Arno Gruen, 1923 in Berlin geboren, emigrierte 1936 in die USA. Dort und in der Schweiz war er jahrzehntelang als Professor und Therapeut an verschiedenen Universitäten und Kliniken tätig, seit 1958 auch in seiner eigenen psychoanalytischen Praxis. Seit 1979 lebte und praktizierte Arno Gruen in der Schweiz. Arno Gruen galt als ein Vertreter der Humanistischen Psychologie. Arno Gruen verstarb am 20. Oktober 2015 im Alter von 92 Jahren.
Peisträger 2001
Arno Gruen
Der Fremde in uns
Verlag Klett Cotta
Stuttgart 2000
ISBN: 3-608-94282-3
Autor
Begründung der Jury
"Der Geschwister Scholl-Preis 2001 wird vergeben an das Buch "Der Fremde in uns" von Arno Gruen. Der 1923 in Berlin geborene Autor mußte als Kind in die USA emigrieren; dort und in der Schweiz wirkte er jahrzehntelang als Wissenschaftler und Psychotherapeut. Seine zahlreichen Publikationen nehmen den Blickwinkel der Psychoanalyse ein, ohne diese als Patentrezept zu verstehen. Sie suchen nach Wegen, die Ganzheitlichkeit und Autonomie des Menschen zu bewahren oder wiederzugewinnen.
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Gruens "Buch "Der Fremde in uns" ist von bestürzender Aktualität. Sein Thema sind die Wurzeln von Fremdenhaß (vor allem des Antisemitismus) und Terror: "Fremdenhaß hat auch immer etwas mit Selbsthaß zu tun", richtet sich gegen einen entfremdeten, unterdrückten Teil des eigenen Ich und führt zu Lebenslügen, falscher Anpassung an die Macht und Selbstpreisgabe, innerer Leere und Destruktivität. Das Buch erforscht die Herkunft dieses "Verrats am Selbst" in den Erfahrungen der Kindheit und Sozialisation, es zeigt die Mechanismen und Metamorphosen der Täter-Opfer-Beziehung und erhellt die komplexe Dynamik von Selbstentfremdung, Fremdenhaß und destruktiver Gewalt. Die Beispiele reichen von den NS-Tätern bis zu den aktuellen Beispielen von Fanatismus, etwa auf dem Balkan, und Rechtsradikalismus.
Das Buch ist trotz seiner schwierigen Thematik klar, pointiert und eindringlich geschrieben, wenngleich zuweilen überspitzend und provokant. Es verharrt nicht bei der Diagnose, sondern zeigt Wege aus der Gewalt auf; es gibt Anstöße zur liebevollen Zuwendung gegenüber Kindern und Erwachsenen und ist ein aufrüttelnder Appell an Empathie und Mitgefühl, die "in uns eingebaute Schranke zur Unmenschlichkeit".
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Verleihung
Am 12. November 2001 nahm Arno Gruen in der Ludwig-Maximilians-Universität München den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Rosemarie von dem Knesebeck, Vorsitzende des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V. (ehemaliger Name des Verbandes bis 2003), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio bei der feierlichen Preisverleihung hielt Burkhard Hirsch.
Laudatio von Burkhard Hirsch
Herr Professor Gruen, Magnifizenz Herr Oberbürgermeister, Frau Vorsitzende, meine sehr geehrten Damen und Herren !
Es ist für mich eine besondere Ehre, in dem Auditorium Maximum dieser ehrwürdigen Universität sprechen zu können.
Wir ehren Professor Arno Gruen, Schriftsteller, Psychologe und Psychoanalytiker. Er wird für sein Buch "Der Fremde in uns" ausgezeichnet, um damit gleichzeitig der Geschwister Scholl, Studenten dieser Universität, zu gedenken und ihres Vermächtnisses.
Die Geschwister Scholl wurden am 22. Februar 1943 vom sog. Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt und am selben Tage gemeinsam mit Christoph Probst hingerichtet.
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Ihnen folgten vier weitere Mitglieder der Weißen Rose: Willi Graf, Prof. Kurt Huber, Alexander Schmorell und Hans Konrad Leipelt, dessen "Verbrechen" darin bestanden hatte, daß er Geld für die mittellose Witwe des Kurt Huber gesammelt und dann das sechste Flugblatt der Weißen Rose verteilt hatte. Im Laufe des Jahres wurden 16 weitere Mitglieder der Weißen Rose zu teilweise außerordentlich langen Freiheitsstrafen verurteilt.
