin Walser wird in ihm nicht vorkommen.
Die Frage, die ich heute anschneiden werde, folgt direkt aus meiner dankbaren Anerkennung, dass deutsche Institutionen und eine deutsche Jury bereit gewesen sind, ein Buch auszuzeichnen, das mit Deutschland keineswegs unkritisch umgeht. Besonders deswegen und weil diese Auszeichnung Brücken zwischen zwei Welten baut und meinen Namen mit tapferen Deutschen verbindet, die in der Nazizeit gelebt und gelitten haben, ist dieser Preis eine einmalige Ehre für mich.
Mehr…
Meine Frage, die die Geschwister Scholl zwar nicht ausdrücklich gestellt haben, die aber implizit in ihrem Programm enthalten ist, lautet: Ist es denkbar, dass das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden wieder eine normale Form annehmen wird, wie es für kurze Zeit im frühen 20. Jahrhundert der Fall war? Mit anderen Worten: Sind die Worte "Deutscher" und "Jude" unvereinbar? Ist es unser Schicksal, dass man eins von diesen sein kann, aber nicht beides zugleich? Schon die Fragestellung ist ein Symptom des zu lösenden Problems.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, gerade in München festzustellen, dass ich nicht der erste bin, der diese Frage gestellt hat. Im Lauf des Sommers erschien in der Süddeutschen Zeitung eine Reihe von Aufsätzen zum Thema "Was Deutsche und Juden voneinander trennt". Der Schlüssel zur Antwort liegt meiner Meinung nach vor allem in der Sprache, in der wir über diese heikle Sache sprechen und schon lange gesprochen haben.
In der verzwickten Sache des deutsch-jüdischen Verhältnisses haben die Deutschen der Nachkriegszeit, die versucht haben und immer noch versuchen, mit der Nazi-Vergangenheit fertig zu werden, ein gewisses Recht auf Mitleid erworben. Was auch immer sie tun, es ist falsch. Bauen sie ein imposantes Mahnmal, um die Welt - und sich selbst - an die Juden zu erinnern, die sie unter eifriger Mitwirkung von Österreichern, Polen und anderen Gesinnungsgenossen ermordet haben, dann ist das, in den Augen vieler Kritiker, nur ein Versuch, sich einen Persilschein zu verschaffen - seht einmal, wie traurig mich diese ganze Geschichte macht! Weigern sie sich aber, ein Mahnmal zu bauen, dann ist das, in den Augen anderer Kritiker, nur ein Zeichen, dass sie ihre schreckliche Vergangenheit verdrängen wollen. Geben sie Milliarden in Israel aus, dann ist das nur ein Bestechungsversuch; hören sie mit den Ausgaben auf, dann ist das ein neuer Beweis, dass die deutsche Reue viel zu kurzatmig ist. Ist es nicht der Gipfel der Geschmacklosigkeit, Morde mit Geld zu sühnen, als ob ein jüdisches Leben nur eine gewisse Summe von Deutscher Mark wert wäre? Realisten würden dagegen halten, dass Geschmacklosigkeit besser ist als Gleichgültigkeit.
Auf jeden Fall, die Tatsache, dass Deutsche seit Jahrzehnten nichts Richtiges tun können was ihre jüdischen Opfer anbetrifft, lässt vermuten, dass in diesem Dialog der Tauben beide Seiten so empfindlich sind und so emotional miteinander umgehen, dass ein echtes Einverständnis kaum erreichbar scheint.
