Helene Holzman veröffentlichte ihre Aufzeichnungen Zeit ihres Lebens nicht. Ihre Tochter Margarete hat sie zusammen mit Reinhard Kaiser ediert. Margarete Holzman ist „dies Kind“, die gerettete Tochter der Helene Holzman. 1924 in Litauen geboren, entkam sie als Zwanzigjährige zusammen mit ihrer Mutter der Verfolgung durch Wehrmacht und SS. Heute lebt sie als Übersetzerin und Dolmetscherin in Gießen. Reinhard Kaiser, geboren 1950 in Viersen am Niederrhein, lebt als Übersetzer und Schriftsteller in Frankfurt am Main. Bei Recherchen für sein Buch "Königskinder. Eine wahre Liebe" (1996) kam er in Kontakt mit Margarete Holzman, die als Übersetzerin und Dolmetscherin heute in Gießen lebt.
Preisträger 2000
Margarete Holzman/Reinhard Kaiser
Dies Kind soll leben
Die Aufzeichnungen der Helene Holzman, 1941-44
Verlag Schöffling & Co
Frankfurt am Main 2000
ISBN 3-89561-062-3
Die Herausgeber
Begründung der Jury
"Das Buch ist ein eindringlicher Appell an den Mut zur Humanität und zu geistiger Freiheit auch und gerade der jungen Generation. Als Deutsche mit litauischem Pass und "Halbjüdin" hat die Malerin und Buchhändlerin Helene Holzman (1891-1968) die Zeit der deutschen Besetzung 1941-1944 in der Stadt Kaunas miterlebt und erlitten, ihr Ehemann und ihre ältere Tochter wurden verschleppt und ermordet. Sie selbst und eine Gruppe befreundeter Frauen bemühten sich, möglichst viele gefährdete Kinder aus dem Ghetto und damit vor dem sicheren Tod zu retten.
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Gänzlich unpathetisch, doch voll anrührender und erschreckender Details, scheinbar kunstlos und doch mit eindringlicher Erzählgabe zeichnet die Autorin ein genaues Bild dieser Schreckenszeit voll Feigheit und Opportunismus, Brutalität und Hass einerseits, Tapferkeit und Überlebenswillen, Zivilcourage und kühnem Widerstand andererseits. Sie schildert die Täter und Mitläufer, denen sich eine verschworene Gemeinschaft einfacher Frauen widersetzt, und zeigt dabei die Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit menschlicher Verhaltensweisen in einer Extremsituation, aber auch die Chancen einer unbeirrbaren Mitmenschlichkeit gegen Rassenhass und Gewalt.
Die Aufzeichnungen, die Helene Holzmans gerettete Tochter Margarete und Reinhard Kaiser nach 55 Jahren sorgfältig ediert haben, sind eine einzigartige historische Quelle für die bisher wenig erforschte Vernichtung der Juden in Litauen. Als authentische Chronik, aber auch als tief berührendes individuelles Zeugnis steht es neben den Tagebüchern von Anne Frank und Victor Klemperer."
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Verleihung
Am 27. November 2000 nahmen Margarete Holzman und Reinhard Kaiser den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Rosemarie von dem Knesebeck, Vorsitzende des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V. (ehemaliger Name des Verbandes bis 2003), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio bei der Preisverleihung hielt Ulrich Herbert.
Laudatio von Ulrich Herbert
Sehr verehrte Frau Holzman, sehr geehrter Herr Kaiser,
meine Damen und Herren,
„Man drang in die Wohnungen der Juden ein und trieb alle Bewohner aus den Häusern auf den Marktplatz oder in die Synagoge. Kranke, Säuglinge wurden getragen. Man sagte ihnen, dass sie andemwärts zu Arbeit benötigt und zeitweilig umgesiedelt würden, und hieß sie, die notwendigen Kleidungsstücke mitzunehmen. Auf den Straßen, Plätzen und in den Synagogen spielten sich bereits die schrecklichsten Szenen ab. Man schlug die Juden mit Knüppeln und Gewehrkolben, entriss ihnen die herbei geschleppten Sachen, trennte Kinder von Müttern, bespie und verhöhnte sie. Dann wurden sie geschlossen aus der Stadt getrieben.
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An vielen Orten hatte man einige Tage vorher jüdische Ingenieure und Hilfspersonal geholt und sie unter dem Vorwand, Brunnen graben zu müssen, im Walde oder auf freiem Felde breite Gruben ausstechen lassen. Nachdem sie die Arbeit ausgeführt hatten, wurden sie an Ort und Stelle erschossen.
Zu diesen Gruben wurden die Juden geführt. Ihre Bündel mussten sie auf einen Haufen legen und ihre Oberkleidung ausziehen. So wurden sie halbnackt in Partien an den Rand der Gruben getrieben und mit Maschinengewehren erschossen. Zuerst die Kranken, Alten, dann die Kinder und Frauen, zuletzt die Männer. Verwundete wurden erstochen oder erschlagen.