Diese Opfer des Regimes waren keine weltfremden selbstmörderischen Fanatiker und keine durch falsche Erziehung zerstörten Charaktere. Es waren überwiegend junge Leute, selbstbewußt und lebensfroh.
Hans Scholl war 1932 in die HJ eingetreten. Es war eine Ehre, dafür ausgesucht zu werden, als Fahnenträger am Reichsparteitag 1936 teilzunehmen, auf dem Hitler seine Rede von der "Geburt einer großen Zeit" hielt. Scholl kehrte angewidert zurück, angewidert von Gruppenzwang, Intoleranz und den Emotionen der Massen. Er verließ die Hitlerjugend und trat der verbotenen Bündischen Jugend bei. Der Bestrafung entging er durch eine Amnestie anläßlich des Anschlusses Österreichs. Als Soldat beobachtet er 1937 einen Staatsbesuch Hitlers in Stuttgart und schreibt seinen Eltern: "Nur ganz wenigen kommt der Gedanke: Warum überhaupt Krieg ? Die meisten würden blind losmarschieren. Masse. Der Begriff wird mir immer verhaßter."
An der Ostfront in Rußland sehen er und andere spätere Mitglieder der Weißen Rose die Judenpogrome und die Greuel des Vernichtungskrieges der Wehrmacht, die noch heute von manchen Zeitgenossen wütend geleugnet werden. Diese Erlebnisse treiben ihn, seine Schwester und seine Freunde zur Tat, mit archaischen Mitteln und unter völliger Aussichtslosigkeit, dabei Erfolg zu haben.
"Nichts" - schreiben sie im ersten Flugblatt - "ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique 'regieren' zu lassen. Wer von uns ahnt das Ausmaß der Schmach, die über uns und unsere Kinder kommen wird, wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist und die grauenvollsten und jegliches Maß überschreitenden Verbrechen ans Tageslicht treten."
In ihrem sechsten und letzten Flugblatt schreiben sie:
"In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA, SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht. 'Weltanschauliche Schulung' hieß die verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken. Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem sittliche Verantwortung bewußten Staatswesen. (Es folgt der Appell, sich zu entscheiden und danach zu handeln). Und wenn Ihr Euch entschieden habt, dann handelt!"
Es ist ein atemberaubende Gegensatz zwischen der klarsichtigen Beschreibung der herrschenden Verhältnisse einerseits, zwischen dem Mut, das Leben zu riskieren, um sechs Flugblätter zu verteilen, sie in Briefkästen und hier in den Lichthof der Universität zu werfen, und der völligen Aussichtslosigkeit des Unterfangens andererseits, auf diese Weise eine Diktatur zu stürzen. Jeder dieser jungen Leute war und ist eine Anklage gegen die schweigende Masse der Erwachsenen ihrer Zeit, gegen jeden Amts- und Funktionsträger, gegen jeden Mitläufer. Die hatten sich alle eine Rechtfertigung für begeistertes Mitmachen, für ängstliches Mitlaufen, für Schweigen und Wegsehen zurecht gelegt und sie später in den Fragebögen der Entnazifizierungskammern dokumentiert, die die größte Lügensammlung der neueren Geschichte ist.
Ich habe eine sehr genaue Erinnerung an die Jahre vor und nach 1945. Zuvor an die tönenden Reden und grandiosen Masseninszenierungen, an den augenblitzenden Jubel, die achselzuckende Gleichgültigkeit und Zustimmung, mit der man das Schicksal der Menschen mit dem gelben Stern verfolgte und sich ihr Hab und Gut gierig aneignete, wenn sie schließlich verschwunden waren, egal wohin auch immer. Es gab offenbar keine Bedenkenträger, sondern nur Bedenkenlose.
Ich erinnere mich auch sehr genau an die Ängstlichkeit, selbst innerhalb der Familie darüber miteinander zu reden, an die Hohe Schule der Menschendressur bis hin zum kollektiven Jubel im Sportpalast über den totalen Krieg, an die kollektive Gehirnwäsche. Georg Jellinek hatte sie einst in seiner glänzenden Allgemeinen Staatslehre die "normative Kraft des Faktischen" genannt, daß die Menschen nämlich ihre eigenen Maßstäbe allmählich dem herrschenden Wertesystem anpassen, dem sie nicht entkommen können, eine Formulierung, die heute so leichthin zitiert wird und mit der Jellinek die Möglichkeit der staatlichen, kollektiven Gehirnwäsche vorausgesagt und beschrieben hatte.
Manches habe ich erst später verstanden, als ich die Schrift des akademischen Schurken Carl Schmitt "Der Führer schafft Recht" las, mit der Schmitt, glänzender und klassisch gebildeter Jurist, die Morde anläßlich des sog. Röhm-Putsches pauschal und in der Hoffnung rechtfertigte, einst dafür belohnt und Reichsjustizminister zu werden, wobei er sich täuschte.
Nach 1945 erinnere ich mich an die atemlose Geschwindigkeit, mit der die Menschen von einem Tag auf den anderen bedenkenlos verleugneten, was sie zuvor blindlings bejubelt und getan hatten, wie sie sich wiederum anpaßten, sozusagen sich selbst verdrängten und sich nur sehr widerwillig der Wahrheit stellten, daß die Verbrechen und der Völkermord keineswegs "im deutschen Namen", sondern überwiegend von Deutschen begangen worden waren, Verbrechen, die garnicht so geheim waren, wie man später behauptete. Viele wußten durchaus und noch mehr hätten wissen können, was geschah, wenn sie es nur wissen wollten.
Mich beschäftigt seitdem die Frage, wie man diese kollektive Verdrängung fertig bringt, und ob das, was so schnell verdrängt wurde, auch ebenso schnell wieder auftauchen könnte.
Arno Gruen, 1923 in Berlin geboren, verläßt 1936 mit seinen Eltern Deutschland und emigriert in die Vereinigten Staaten. Er nimmt am Krieg teil, studiert später Philosophie und Geschichte bis er zur Psychologie findet, erhielt eine Forschungsprofessur der Neurologie, einen Lehrstuhl an der Rutgers University New Jersey, leitet die psychologische Abteilung einer Kinderklinik in Harlem und kehrt schließlich 1972 nach Europa zurück, nicht nach Berlin, sondern geht nach Zürich und eröffnet eine Praxis als Psychotherapeut. Er schreibt über die Ursachen des plötzlichen Kindstodes, über "Falsche Götter - über Liebe, Haß und die Schwierigkeit des Friedens", über den "Verlust des Mitgefühls - Über die Politik der Gleichgültigkeit" und schließlich über "den Fremden in uns". Er ist selbst ein Opfer der Diktatur gewesen und hatte gleichzeitig den Vorzug, distanziert, von außen beobachten zu können, was sich in Deutschland ereignete. Er bemüht sich um dieselbe Frage, die uns bewegen muß, nämlich wie der kollektive und individuelle Wahn möglich gewesen war, welche menschlichen Kräfte ausgebrochen waren und warum Menschen so schnell die offenbar dünne Schicht durchbrechen, die unsere Zivilisation und Kultur von Barbarei, von unerhörten Grausamkeiten und Brutalitäten trennt, wie es möglich ist, andere Menschen als Fremde aus der Gesellschaft zu verdrängen, sie ihres Menschseins zu berauben, um sie dann ohne Skrupel ausrauben und ausrotten zu können.
"Die einen hassen die anderen, weil sie die anderen sind. Letzteren Haß nennt man Patriotismus" spottete noch Tucholsky. Die Wirklichkeit ließ keinen Raum für Spott. Es ging tiefer. Gruen analysiert in seinem Buch "Der Fremde in uns" die Charaktere des "Führers", man sollte besser "des Anführers" sagen, seiner Gefolgsleute und schließlich auch der gehorsamen Massen. Es gelingen ihm hinreißende Psychogramme. Er beschreibt die Unterwerfung des Kindes unter den Willen der übermächtigen Eltern, von denen es abhängig ist, als einen Prozeß der Abspaltung eines Teils der eigenen Persönlichkeit, der zum Fremden wird und zur Projektionsfläche des Selbsthasses, der sich schließlich in der Außenwelt ein Opfer sucht.
Gruen untersucht die Rolle des Gehorsams und der freiwilligen Knechtschaft in modernen Gesellschaften. Er beschreibt den Gehorsam als Grundlage aller sogenannten Hochkulturen. Er mache es fast unmöglich, die Wahrheit des ganzen Vorganges zu erkennen. Er diene nicht nur dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen, sondern auch seine Taten zu verschleiern. Gruen formuliert: "Gehorsam untermauert Macht. Er macht es unmöglich, die angestaute Wut gegen jene zu richten, die für sie verantwortlich sind." Es ist eine Kernaussage des Autors, daß dieser Mechanismus nicht nur in der staatlichen Orgasnisation wirke, sondern in der Familie beginnt.
Gruen fesselt auch die Leser, die in der Denkweise des Psychologen ungeübt sind. Ich will es mir hier versagen, in eine klappentextartige Rezension auszuweichen. Man muß das Buch lesen. Man mag über die Gewichtung streiten. Man kann sich aber nur schwer dem Grundgedanken Gruens entziehen, welchen maßgeblichen Einfluß die Erziehung und ihre innere Verarbeitung auf die Motivation und Verhaltensweisen der Menschen ausübt. Das wiederholt sich. Der Kriminologe Pfeiffer hat ähnliche Mechanismen bei seinem natürlich heftig und emotional umstrittenen Versuch beschrieben, die Verhaltensweisen von DDR-Bürgern auf die Art ihrer gemeinsamen Kindergartenerziehung zurückzuführen. Waren das nicht soziale Errungenschaften, die nun madig gemacht werden sollen und waren etwa die Kindergärtnerinnen für den Staatssicherheitsdienst verantwortlich, wurde polemisiert.
Es geht bei unseren Fragen nach den ursächlichen Mechanismen nicht nur um ein individuelles Interesse an innerer Freiheit und Selbständigkeit. Es geht um die Freiheitlichkeit unserer Gesellschaft. Das eine geht nicht ohne das andere. Veränderungen, an denen man selbst teilnimmt, bemerkt man manchmal so wenig, wie die Bewegung des Stundenzeigers einer Uhr. Aber er bewegt sich doch. Heute kommen die wohlmeinenden Entmündiger nicht mehr mit den pflasterknallenden Stiefeln der Macht, sondern auf den leisen Sohlen der Beruhigung. Man habe doch, meinte etwa der Bundesinnenminister, den Lauschangriff keineswegs flächendeckend, sondern nur in wenigen Fällen eingesetzt. Waren die Auseinandersetzungen also müßig ? Freilich hätte er hinzufügen müssen, ob er die Beeinträchtigung von Grundrechten eigentlich für eine Frage der Statistik hält.
Es ist von beklemmender Aktualität, daß wir uns in Deutschland wieder mit Haßprojektionen auseinandersetzen müssen, die wir für endgültig überwunden hielten. Ich denke an die Schändungen jüdischer Friedhöfe, deren Täter kaum jemals ermittelt werden, an fremdenfeindliche oder rassistische Menschenjagden von Hoyerswerda bis Solingen, schließlich auch an Überfälle auf hilflose und als asozial erscheinende Menschen. Dabei handeln die Täter häufig nicht aus einer sozialen Notlage. Sie versuchen, ihre eigenen Probleme an den ihnen fremden Opfern auszutragen, deren menschliche Situation ihnen völlig gleichgültig ist. Die gehören zu irgendeiner verhaßten Kategorie, das reicht. Es geht um den eigenen sozialen Status. "Was Menschen krank zu machen scheint", sagt Gruen, "ist das Gefühl, ihr Leben nicht im Griff zu haben. Sie fühlen sich hilflos und machtlos. Das bedeutet erhöhten Streß. Menschen wie die Nazis versuchten, die Sicherheit auf halluzinatorische Weise wieder herzustellen. Das tun auch diejenigen, die heute Fremde hassen, foltern, gewalttätig, sind." Dabei beobachten wir nicht nur das billigende Wegsehen vieler Zuschauer, sondern auch das ängstliche Verharmlosen dieser Vorgänge bis hin zu ihrer schlichten Verleugnung durch die eigentlich zum Handeln verpflichteten kommunalen Würdenträger oder sonstigen Erwachsenen, ein kardinaler Fehler gegenüber der Gewalt, der nicht mit Verständnis, sondern mit Konsequenz entgegengetreten werden muß.
Gruen diagnostiziert zutreffend, daß jede Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in Zeiten der Erneuerung als Bedrohung empfunden wird. "Wenn dieser äußere Rahmen zu zerbrechen droht, weil autoritäre Strukturen, die Beziehungen, Bräuche und Sitten regeln, nicht mehr halten, dann suchen die sich selbst entfremdeten Menschen dort Zuflucht und Sicherheit, wo sie Autorität zu finden glauben oder wo sie ihnen versprochen wird."
Mir erscheinen die Aktionen, die Bund und Länder bisher zur Bekämpfung rechtsradikaler oder fremdenfeindlichen Straftaten insbesondere in den neuen Bundesländern ergriffen haben, als halbherzig und unbefriedigend. Sie befassen sich viel zu wenig mit den eigentlichen Ursachen, die man nicht mit der Polizei beheben kann. Darum bleibt es bisher bei der völlig unzureichenden Jugendarbeit in zahllosen Kommunen Ostdeutschlands, die weder finanziell noch personell in der Lage sind, das aufzufangen, was die Eltern der Täter nicht leisten können, was sie versäumt oder bewirkt haben. Die waren selbst zum Haß gegen das kapitalistische System des Westens erzogen worden, dessen Wirklichkeit sie gleichzeitig täglich im Fernsehen bewundern konnten, und sie hatten selbst keine Chance gehabt, die Konfliktbewältigung in einer demokratischen Gesellschaft zu erlernen. Was also sollten sie ihren Kindern weitergeben ? Worüber wundern wir uns also?
Ich sehe mit großem Unbehagen, wie leicht es anscheinend im ganzen Bundesgebiet geworden ist, Ausländer in die Nähe polizeirechtlicher Kategorien, also der generellen Gefahrenabwehr zu rücken, sie zu verdaten, ihre biometrischen Merkmale in die polizeilichen Dateien einzustellen, sie auszuweisen und abzuschieben, auch ohne daß eine von ihnen ausgehende Gefährdung gerichtlich festgestellt worden ist. Schon fordert ein demokratischer Abgeordneter, innenpolitischer Sprecher der zweitgrößten Bundestagsfraktion, extremistische Ausländer ohne richterliche Entscheidung in Gefängnissen und leerstehenden Kasernen unterzubringen, so lange wie nötig. Kein Mitglied dieser Fraktion weist ihn in die Schranken schlichter Vernunft. Machen wir uns eigentlich noch Gedanken darüber, was die Ausweisung für jemanden bedeutet, der hier geboren und aufgewachsen ist oder der hier seine Lebensarbeitskraft investiert hat, mit unserem Wissen und Wollen ?
Immer wieder haben Fremde und Ausländer in nationalen Wahlkämpfen als Gefahr und Bedrohung herhalten müssen, bis hin zur Wortwahl, als man, das muß ich leider aussprechen, für politische Flüchtlingen aus außereuropäischen Ländern bewußt die Bezeichnung "Asylant" einführte. Ich fürchte, daß auch die Debatten um ein Zuwanderungsgesetz unter die Räder des kommenden Wahlkampfes geraten werden. Möglicherweise bleibt uns das Äußerste wenigstens durch die Tatsache erspart, daß die Zuwanderung in unserem eigenen ökonomischen Interesse an der zu erwerbenden Arbeitskraft und Intelligenz liegt und die Wirtschaft das laut und unüberhörbar vorträgt.
Theodor Heuß hat einmal gesagt: "Die äußere Freiheit der Vielen lebt von der inneren Freiheit des Einzelnen." Das heißt umgekehrt, daß gesellschaftliche Freiheit nicht denkbar ist ohne individuelle Freiheit und ohne den Willen und die Fähigkeit des Einzelnen, als freier Mensch zu leben, und nicht ohne seinen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Man darf sein Verhalten nicht danach einrichten, ob man persönlich betroffen wird oder nicht. Wer mehr Sicherheit durch neue Kontrollmechanismen erwerben will, von denen er glaubt, nicht selbst betroffen zu werden, der begeht politische Zechprellerei.
Natürlich leben wir heute nicht mehr in einer Diktatur. Aber wir wissen, wohin und wie schnell die Reise gehen kann, wenn die liberalen Elemente einer Verfassung ausgehöhlt werden. Wir sind gewarnt. Aber machen wir etwas aus diesem Wissen ? Treten wir entschlossen genug ein für persönliche Freiheit und Selbstbestimmung, für die Freiheitlichkeit unseres Staates für Humanität und gegen jede totalitäre Anmaßung ?
Was können wir tun ? Gruen fordert - und das ist von seinem Ansatz her konsequent - in der Familie zu beginnen, den Kindern mehr Freiräume zu schaffen, sich selbst zu entwickeln, ihre Phantasie, ihre Kreativität zu fördern, sie nicht zu unterwerfen, sondern sie anzuregen. Das sind die Stellen seines Buches, die man insbesondere den vielbeschäftigten Vätern auf den Tisch legen sollte, die als Politiker, Unternehmer, als was auch immer dem Erfolg nachjagen, der Macht, die sozusagen die Welt retten wollen und darüber die Welt der eigenen Kinder vergessen oder sie mit ihren Maßstäben erdrücken.
Eine freie Gesellschaft braucht innerlich freie Menschen. Wenn wir dem Vermächtnis der Geschwister Scholl gerecht werden wollen, dann müssen wir uns den Maßstäben stellen, die sie auch für uns verbindlich gemacht haben. "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit", heißt es in ihrem fünften Flugblatt, "den ihr um eure Herzen gelegt habt !"
Arno Gruen gibt uns mit seinem Buch neue Anstöße zu erkennen, was war und was getan werden kann. Das ist sein Verdienst und dafür gratulieren wir ihm zu dem Preis, den er heute erhalten wird.
Burkhard Hirsch, München 12.11.2001
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Arno Gruen
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Mitglieder des Preis-Komitees,
sehr geehrter Herr Rektor, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Frau Vorsitzende, sehr geehrter Herr Hirsch,
ich werde mich kurz fassen. Ich fühle mich stolz und geehrt, heute den Geschwister-Scholl-Preis zu erhalten.
Für mich waren Sophie und Hans Scholl und ihr Freundeskreis immer außergewöhnliche Beispiele für Menschen, die aus ihrem Herzen heraus das Menschsein zum Kern ihres Seins machten. Ihr grundsätzliches Vertrauen zum Menschsein entsprang nicht ideologischen Ursachen, sondern kam aus tieferen Quellen ihres Mitgefühls sowie ihres Gefühls für Gerechtigkeit und Würde.
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Sie waren wahre Helden, die aus sich heraus und ohne äußere Unterstützung kämpften. Ihre Unruhe kam, wie die von Primo Levi, aus der Scham, dass es Menschen waren, die das Ungeheure erdachten und ausführten und die damit das Vertrauen von Mensch zu Mensch zunichte machten.
Auch heute, vielleicht mehr denn je, sind wir gefragt, dieses Vertrauen aufrecht zu erhalten, in einer Welt, in der Hass und die Ketten eines materiellen Überflusses für manche dazu führen, das Leiden anderer nicht mehr wahrzunehmen. In einer Welt, in der die Maschinerie der Image-Fabrikanten in Politik und im allgemeinen gesellschaftlichen Leben zur bestimmenden Wirklichkeit erhoben wird, sind der Verlust des Selbst und der Tod der Liebe nicht mehr zu erkennen. Nur die Jagd nach Ruhm und der globalisierte Hass sind zur Stütze des Lebens geworden.
Wir brauchen heute Menschen wie Sophie und Hans Scholl. Um die Aussage eines ihrer Flugblätter mit ihren eigenen Worten zu umschreiben: Man kann sich mit dem gängigen Ethos über Krieg, Rache und Eroberung nicht geistig auseinander setzen, weil es ungeistig ist. Die Sprache, die von Krieg und Vergeltung spricht, mag sich geistig gesund anhören. In ihrer Ignoranz von Ohnmacht, Elend und Demütigung ist sie jedoch völlig von wahren Gefühlen und der tatsächlichen Realität getrennt.
Was uns im Grunde vor Augen geführt wird, sind Macht und Größe als Ersatz für wahre menschliche Beziehungen. Aber es geht darum, für die wirklichen Bedürfnisse der Menschen zu kämpfen, wirkliches Elend, wirkliche Armut und die Ausgrenzung und Entwürdigung von ganzen Bevölkerungsgruppen zu unterbinden. Nur so werden Terror und Gewalt Einhalt geboten. Nur so werden wir es möglich machen, ein Leben, das demokratisch und lebendig ist, aufrecht zu erhalten.
Arno Gruen, München 12.11.2001
Es gilt das gesprochene Wort.
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