Ich halte einen Augenblick inne. Was ich eben gesagt habe, zeigt, wie schwierig es ist, die richtigen Worte zu finden, wenn man über Deutschland und die Deutschen spricht. Es ist keineswegs meine Absicht, es Ihnen leicht zu machen; ich wäre der Letzte, der sich bemühen würde, deutschen Verbrechern und, später, deutschen Versagern ein Alibi zu verschaffen. Aber in den bisher missglückten Versuchen, Deutsche und Juden einander näher zu bringen, ist es beinah ein Naturgesetz geworden, dass die beiden einander missverstehen. Als ich im letzthin bei der Buchmesse in Frankfurt war, hatte ich das Vergnügen, eine intelligente, positive, sorgfältig nuancierte Besprechung des Buches, das heute geehrt wird, von Volker Ullrich in der Zeit zu lesen. Die Schlagzeile aber (und ich weiß, dass ein Autor nie für Schlagzeilen verantwortlich ist) lautete: "Fast eine Liebeserklärung", obwohl "Meine deutsche Frage", was Volker Ullrich natürlich nicht entgangen ist, meine Ambivalenz betont. Von Liebeserklärung keine Spur.
Die Geschwister Scholl hatten nicht die Gelegenheit, solche gemischten Gefühle voraus zu sehen. Ich habe nicht vor, die Geschwister Scholl und ihre winzige Anti-Nazi-Zelle zu kritisieren. Sie waren, im vollen Sinne des so oft missbrauchten Wortes, Helden, die in ihrer göttlich-naiven Unschuld eine Aktion unternahmen, deren Scheitern programmiert war und die, obwohl ihnen ein früher, grausamer Tod beinahe gewiss war, weiter die deutschen Massenmörder mit ihren leider so harmlosen Waffen bekämpften. Ihr Ziel war klar: das Land vom Tyrannen befreien. Ihre Flugblätter sind zugleich rührend und aufregend in ihrer klassischen Klarheit. (...)
Schon im 19. Jahrhundert hat der Sprachwissenschaftler und Völkerpsychologe Heyman Steinthal, selbst ein Jude, behauptet - und mit Recht - , dass die sogenannte Judenfrage in Wirklichkeit eine deutsche Frage sei. Wie stellen sich nicht jüdische Deutsche zu den Aktivitäten eine Minderheit, die erst vor wenigen Jahrzehnten von erniedrigenden Gesetzen befreit worden ist; wie stellen sie sich zum "Eindringen" von Juden in die deutsche Industrie oder ins Kaufmannswesen, in die freien Berufe, wie Medizin und Jura, in die Literatur, Musik, Bildhauerei, Malerei, um von ihrer Teilnahme an Veranstaltungen wie einem Goethe- oder Schiller-Fest oder vom Mäzenatentum ganz zu schweigen. Waren die Juden zu aktiv? Hat ihre "Invasion" vorher "judenreiner" Gebiete diese verdorben oder korrumpiert - oder vielleicht am Leben erhalten und interessanter gemacht?
Um es etwas schärfer auszudrücken: Gibt es denn eine leicht erkennbare "rassische" Eigenschaft, die man als typisch jüdisch bezeichnen darf? Wenn das Wort "Jude" fällt, welche Bilder steigen in dem Geist des Sprechers oder der Zuhörer auf? Sehen sie mit ihrem inneren Auge einen bärtigen ehrwürdigen Mann, der in einen heiligen Text vertieft ist? Oder Fassbinders geldgierigen, rachsüchtigen Spekulanten? Den schlauen Geschäftsmann oder den gelehrten Kunsthistoriker? Der Klappentext der deutschen Übersetzung meiner "Deutschen Frage" sagt aus, dass ich ein "assimilierter antireligiöser Jude" sei. Stimmt das? Jude bin ich erst in Folge eines Dekrets der Nazi-Regierung geworden. Vorher war ich Deutscher, right or wrong. Ein ähnlicher Ausdruck - "deutsch-jüdisch" - propagiert denselben Irrtum; einen Irrtum wenigstens, was mich anbetrifft. Bis zum 30. Januar 1933 war ich nicht "deutsch-jüdisch", sondern einfach "deutsch". Danach war ich auch nicht deutsch-jüdisch, sondern einfach jüdisch oder wenigstens "un-deutsch".