Das Gemetzel währte an vielen Orten den ganzen Tag. Bevor die Reihe an sie kam, waren die Unglücklichen Zeugen, wie man die anderen abschlachtete. Wenn die Gruben, in denen die Töten in vielen Schichten übereinander lagen, voll waren, wurden die Juden gezwungen, sie zuzuschütten, nachdem man die Leichen aus .hygienischen Gründen' mit calcium chloratum bestreut hatte. Kleine Kinder wurden lebendig in die Gruben geworfen und verschüttet. Manche Männer setzten sich zur Wehr, sprangen den Exekutoren an die Gurgel und zogen sie mit in das grauenvolle Massengrab.
Die Exekuteure waren überall litauische 'freiwillige' Partisanen. Deutsche Polizei und Wehrmacht leitete und überwachte die Handlung. Wo die Litauer schlappmachten, wurden sie mit Alkohol aufgemuntert. An vielen Orten wurden die Szenen von deutschen Filmakteuren aufgenommen. Bei den Aufnahmen wurde darauf geachtet, dass nur litauische Exekuteure auf die Platte kamen. Die Deutschen bemühten sich später, den Tatbestand zu fälschen, als ob litauische Initiative in gerechter Volkswut gegen die jüdischen Ausbeuter die Gemetzel veranstaltet habe. All das geschah am helllichten Tage."
Diese Stelle aus dem Buch der deutschen Malerin Helene Holzman beschreibt eine der großen so genannten Judenaktionen in der litauischen Stadt Kaunas im September 1941. Bis Ende Oktober ermordeten die Deutschen Besatzungsbehörden auf diese Weise mehr als ein Drittel der 45.000 Juden, die in Kaunas lebten. Die Szene beschreibt den Alltag des Judenmords, wie er sich zu dieser Zeit überall in Litauen, im Baltikum, in den von den Deutschen besetzten Teilen der Sowjetunion abspielte. Sie beschreibt die unglaubliche Brutalität des Mordgeschehens, die Mordlust der Täter, das Entsetzen der Opfer. Sie beschreibt die Öffentlichkeit des Geschehens: überall Zuschauer, Fotoapparate, Filmkameras; wobei die Deutschen darauf achteten, dass nur die litauischen Hilfstruppen bei dem Mordgeschehen gefilmt würden. Aber oft war ihnen selbst das egal.
Dies alles ist weit entfernt von dem Bild des kalten, beinahe klinischen, industriellen Massenmords das in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unseren Eindruck von dem Genozid an den Juden geprägt hat. Nicht irgendwo im Osten, in abgelegenen, unzugänglichen, anonymen Vernichtungsmaschinen, fernab der Zivilisation fanden diese Massenmorde statt; sondern als apokalyptische, geradezu archaische Massaker, direkt vor der Stadt, unter aller Augen, unter Mitwirkung aller deutscher Dienststellen in Kaunas vollzog sich der Genozid, kaum 70 km von der deutschen Grenze entfernt. Wer das liest, dem müssen die beständigen Beschwörungen von dem geheimen, zeugenlosen Geschehen, jenseits der Wahrnehmbarkeit durch die Deutschen geradezu zynisch vorkommen.
Helene Holzman, geb. Czapski, geboren in Jena im Jahre 1891, Malerin aus gutem Hause, Schülerin von Max Beckmann, zieht in den 20er Jahren zusammen mit ihrem Mann, dem Buchhändler Max Holzman nach Kaunas. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Marie und Grete. Schon vor der NS-Machtergreifung in Deutschland wird ihnen bedeutet, dass für sie „im Reich" kein Platz mehr sei, denn Max Holzman ist Jude, Helene gilt als so genannte Halbjüdin.
Im Sommer 1940 besetzt die Rote Armee Litauen. Die Buchhandlung der Holzmans in Kaunas wird geschlossen und enteignet. Tausende von Litauern werden als „Bourgeois" nach Sibirien verschickt; viele Juden darunter. Auch die Holzmans stehen auf den Deportationslisten. Soviel zur Frage der Rolle der Juden bei den Verbrechen des sowjetischen Geheimdienstes vor dem Abzug der Roten Armee.
Im Sommer 1941 marschieren die Deutschen in Litauen ein. Sie finden in den litauischen Nationalisten willige Helfer. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht beginnt ein barbarisches Blutbad an der jüdischen Bevölkerung. Hunderte von Juden werden von den litauischen Nationalisten gejagt und auf offener Straße erschlagen. Wenige Tage später lässt der deutsche Einsatzgruppenkommandant Jäger in einem Festungsbau in der Stadt, dem 7. Fort, 3000 jüdische Männer erschießen. Unter ihnen ist vermutlich auch Max Holzman.
Marie Holzman wird als Kommunistin verhaftet - sie war Mitglied des Komsomol gewesen und hatte in Lazaretten deutsche Soldaten besucht und versucht, sie von der Notwendigkeit der Friedens zu überzeugen. 3 Monate später wird auch Marie erschossen.
Nun versucht Helene Holzman, alles zu tun, um das Leben der jüngeren Tochter Grete zu retten - und das Leben vieler anderer. In dem unsicheren Status der „Halbjüdin" - noch dazu mit einem Juden verheiratet gewesen - ist sie selbst in größter Gefahr. Sie ist aber litauische Staatsbürgerin und von der Herkunft her Deutsche. Sie tritt selbstsicher und umsichtig auf. Das hilft ihr oft.
Helene Holzman muss mit ihrer Tochter die angestammte Wohnung verlassen; die ist zu unsicher. Aber sie kommen bei zwei russischen Frauen, den beiden „russischen Nataschas", unter, die vielen Verfolgten und vom Tode Bedrohten in dieser Stadt helfen, wo sie können. Das Risiko ist enorm: Wer Juden versteckt, den erschießen die Deutschen, und Denunzianten gibt es mehr als genug. Ein paar Freunde und Freundinnen, zum Teil aber auch vorher ganz Unbekannte, bilden allmählich ein geheimes Netz der Hilfe; fast alles Frauen - die beiden Nataschas, Helene Holzman und ihre Tochter, eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine deutsche Studentin aus Freiburg (die Nichte Helene Holzmans, Susanne Czapski, die als Werkstudentin nach Kaunas kommt, dort von ihrer Tante eingeweiht wird und ebenfalls hilft. Wir kennen sie heute unter dem Namen Susanne von Paczensky). Eine „kleine Verschwörergruppe", so nennt es Helene Holzman - sie schmuggeln Lebensmittel in das mittlerweile gebildete und abgeriegelte Getto, sie bieten Einzelnen Unterschlupf, versorgen sie mit Lebensmittelkarten, mit Papieren, die ein Freund, der Geiger Vocelka offenbar trefflich herzustellen weiß.
Es gelingt ihnen sogar, die Freunde der Holzmans, den Komponisten Edwin Geist und seine Frau Lyda, aus dem Getto herauszuholen und zu beherbergen. Doch vergebens. Nach ein paar Wochen wird Edwin Geist abgeholt und umgebracht. Als die Gestapo auch Lyda holen will, begeht sie Selbstmord.
Die Verhältnisse werden immer bedrohlicher, obwohl die großen Massenvernichtungsaktionen im Herbst 1941 vorerst eingestellt werden, denn die Juden werden zur Arbeit gebraucht, vor allem um den Flugplatz wieder aufzubauen. Das hatte übrigens einen besonderen Grund, von dem Helene Holzman gar nichts wusste: Die ursprünglich dafür vorgesehenen sowjetischen Kriegsgefangenen, mehr als 10.000 Mann, wurden im August und September ihrem Schicksal überlassen; der überwiegende Teil von ihnen war verhungert. Nun mussten die Juden die Arbeit übernehmen. Nur deswegen wurden nicht alle sofort ermordet.
Das Leben in der Halblegalität wird immer schwieriger und gefährlicher. Die Angst, auch abgeholt zu werden, ist täglich zu spüren und überstrahlt fast alles. Helene Holzman führt immer Gift bei sich, um nicht lebend in die Hände der deutschen und litauischen Mörder zu fallen. Umso erstaunlicher ist da der Lebensmut, die Menschlichkeit, oft sogar der Witz, mit dem die kleine Verschwörergruppe ihre mühseligen Verbindungen knüpft, langwierige Botengänge unternimmt, nach Unterkünften für die Verfolgten sucht. Aber die Aussichten sind deprimierend. Obwohl: seit der deutschen Niederlage in Stalingrad keimt wieder Hoffnung auf. Die Deutschen geraten in die Defensive. Ein Ende, ein Überleben scheint vielleicht doch möglich. Doch das Ende ist an Furchtbarkeit nicht zu übertreffen: Ende März 1944 treiben die Deutschen alle Kinder und alle Alten im Getto zusammen und ermorden sie: 1300 Menschen.
„Dann beginnt die entsetzliche Aktion: die Kinder wurden geholt. Haus für Haus kam deutsche Polizei, von Ukrainern begleitet... Alle Kinder bis zu zwölf Jahren wurden ergriffen und auf Lastautos geladen. Man zwang die Mütter, die ganz Kleinen selbst zu den Autos zu bringen. Große Polizeihunde durchschnüffelten die Wohnungen, die Böden, die Schuppen. Sie waren dressiert, die Kinder herbeizuschleppen. Frauen, die sich weigerten, ihre Kinder herauszugeben, die sich um die Lastautor drängten und ihre (Kinder) wieder herauszerren wollten, wurden niedergeschlagen, einige erschossen. Viele Mütter begehrten, mit ihren Kindern den Tod zu leiden: „Ihr Säue müsst noch arbeiten. Das Zeug hier muss weg.“
Die Kinder waren aus den Betten gezerrt worden und völlig unbekleidet. Sie wurden so roh auf die Autos geworfen, dass viele schwer verletzt wurden. Sie schrieen erbärmlich, und die Größeren versuchten zu entwischen- In diesen unbeschreiblichen Jammer ertönte von den Autos dröhnend laute Radiomusik. Noch nie hat die Welt so perfiden Zynismus gesehen... Diese Aktion wurde von Kittel geleitet, der schon bei der Liquidation des Warschauer und des Wilnaer Gettos erprobt war. Besonders tat sich dabei noch SS-Mann Heldtke hervor, der wegen seiner unförmigen Dicke allgemein bekannt war und der als Schüler des Kaunaer Gymnasiums vor der Hitlerzeit in einträchtiger Kameradschaft mit seinen Klassenkameraden gelebt hatte." (S. 262 f.)
Anfang Juli 1944 aber rückt die Rote Armee näher. Noch einmal überziehen die Deutschen die Stadt mit Schrecken: Das Kaunaer Getto, das von der SS mittlerweile in ein KZ umgewandelt worden war, wird liquidiert. Die noch lebenden Bewohner werden nach Dachau und Stutthof transportiert. Am 1. August marschiert die Rote Armee ein. In Kaunas ist der Krieg zu Ende.
Helene und Grete Holzman überleben - und Helene beginnt wenige Wochen nach der Befreiung mit der Aufzeichnung ihrer Erlebnisse, handschriftlich, in drei Kladden. Dies ist kein Tagebuch; die Verfasserin kennt den Ausgang des Geschehens. Sie kann auch die Zusammenhänge erklären, kennt die Ziele der Deutschen, die Lage der Litauer, das Schicksal der Opfer. Sie ist Augenzeugin und Historikerin des Geschehens zugleich, das verleiht den Aufzeichnungen jene einzigartige Mischung aus mitfühlender Beobachtung und kühlem Blick. Ihre Notizen zeichnen sich durch Genauigkeit und Scharfsinn aus und - bedenkt man, was sie erleiden musste - durch kaum zu fassende Differenziertheit:
(Unter den Deutschen) „gab es auch viele, die den Juden von vornherein mit dem ihnen eingeprägten Vorurteil begegneten und sich durch keine Einsicht davon abbringen ließen. Aber solche waren unter den Soldaten viel seltener,... während die Häupter der Zivilverwaltung wahre Untiere waren, die in ihrer Überheblichkeit im Laufe der drei Okkupationsjahre nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Litauer die schwersten Verbrechen begingen" (65)
„Die deutschen Soldaten brüsteten sich. Die Länder, in die sie schreiten, legen sich ihnen zu Füßen. Sie beschlagnahmen die Ernten, plündern die Warenlager der Städte, schlagen die Wälder, versklaven die Bevölkerung. Sie sind unwiderstehlich, und dennoch, dennoch - von Anfang an war zu fühlen, dass dieser blendende Aufbau einen Konstruktionsfehler hatte. Es fehlte etwas in seinen Maßen. Dem Fundament wart nicht zu trauen. Der hörige Glaube an die Unfehlbarkeit des Regimes, die maßlose Überheblichkeit gegenüber allen anderen Völkern und nicht zuletzt ihr wahnwitziger Antisemitismus - aus dem allen konnte und konnte am Ende nichts Gutes hervorgehen." (78)
Sie beschreibt die Litauer - Opfer und Täter zugleich; viehische Totschläger darunter, aber auch Verzweifelte, denen man alles genommen hatte. Aber auch viel Naivität, Opportunismus, Desinteresse.
Vor allem aber bekommen die Opfer Gesichter, Lebensgeschichten, Individualität.
„Vorübergehend übernachteten noch andere bei uns, einige Wochen ein rührendes kleines Mädchen. Es war von einer Stelle zur anderen gebracht worden, und seine seelischen Hemmungen wirkten sich so auf ihren armen Körper aus, dass es eine schwere Verstopfung bekam, der man mit keinem Klistier und Abführmittel beikommen konnte. Mit seinem bleichen Gesichtchen, dem aufgetriebenen Leib und dem harten jüdischen Tonfall, mit dem es litauisch sprach, wäre es jedem verdächtig geworden. Man konnte es nur in der Stube halten, wo es keine Besserung seiner Leiden gab. Und schließlich mussten wir auch seinen Stolz, das einzig Schöne, was es an sich hatte, seine dicken, hellbraunen Zöpfe abschneiden und den Kopf gründlich mit Sabadilessig und Petroleum behandeln."
Wer dieses Buch gelesen hat, dessen Blick auf unsere Geschichte verändert sich. Das von uns, den Historikern, oft genug gezeichnete Bild eines abstrakten Mordapparats, mit schneidigen Bürokraten vom Schlage der Heydrichs, Eichmanns und Dr. Dr. Raschs - es rückt hier weit weg. Ob die Mörder die Uniform der SS, der Polizei oder der Wehrmacht trugen - der Streit darum erscheint wie ein merkwürdiges deutsches Sonderproblem. Die Angst, die Verzweiflung der Opfer, die Menschlichkeit derer, die ihnen zu helfen versuchten, sie stehen im Mittelpunkt. Um so klarer wird dadurch der Blick auf die Täter.
Wir haben uns in Deutschland sehr schwer getan, die Opfer des Genozids zur Kenntnis zu nehmen: als Individuen, als Mütter, Väter, Kinder - nicht als Zahlen in den Erfolgsberichten der Mordkommandos. Unser Geschichtsbild ist auf uns selbst fixiert, auf die Frage, wie konnte das geschehen, wer waren die Täter, was trieb sie? Wie konnte uns das passieren, so könnte man diese Fragen zusammenfassen. Sie sind legitim, aber sie reichen nicht aus. Wenn wir nicht die Perspektive derjenigen kennen, die das erleiden mussten, ihr Leben - nicht nur ihren Tod, so wird der Genozid ein abstraktes und immer weniger verstehbares Geschehen bleiben.
Aber mir scheint auch, dass sich dies zu verändern beginnt. Viktor Klemperers Tagebücher sind ein Beispiel dafür; Marcel Reich-Ranickis Memoiren ein weiteres - deren Kapitel über das Leben und Sterben im Getto Warschau die Wahrnehmung des Holocaust bei vielen Deutschen verändert hat, und zwar auch bei solchen, die sich für Geschichte und für diese Geschichte sonst nicht interessieren.
Und nun dieses Buch, das einen nicht mehr verlässt. Nicht nur wegen des unfassbaren, das darin geschildert wird, sondern auch weil man die Holzmans und die beiden Nataschas, Edwin und Lyda, Frau Binskis, Fruma, Dolly, Ilse Kaufmann und all die anderen nicht mehr vergessen kann - Menschen mit Eigensinn und Fehlern, mit unterschiedlichem Schicksal - Menschen, an die man sich erinnern kann. Ganz unheroische Menschen dazu, verzweifelt oft, und doch sind sie in der Lage, zu helfen, wo sie können - mit Bedacht und Umsicht, zielsicher und ohne Aufhebens. Dieses Buch ist auch ein Denkmal für all diejenigen, die den Verfolgten halfen und Juden vor ihren Verfolgern retteten. Es gibt nicht viele Denkmäler für diese Helfer, in Deutschland wie anderswo.
Mehr als 50 Jahre lang blieben die drei Kladden unveröffentlicht, bis Reinhard Kaiser das Manuskript fand - bei Grete Holzman in Göttingen, und am Ende des Buches erzählt er die Geschichte dieser Begegnung. Dass dieses Buch nun vorliegt, ist nichts anderes als ein Glücksfall. Und man muss Grete Holzman, Reinhard Kaiser und dem Schöffling-Verlag dafür dankbar sein, dass sie dieses Buch publiziert und überdies so glänzend ediert haben. Wir brauchen mehr von solchen Büchern, die die Geschichte unserer Vergangenheit aus dieser Perspektive erzählen. Es gibt solche Aufzeichnungen, Notizen, Tagebucheintragungen, Erinnerungen; in Englisch, Russisch, Jiddisch, Litauisch, Polnisch, Hebräisch, Ungarisch. Aber oft genug eben nicht in Deutsch.
Wir brauchen aber auch mehr Historiker, die diese Perspektive in ihre Darstellungen aufnehmen - oder wollen wir uns ewig weiter darüber unterhalten, ob es nun Herr Hitler war oder die politische Struktur des Regimes oder gar der Rekurs auf die bolschewistischen Verbrechen, die für das Unheil verantwortlich sind?
Im vergangenen Jahrzehnt, in den letzten Jahren zumal, hat das Reden über die NS-Vergangenheit, über das richtige und falsche Gedenken, über öffentliche Erinnerung, symbolische Repräsentanz in Deutschland ein Ausmaß angenommen, dass man oft den Eindruck gewann, der Holocaust sei zum bloßen Medium der kulturellen Diskurse und zum Signum der politischen Klasse regrediert. Der Bezug auf die NS-Zeit ist so oft zur kleinen Münze verkommen, die Feuilletonisierung des Geschehens schützt uns wohl auch vor der allzu großen Präsenz und Aufdringlichkeit des Vergangenen. Man soll das nicht nur schelten, ist es doch meist gut gemeint, wenn auch der penetrant didaktische Duktus der Diskussionen, die immer nur auf andere zeigen, verstört.
Das Geschehen selbst aber droht sich unter der Last seiner Indienstnahme zu verflüchtigen, und manchmal ist es schwer geworden, sich vor lauter wirklichen und künstlichen Debatten über Aspekte der Vergangenheitsbewältigung, über Ausstellungen und Denkmale mit den Massakern im 7. Fort, der „Kinderaktion" von Kaunas, der Räumung des Ghettos Wilna, dem Aufstand im Warschauer Ghetto selbst zu beschäftigen.
Weder die Liturgisierung noch die symbolische Repräsentation des Genozids vermittelt aber die Aufklärung, die wir benötigen. Der Holocaust ist weder durch knappe Formeln erklärbar noch auf wenige politische Lehren zu reduzieren. Das Bedürfnis nach Aufklärung kann nur durch die direkte, die individuelle Auseinandersetzung mit dem Geschehen selbst gestillt werden - durch Bücher wie dieses: die Aufzeichnungen der Helene Holzman.
Ulrich Herbert, München 27.11.2000
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Reinhard Kaiser
Die politische Bedeutung der Aufzeichnungen von Helene Holzman für die Gegenwart, ihr historischer Wert als Zeitzeugnis und Quelle, die Nähe zwischen dem Engagement von Helene Holzman und ihrer Tochter Marie und dem Handeln der Angehörigen der "Weißen Rose" - all dies ist heute abend schon zur Sprache gekommen. Ich möchte mich für die Ehre, die diesen Aufzeichnungen und ihrer Autorin mit der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises zuteil wird, und für die Aufmerksamkeit, die Sie alle, indem Sie heute Abend hierher gekommen sind, ihnen entgegenbringen, bedanken, indem ich Ihnen eine Geschichte erzähle - gleichsam die Rahmenhandlung zu dem Hauptereignis, das dieses Buch darstellt.
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Die auf solide Text- und Buchgestalt zielende Herausgeberarbeit nahm ein knappes Jahr in Anspruch - vom Frühsommer 1999 bis zu den letzten Umbruchkorrekturen im vergangenen Mai. Die Rahmenhandlung jedoch, die Geschichte, die ich Ihnen zum besten geben möchte, beginnt vor fast zehn Jahren. Das Sonderbare an ihr ist: je genauer man sich auf ihre Einzelheiten einläßt, desto unwahrscheinlicher klingt sie. Es ist aber eine wahre Geschichte.
An dieser Geschichte liegt es, daß ich das Buch der Helene Holzman lange Zeit, bis es schließlich fertig war, wie etwas Eigenes betrachtet habe. Dabei habe ich an diesem Text, der ja nun wirklich nicht von mir stammt, nicht einmal als Herausgeber allein gearbeitet - sondern zusammen mit Margarete Holzman und Fruma Kucinskiene aus Kaunas. Und dennoch - die Funktionsbezeichnung "Herausgeber" gibt das Verhältnis nur unzulänglich wieder. Helene Holzmans Buch war und ist mir genauso wichtig wie meine eigenen Bücher, sogar wichtiger als manche von ihnen.
Mit einem dieser anderen Bücher ist dieses neue so eng verbunden, daß man sagen kann: Gäbe es jenes andere nicht, wären wohl auch die Aufzeichnungen der Helene Holzman bis heute noch nicht erschienen. Doch auch jenes andere Buch war nicht so sehr mein eigenes, daß ich mich als seinen Verfasser bezeichnet hätte. Die korrekte Benennung war in diesem Fall weder "Herausgeber" noch "Autor", sondern "Finder". Sie hätte auch lauten können: "Werkzeug des Zufalls". Tatsächlich ist mir die Geschichte, die in dem Buch "Königskinder" erzählt wird, durch einen Zufall unter die Augen gekommen, und ohne diesen Zufall wären die Recherchen nicht in Gang gekommen, die mich schließlich zu Margarete Holzman nach Gießen und von den "Königskindern" zu "Dies Kind soll leben" geführt haben.
Im Mai 1991 besuchte ich eine Briefmarkenauktion in Frankfurt. Bei der Vorbesichtigung von einigen wenigen der insgesamt 7134 Auktionslose, die der Katalog verzeichnete, fand ich in einem Pappkarton ein Bündel von etwa dreißig Briefen - alle vom gleichen Absender in Königsberg und einigen anderen deutschen Städten zwischen 1935 und 1939 aufgegeben, alle an die gleiche Empfängerin unter der stets gleichen Stockholmer Adresse gerichtet. In den Kuverts steckten noch die Briefe - lauter Liebesbriefe. Gegen die Konkurrenz etlicher anderer Sammler ersteigerte ich diesen Karton und mit ihm die Briefe - aus Neugier auf eine Geschichte, von der ich nichts wußte und damals nicht ahnte, daß sie mich auf Jahre hinaus nicht mehr loslassen würde.
Es war keine einfache, alltägliche, sondern eine hoch dramatische, tief traurige, mit der "großen" Historie auf unheilvolle Weise verwickelte Liebesgeschichte, die da vor mir Gestalt annahm, nachdem ich die Briefe an Hand der Stempel auf den Umschlägen in eine chronologische Reihenfolge gebracht hatte und zu lesen begann. Ein deutscher Geologe jüdischer Herkunft, Rudolf Kaufmann, der 1933 seines Postens an der Universität Greifswald enthoben worden war, verliebt sich im Sommer 1935 in Bologna, also schon im italienischen Exil, in eine junge Schwedin, Ingeborg Magnusson, die ihre Ferien in Italien verbringt. Ihretwegen, um ihr näher zu sein, kehrt er im Herbst 1935 nach Deutschland zurück. Aber nah sind sich die beiden dann doch nur noch zweimal für kurze Zeit, alles in allem dreizehn Tage - im übrigen, über Jahre hin, nur Briefe.
Der letzte der von mir ersteigerten Briefe war am 27. November 1939 (also heute vor 61 Jahren) in Königsberg auf die Post gegeben worden: "Weißt Du schon, daß ich, wenn Du den Brief in den Händen hast, Ammoniten im Anstehenden klopfe? Ja, die Geologie hat es mir noch immer angetan, auch in diesen schweren Zeiten! Bald schreibe ich Dir einen lieben, langen Brief..." - Ein offenes Ende.
Kein Zufall war es, daß wir, meine Frau, unsere Kinder und ich, im Sommer 1992, ein Jahr nach der Auktion, die Ferien in Schweden verbrachten. Ich hatte begonnen, nach Spuren der "Königskinder" zu suchen. Ich wollte nach Stockholm, wenigstens für einen Tag, wollte nachsehen, ob das Haus noch da war, in dem Ingeborg Magnusson gewohnt hatte. Straße und Hausnummer kannte ich ja von den Briefumschlägen. Wir fanden das Haus im Stadtviertel Östermalm, wie ich es gehofft hatte. Und fürs Archiv machte ich ein Foto, wie ich es geplant hatte. Aber was ich fand, als ich mir an der Haustür das Klingelbrett ansah, traf mich wie ein Schock: Zwischen anderen Namen stand dort der Name Magnusson.
Der Brief, den ich dann später an "Herrn oder Frau Magnusson" unter dieser Adresse schrieb, erreichte Ingeborgs hochbetagte Schwester Greta, die noch immer in der alten Wohnung lebte. Sie konnte mir berichten, wie die Geschichte der beiden Liebenden geendet hatte: daß Rudolf Kaufmann während des Krieges in Litauen von Deutschen ermordet worden war - daß ihre Schwester nie geheiratet hatte und 1972 gestorben war. Greta Magnusson hatte noch viele Briefe von Rudolf Kaufmann an ihre Schwester aufbewahrt. Aus ihnen ging hervor, daß Kaufmann Ende 1939 von Königsberg in das noch nicht vom Krieg berührte Litauen geflohen war und in der damaligen Hauptstadt Kaunas eine Zeitlang bei einer aus Deutschland stammenden Buchhändler- und Künstlerfamilie Zuflucht gefunden hatte. An seine schwedische Freundin schrieb er:
"Jeden Tag wird es mir bewußt, wie ich doch vom Schicksal begünstigt worden bin, daß ich den Mut fand, rechtzeitig aus Deutschland zu fliehen. Überall hört man Notschreie von Leuten aus Deutschland, die als Bettler nach Lublin müssen. Und was hätte man mit mir angefangen!?! Leider kann man auf legale Art niemandem mehr helfen. Es leben hier ja schon ca. 30000 Flüchtlinge oder noch mehr. Hier bei Holzmans bin ich für alle nur der >kleine Bruder<, und die beiden Mädels, eine ist 15, die andere 17 Jahre alt, betrachte ich wie meine Schwestern. Es sind so liebe, gebildete und feinsinnige Menschen, die so recht zu unserem Kreise passen würden."
So erfuhr ich zum erstenmal von den Holzmans in Kaunas. - Daß eines dieser "beiden Mädels" keine Autostunde von Frankfurt entfernt lebte, hätte ich mir nicht träumen lassen - und mit herkömmlichen Recherche-Mitteln hätte ich es wohl auch kaum herausgefunden. Der Name Holzman ist nicht eben selten - und die Vornamen der beiden Buchhändlertöchter werden in den Briefen Rudolf Kaufmanns gar nicht erwähnt. Eines Tages jedoch bekam meine Frau, die für verschiedene Frankfurter Verlage als Korrektorin tätig ist, den Auftrag, einem Buch mit dem Titel "Baltische Reise" die Fehler auszutreiben. Sie zeigte es mir und sagte: "Darin kommt übrigens auch Kaunas vor." Ich begann, noch im Stehen, zu blättern. Ich fand das Kapitel über Kaunas und sah, daß darin beschrieben wird, wie die Stadt vor dem Krieg ausgesehen hatte, und daß die Autorin, Verena Dohrn, sich hierbei auf das beruft, was ihr "Margarete Holzman aus Gießen" berichtet habe. Mir war sofort klar, daß ich von dieser Margarete Holzman schon gelesen hatte - in den Briefen Rudolf Kaufmanns. Sie mußte eine der Töchter des Buchhändlers sein. Ihre Telefonnummer fand ich im Gießener Telefonbuch. "Ich glaube", sagte ich, nachdem ich mich vorgestellt hatte, "Sie kennen jemanden, dessen Geschichte ich seit fünf Jahren verfolge: Rudolf Kaufmann." - "Ach, der Rudi!" rief sie. "Wie schön, daß sich mal jemand um sein trauriges Schicksal kümmert!"
Nachdem das Buch "Königskinder", ergänzt und bereichert durch das, was Margarete Holzman an Erinnerungen und Dokumenten beisteuern konnte, erschienen war, wurde ich bei Lesungen gelegentlich gefragt, ob ich denn nun "in dieser Richtung weiterarbeiten wolle". Sie werden verstehen, daß ich, eingedenk der Kette von Koinzidenzen, die meine Arbeit erst in Gang gebracht und dann begünstigt hatten, ausweichend antwortete. Ich sagte: So etwas könne man wahrscheinlich nicht wollen. - Gewiß, ich hatte auch gezielt und systematisch geforscht - in Archiven, Bibliotheken, bei Ämtern. Aber die entscheidenden Wendungen, die wirklichen Bereicherungen der Geschichte kamen doch unverhofft zustande. Margarete Holzman sagt manchmal, wenn wir uns auf die unwahrscheinliche Geschichte unseres Zusammenkommens besinnen: "Es gibt keinen Zufall!" Ich zögere ein bißchen, dem zuzustimmen, aber ich spreche dieses Wort nun etwas anders aus als früher - mit einer kleinen Pause zwischen den beiden Silben: Zu-Fall, etwas, das einem zu-fällt, etwas, das mir zu-gefallen ist - als Herausforderung, als Zumutung, als Aufgabe, ein Überfall der Geschichte oder einer Geschichte, die ich mir nicht ausgesucht hatte - eher umgekehrt, nicht wahr? - einer Geschichte, die nicht untergehen wollte und die nun, da sie weiterleben konnte, andere Geschichten gebar.
Nachdem mir Margarete Holzman alles berichtet hatte, was sie über Rudolf Kaufmann und seine Zeit im Haus ihrer Eltern wußte, hörte sie nicht auf zu erzählen, und ich hörte nicht auf, zuzuhören. Im Gegenteil. Irgendwann nahm ich ein Tonbandgerät zu Hilfe, um dauerhaft festzuhalten, was sie zu erzählen hatte. Neue Geschichten kamen zur Sprache - aus der Zeit vor dem Krieg, aus der sowjetischen Zeit, aus der Zeit der deutschen Besetzung und des Judenmords in Litauen. Hin und wieder kam Margarete Holzman an den Nachmittagen im Sommer 1998, als ich sie mit meinem Tonbandgerät heimsuchte, auch auf die Aufzeichnungen ihrer Mutter zu sprechen. Es dauerte einige Zeit, bis ich das Gefühl hatte, die Frage stellen zu können: ob ich diese Aufzeichnungen lesen dürfte - aber eines Tages war es so weit, und sie gab sie mir mit nach Frankfurt. Nach diesem "Zu-Fall" hörten die Zufälle dann erst einmal auf, und es begann die gezielte, planvolle Herausgeberarbeit.
Aber nun, nachdem diese Arbeit getan ist und das Buch vorliegt, scheint die Rahmenhandlung noch immer nicht an ihr Ende gelangt zu sein. Manchmal markieren fertige Bücher nicht das Ende der Geschichte, die in ihnen erzählt wird, sondern wirken selbst wie Magnete, die weitere Einzelheiten zu ihrer eigenen Geschichte oder neue Geschichten anziehen. So war es bei den "Königskindern". Möglich, daß auch das Buch der Helene Holzman ein weiteres "gebiert". Was sie in ihren Aufzeichnungen über die Geschichte zweier guter Freunde, des aus Berlin stammenden, nach Nazi-Kategorien "halbjüdischen" Komponisten Edwin Geist und seiner aus Litauen stammenden, jüdischen Frau Lyda, aufgeschrieben hat, ist so anrührend, so fesselnd, daß sich sofort Neugier einstellt - der Wunsch, mehr zu erfahren und nach dem literarischen und kompositorischen Nachlaß Edwin Geists zu fahnden, der sich am Ende des Krieges bei Helene Holzman befand, den sie jedoch bei der Übersiedelung in die Bundesrepublik im damals sowjetischen Litauen zurücklassen mußte. Wir haben die Spur aufgenommen - und erste unverhoffte Zu-Fälle haben sich bereits eingestellt. Wir werden uns nicht auf sie verlassen - aber wo sie hilfreich sind, werden wir diese Hilfe nicht verschmähen. Auch der Geldbetrag, der mit der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an "Dies Kind soll leben" verbunden ist, wird uns helfen, weiterzuarbeiten. Ich denke, Helene Holzman wäre damit einverstanden.
Vielen Dank.
Reinhard Kaiser, München 27.11.2000
Es gilt das gesprochene Wort.
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