Aber was für Deutsche waren meine Eltern und ich, bevor Franz von Papen Hitler zur Kanzlerschaft verhalf? Das Ideal, das "assimilierten Juden" vorschwebte, war die Integration in eine hoch differenzierte Gesellschaft, in der viele Strömungen zusammen flossen, Gruppen von Menschen, die auf einer gewissen Identität bestanden und, obwohl sie ihrer Vergangenheit oft nicht treu blieben, sie nicht verleugneten. Ein ländlicher Bayer, der auf Generationen von eingesessenen Bauern zurück blicken konnte, war nicht deutscher als ein Jude, der nicht wusste, in welchem Land seine Großeltern gelebt hatten. Zugegeben, solch ein toleranter Pluralismus hatte vielleicht mehr Gegner als Anhänger, und es gab Deutsche, auch vor Hitler, die Juden, ganz gleich welcher Art, das Prädikat "deutsch" nicht zubilligten.
Bleibt das Problem, das in meiner ursprünglichen Frage enthalten ist. Warum Deutsche und Juden? Die beiden scheinen einander ausschließende Kategorien zu sein. Man ist entweder Deutscher oder Jude. Nun, es ist wahr, dass in den letzten Jahren Juden, die hier leben, sich so definieren. Sie nennen sich, und die Pointe dieser Selbstbeschreibung soll nicht verloren gehen, Juden in Deutschland. Ich denke mit einer gewissen Nostalgie an die Jahre im Kaiserreich, in denen die einflussreichste jüdische Verteidigungsorganisation sich den Titel Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gab. Wie Sie sehen: Sogar in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts brauchten Juden im Deutschen Reich Selbstverteidigungsstrategien gegen Verunglimpfung und Verleumdung. Aber am interessantesten ist, dass die Organisation die deutsche Staatsbürgerschaft ihrer Mitglieder betonte.
Heute liegt die Situation ganz anders. Natürlich kann man nicht einfach dekretieren, dass von jetzt an Formulierungen wie "Deutsche und Juden" nicht mehr benutzt werden dürfen. Sie spiegeln eine Realität. Andererseits aber hilft diese Formulierung, diese Realität am Leben zu halten. Schließlich findet man Zeugnisse dieser Realität beinahe überall. Ich finde, dass erstens in den Hochschulen jüdische Professoren kaum anzutreffen sind, und zweitens, dass die Handvoll von Professoren jüdischer Herkunft hauptsächlich über ihr "eigenes" Gebiet forscht, lehrt und schreibt. Das ist ein Zeichen des Widerstandes der eingesessenen Institutionen gegen Neulinge, denen sie volle Bürgerschaft nur unwillig gewähren. Ich muss beiläufig bemerken, dass ich gewöhnlich nicht nachforsche, welche Professoren bei mir zu Hause in den Vereinigten Staaten jüdisch sind - ich tue das nur in Deutschland.
Was tun? Ich sehe wenigstens drei Möglichkeiten - keine von ihnen kann oktroyiert werden, alle von ihnen müssen sich ganz natürlich im Laufe der Zeit in die Denkart der Deutschen einbürgern. Trotzdem kann es nicht schaden, auf sie hinzuweisen und ihren Erfolg damit ein wenig zu beschleunigen.
Erstens ist es angebracht, aus Gründen, die ich schon angegeben habe, unsere Begriffe, die mit Judentum zu tun haben, sorgfältig zu überprüfen und sorgfältig anzuwenden. Obwohl er eine gewisse Kategorie, eine gewisse Gruppe der Menschheit gut beschreibt, ist es nicht angebracht, den Namen "Jude" immer pauschal, ohne Nuancen, zu benutzen. Wenn ich behaupte, dass vor 1933 meine Eltern und ich nicht jüdisch waren, dann will ich mit dieser Aussage nicht nur betonen, dass wir irreligiös oder gar anti-religiös waren, sondern dass wir aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten waren und uns offiziell als "konfessionslos" beschrieben. Und auch die Bürger, die sich zum Judentum bekannten, waren keineswegs über einen Kamm zu scheren. Die meisten von ihnen waren Deutsche sowohl als (und oft mehr als) Juden; es gab viele glühende Patrioten unter ihnen, die sich 1914 freiwillig zur Armee meldeten und 1918 die Niederlage des Kaiserreiches mit großem Schmerz hinnahmen. Menschen leben mit vielen Identitäten: Sie sind Familienmitglieder, Briefmarkensammler, Kegler, Neurotiker, Katholiken, Anhänger von Bayern München, und diese Identitäten widersprechen sich nur selten. Genau so konnte man Deutscher und Jude sein. Vorsichtig mit diesen Namen umzugehen, ist nicht aus irgendeiner political correctness wünschenswert, sondern weil Präzision Missverständnisse ausräumen kann.
Zweitens ist es notwendig, deutsche Geschichte, besonders wo sie den Anteil deutscher Juden berührt, mit größerer Sorgfalt zu studieren, als es bisher der Fall gewesen ist. Ich spreche nicht vom Holocaust, von Tätern, Zuschauern und Opfern, über die seit Jahren fleißig geforscht worden ist, genug, um die Goldhagen-These mit eindrucksvollem Material zu widerlegen. Wovon wir aber keineswegs genug haben, sind zuverlässige Studien über das Leben der Juden in der Nazizeit, ob in Deutschland oder im Exil. Dass die Deutschen in der Geschichte der Juden eine große, oft fatale Rolle gespielt haben, ist uns allen bekannt. Dass Juden in der Geschichte der Deutschen eine große, oft konstruktive Rolle gespielt haben, ist viel weniger bekannt. Victor Klemperers Tagebücher haben sich als eine unentbehrliche Quelle erwiesen, und es ist ermutigend zu sehen, wie viele Deutsche sich dieses Meisterwerk gekauft und wahrscheinlich auch gelesen haben. Was wir brauchen, sind mehr Werke wie Marion Kaplans "Between Dignity and Despair", das die Erfahrung jüdischer Frauen in Deutschland in den schwierigen dreißiger Jahren mit Präzision und Sympathie beschreibt und analysiert. In einem solchen Buch sehen wir, um den großen Ranke zu zitieren, wie es eigentlich gewesen.
Wie nötig wir solche Forschungen brauchen, kann ich aus eigener Erfahrung belegen. Ich borge mir hier eine Anekdote, die ich schon im Vorwort meiner "Deutschen Frage" ausgewertet habe. Ich erwähne dort ein Gespräch, das ich um 1993 in Berlin mit einem einflussreichen, intelligenten, wohlwollenden und historisch gebildeten deutschen Beamten führte. Eines Abends fragte er mich, sichtlich beunruhigt, warum die deutschen Juden in den späten dreißiger Jahren wie Lämmer ins Schlachthaus gegangen seien. Das machte mir klar, dass es sogar unter gut informierten Deutschen viele gab, die keine Ahnung hatten, wie die Juden in Nazideutschland lebten, und wie es in der Welt draußen aussah, die nicht gewillt war, Rechtsanwälte oder Kaufleute, die meistens keine Fremdsprache beherrschten, mit Freuden aufzunehmen. Dieses Beispiel machte mir klar, wie viele Deutsche - auch gebildete Deutsche - nichts über ihre früheren Mitbürger wissen. Ein Grund, warum ich "Meine deutsche Frage" geschrieben habe, war, dass ich diese historische Naivität etwas beheben wollte.
Drittens möchte ich noch einen Weg erwähnen, der viel zur Normalisierung zwischen - ich muss es jetzt so nennen - Deutschen und Juden beitragen könnte. Ich spreche von Freundschaft, einem Verhältnis, in dem man die Frage: Wer bist du eigentlich, nicht mit "Deutscher" oder "Jude" beantworten muss und in dem man freimütig über sich selbst und die andern sprechen kann, ohne sich jeden Augenblick fragen zu müssen, ob man vielleicht irgendwie den andern gekränkt habe. Ich habe solche Freunde in Deutschland. Ich werde nur zwei von ihnen kurz erwähnen. Der eine, Emil Busse, ein Freund meines Vaters, ist der Deutsche, dem ich dieses Buch gewidmet habe. Er hat unser letztes Jahr in Deutschland und unsere Flucht unglaublich erleichtert. Und der andere, Karl Dietrich Bracher, der aus Freundschaft sich dazu gewinnen ließ, eine Laudatio für mich zu verfassen, war der erste, der mit seiner Frau Dorothee es mir ermöglichte, an Deutsche nicht einfach mit Abscheu zu denken.
Das haben sie getan, indem sie nichts getan haben. Sie waren nur, sie blieben nur sie selbst. Sie gaben ein Beispiel, ohne sich anzustrengen, ein Beispiel zu geben. Für mich war die Begegnung mit ihnen ein entscheidender Einschnitt in meinem Leben, der mir fundamentales Umdenken ermöglichte und für den ich lebenslang dankbar sein werde. Deshalb finde ich Karl Dieters Gegenwart auf diesem Podium einen der glücklichsten Augenblicke meines Lebens.
Emil Busse und die Brachers haben mir geholfen, meine deutsche Frage wenigstens teilweise zu beantworten. Aber ich würde der Offenheit, die dieses Thema verlangt, Unrecht tun, wenn ich Ihnen einen Zwischenfall verschweigen würde, der wieder einmal zeigt, wie schwer es ist, die Vergangenheit einfach beiseite zu schieben. Als ich Anfang November diesen Vortrag niederschrieb, bekam ich einen Brief aus England, der mir mit jäher Brutalität meine Jahre unter Hitler ins Gedächtnis rief. Diejenigen, die meine Memoiren gelesen haben, werden sich an Walter Schreiber erinnern: an den Bankier, der aus "rassischen Gründen" frühzeitig aus seiner Stelle entlassen wurde. Er wurde am 10. November 1938 abgeholt, und im Dezember traf ich ihn. "Er war sichtlich gealtert", schrieb ich, "sah leichenblass aus, schien verwirrt, ich dachte beinah senil." Die Wochen im Konzentrationslager waren ihm nicht gut bekommen. Er sagte mir, dass er, seine Frau und sein Sohn, nach Schanghai auswandern würden, und seit der Zeit, in der ich mich mit meinem Memoiren beschäftigt habe, habe ich versucht, Spuren von ihm und den Seinen zu entdecken - ohne Glück. Die Organisation, die über Flüchtinge in Schanghai Buch führt, hatte keinen namens Schreiber in ihrer Kartei. Nun, der Brief, der von einem engen Freund der Schreibers stammte, gab Aufschluss, warum ich sie nicht finden konnte: Dem Sohn war es geglückt, nach England zu entfliehen, aber Walter Schreiber und seine Frau Annie sind in Auschwitz umgekommen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ich diese Nachricht so tragisch genommen habe. Schließlich war es doch schon so lange her - mehr als ein halbes Jahrhundert - , und es wäre praktisch unmöglich gewesen, dass Walter Schreiber noch am Leben war. Aber als ich diesen Brief las, schien es mir, dass ich meinen Freund in diesem Moment, Anfang November 1999, verloren hätte - eine grausame Erinnerung daran, dass Hitlers Zerstörungssucht, Jahrzehnte nach seinem Tod, immer noch neue Opfer finden konnte.
Solche Momente stehen wie ein Schatten zwischen denen, die wir immer noch Juden und Deutsche nennen müssen, und erschweren die Arbeit, die wir noch alle zu leisten haben. Aber das bedeutet nicht, sie vernachlässigen zu dürfen, geschweige denn aufzugeben, denn es ist Arbeit für die Zivilisation, die größte Geduld verlangt und immer wieder Niederlagen in Kauf nehmen muss. Und im Vergleich mit der Arbeit, die die Geschwister Scholl auf sich nahmen, ist die unsere die Leichtigkeit selbst."
Peter Gay, München 22.11.1999
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger