Raul Hilberg wurde am 2. Juni 1926 in Wien geboren. 1939 flüchteten seine Eltern mit ihm vor dem nationalsozialistischen Terror nach Nordamerika. Dort studierte er u.a. bei dem Politikwissenschaftler und Juristen Franz Neumann, der aus Berlin hatte fliehen müssen. 1945 kam Hilberg als amerikanischer Soldat nach Deutschland und entdeckte in München die in Kisten verpackte Privatbibliothek Hitlers. Dieses Erlebnis stand am Beginn einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus.
Raul Hilberg hat eines der wenigen Standardwerke über den Holocaust geschrieben, das in einer dreibändigen Fassung im Fischer Taschenbuch Verlag unter dem Titel "Die Vernichtung der europäischen Juden" vorliegt. Er veröffentlichte im S. Fischer Verlag das Buch "Täter, Opfer, Zuschauer" und seine Autobiographie "Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers". 1999 erhielt er für sein Lebenswerk den Marion-Samuel-Preis der "Stiftung Erinnerung". Raul Hilberg starb am 4. August 2007.
Preisträger 2002
Raul Hilberg
Die Quellen des Holocaust
aus dem Amerikanischen von Udo Rennert
S.Fischer Verlag
Frankfurt am Main 2002
ISBN: 3-10-033626-7
Autor
Begründung der Jury
"Die Jury empfiehlt, den Geschwister-Scholl-Preis 2002 an das Buch "Die Quellen des Holocaust" von Raul Hilberg zu vergeben. Dieses Buch verdient den Preis nicht zuletzt für seine nonkonformistische Strenge: Es zeigt Fachleuten wie Laien, wie seriöse historische Forschung zur Judenvernichtung in allen ihren Aspekten heute auszusehen hat. Ein elementar aufklärendes Buch wie dieses gehört zur Grundausstattung etwa von Schulbibliotheken, um zur selbständigen Forschung anzuregen.
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Das Buch "Die Quellen des Holocaust" ist Teil eines enormen Lebenswerks, das der Erforschung des europäischen Judenmords galt und die Grundlagen für alle spätere Befassung mit diesem Thema legte. Ebenso minutiös wie umfassend untersuchte Hilberg die Organisationsformen und Stufen des Vernichtungsprozesses, die bürokratische Dynamik und die moralische Enthemmung. Erst durch Hilbergs nüchterne Erkenntnisleistung konnte der Holocaust aus einem Gegenstand fassungslosen Entsetzens zum Ausgangspunkt einer wirksamen moralischen und rechtlichen Neuorientierung - nicht zuletzt in den internationalen Beziehungen - werden. Der Preis soll an eine Forscherpersönlichkeit mit sperrigem, eigenwilligem Charakter gehen - Raul Hilberg hielt gegen vielfache Widerstände im akademischen Milieu und in der Öffentlichkeit an seinem wissenschaftlich-moralischen Anliegen fest. Diese Unbeirrbarkeit sollte gerade im deutschen Sprachraum endlich die verdiente Anerkennung finden."
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Verleihung
Am 02. Dezember 2002 nahm Raul Hilberg in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Rosemarie von dem Knesebeck, Vorsitzende des Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen e.V. (ehemaliger Name des Verbandes bis 2003), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio bei der Preisverleihung hielt der Historiker Hans Mommsen.
Laudatio von Hans Mommsen
Die diesjährige Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises an Professor Raul Hilberg geht von seinem jüngsten Buch über „Die Quellen des Holocaust“ aus, in dem der Nestor der Geschichtsschreibung des „Holocaust“ den Leser mit der Vielfalt und Eigenart der überlieferten Dokumente und Artefakten vertraut macht, die für die Aufschlüsselung des komplexen und sensitiven Gegensandes relevant sind. Die Preisverleihung stellt zugleich eine späte öffentliche Anerkennung der hervorragenden Verdienste dar, die sich Hilberg in jahrzehntelanger entsagungsvoller Arbeit für die Erforschung des „Holocaust“ erworben hat.
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Mit Recht gilt seine umfassende Darstellung der „Vernichtung der europäischen Juden“, zusammen mit seiner 1990 in Deutschland erschienenen Studie über „Täter, Opfer und Zuschauer“, nach wie vor als unentbehrliches Standardwerk. Trotz der immensen Fülle an einschlägiger Literatur, die seit der ersten Drucklegung von 1961 erschienen ist und in den Neuauflagen Berücksichtigung fand, stellt Hilbergs Werk eine bis heute unübertroffene Synthese der vielfältigen Aspekte, Schauplätze und Aktionszentren des Holocaust dar.
Den Anstoß, sich mit der Geschichte des Holocaust zu befassen, empfing Hilberg, dessen Familie 1939 über Kuba in die USA ausgewandert war, in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs. Damals war er als amerikanischer Soldat in München stationiert, und er spürte im Braunen Haus Teile der Privatbibliothek Adolf Hitlers auf. Als er 1948 das Studium am Brooklyn College in New York aufnahm, besuchte er auch Vorlesungen von Hans Rosenberg zur Geschichte des preußischen Beamtentums, ein für ihn faszinierender Gegenstand. Er setzte sein Studium an der Columbia University fort und stieß dort 1948 auf Franz Neumann, dessen Buch „Behemoth“, das die erste umfassende Darstellung des NS-Herrschaftssystems darstellte und ihn nachhaltig beeinflusste. Neumann ermutige ihn zu seinem Vorhaben, eine Magisterarbeit zum Thema „Die Rolle des deutschen Beamtentums bei der Judenvernichtung“ abzufassen, und ebenso stimmte er Hilbergs ehrgeizigen Dissertationsprojekt über „Die Vernichtung der europäischen Juden“ zu.
Hilberg war mit seinem Interesse am Holocaust ein völliger akademischer Außenseiter. Wie er in seinen mit „Unerbetene Erinnerung“ überschriebenen Memoiren berichtet, verschwieg ihm Franz Neumann nicht, dass er mit einer Dissertation zu diesem Gegenstand schwerlich Chancen für eine akademische Karriere haben werde. Das sollte sich weitgehend bewahrheiten. Wären nicht die außergewöhnliche Zähigkeit und das Durchhaltevermögen gewesen, die Hilberg an dem einmal eingeschlagenen Ziel festhalten ließen, hätte er wohl kaum akademisch reüssiert. Zwar vermittelte ihm Neumann 1951 eine Mitarbeiterstelle an dem damals von Fritz Epstein geleiteten Projekt zur Erschließung der beschlagnahmten deutschen Akten in Alexandria, aber sie lief rasch wieder aus. Die Lehrtätigkeit, die er an verschiedenen Orten, so im Hunter College in New York oder in Puerto Rico, aufnahm, war mit einem nur kärglichen Einkommen verbunden. Der Unfalltod Neumanns beraubte ihn seines Doktorvaters, doch gelang es ihm, mit einem Teilmanuskript der Dissertation an der Columbia University zu promovieren und 1955 eine Professur an der Universität Vermont in Burlington im Fach der Politischen Wissenschaft zu übernehmen.
Als Hilberg daran ging, die Geschichte des Holocausts systematisch zu erforschen, arbeitete er in mehrerer Beziehung gegen den Strom. Zu Beginn der 50er Jahre neigten fast alle Überlebenden, auch die jüdischen Verbände in den USA, sowie die internationale historische Forschung dazu, die Erinnerung an den Holocaust herunterzuspielen, ja zu verdrängen. Dies erscheint in Anbetracht der inzwischen international entfalteten Holocaustforschung schwer begreiflich, doch herrschte noch in den 60er Jahren die Tendenz vor, die Massenmorde an den Juden in Forschung und Publizistik zu verschweigen. Auch die deutsche Geschichtswissenschaft befasste sich nahezu ausschließlich mit der Judenverfolgung vor 1939.
Ohne fachliche Beratung, allein auf sich angewiesen, lebte Hilberg, seinem eigenen Bericht zufolge, „in einer geschlossenen Welt, in der ich mit meinen Dokumenten und der daraus aufsteigenden Geschichte allein war“. Gleichzeitig bürdete er sich mit dem Projekt eine ungeheure Arbeitslast ohne jede fremde Unterstützung auf, indem er sich als erster den weithin noch unerschlossenen Dokumentenserien in den Nürnberger Prozessunterlagen und den deutschen Akten zuwandte. Nach dem unerwarteten Unfalltod Neumanns ohne aktiven Förderer, reichte er schließlich 1955 gut ein Fünftel des bis dahin fertiggestellten Manuskripts der Columbia University als Dissertation ein, die dann mit dem Preis für die beste Arbeit in den Humanities bedacht wurde, der mit einer Veröffentlichungszusage gekoppelt war.
Doch nach diesem bemerkenswerten Erfolg begann die Odyssee des umfangreichen Manuskriptes erst recht, indem Columbia University Press dessen Veröffentlichung nicht nur von zusätzlichen Subventionen, sondern auch von auswärtigen Gutachten abhängig machte. Die hoffnungsvollen Schritte zur Finanzierung der Drucklegung wurden jedoch abrupt zunichte gemacht, als 1958 eine ablehnende Stellungnahme von Yad Vashem einging, die wegen Hilbergs kritischer „Einschätzung des aktiven und passiven jüdischen Widerstandes“ massive Bedenken gegen eine Veröffentlichung geltend machte und eine Beteiligung an der Drucklegung ablehnte. So kam es schließlich mit Hilfe privater Förderer zu der wenig ansehnlichen Publikation von Hilbergs „The Destruction of the European Jews“ in Quadrangel Books in Chicago, nachdem sowohl Columbia University Press als auch Princeton University Press abgewinkt hatten. Bei letzterer hatte Hannah Arendt ein negatives Gutachten erstattet, obwohl sie doch Hilberg, so wenig sie ihn in „Eichmann in Jerusalem“ direkt zitiert hatte, wichtige Informationen verdankte.
Dass im Zusammenhang mit der polemischen Welle gegen Hannah Arendt auch Hilberg zum bevorzugten Ziel zionistischer Kritik wurde, ist bereits angedeutet worden. Ein Nachdruck seiner Arbeit erschien 1973 bei Franklin Watts in New York, eine revidierte Neuausgabe erst 1985. Nicht weniger deprimierend verlief die Bemühung um eine deutsche Übersetzung. Zwar hatten Droemer/Knaur schon 1963 die deutschen Rechte erworben und bereits Teile des Manuskripts für den Druck vorbereitet; aber Ende 1965 lehnte der Verlag die Publikation mit der Begründung zurück, dass Hilbergs These von der „Kollaborationsbereitschaft“ der Juden innenpolitisch zu gefährlich sei und von rechtsextremen Strömungen ausgeschlachtet werden würde. Das waren offensichtlich vorgeschobene Argumente. Ähnliches wiederfuhr ihm bei einer Reihe weiterer deutscher Verlage, bis schließlich der Außenseiter Olle und Wolter 1982 eine deutsche Übersetzung herausbrachte, ohne allerdings damit als Verleger zu reüssieren.
Somit war es das Verdienst des langjährigen Leiters des zeitgeschichtlichen Lektorats des S. Fischer Verlages, Walter Pehle, diese traumatische publizistische Barriere gegen die Verbreitung von Hilbergs Werk, die in Israel bis heute anhält, durchbrochen zu haben. Die Herausgabe der „Vernichtung der europäischen Juden“ von 1990 und des Bandes „Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945“ von 1992 machte das wissenschaftliche Oeuvre Hilbergs einem breiten Publikum bekannt und beendete eine skandalöse Phase der Einschränkung der Publikationsfreiheit in der Bundesrepublik. Zuvor hatte Hilberg 1981 die spektakuläre Studie über „Sonderzüge nach Auschwitz“ veröffentlicht, die der Rolle der Deutschen Reichsbahn im Vernichtungsprozess nachging.
Gemessen daran, dass die Grundlagen für Hilbergs Gesamtanalyse in den 50er Jahren gelegt waren, überrascht deren abgesehen von Einzelfragen bis heute fortbestehende Gültigkeit. Damals war sie jedoch ihrer Zeit voraus. Sie unterstellte nicht, wie dies in der parallel entstandenen Darstellung von Gerald Reitlinger und Lucy Davidowicz’ 1975 erschienenem Werk „The War Against the Jews“ der Fall war, eine von Anfang an bestehende Absicht Hitlers und der NS-Führung, die Juden physisch zu vernichten. Frühzeitig erkannte er, dass Hitler, obwohl „der leitende Architekt der jüdischen Katastrophe“, es vermied, mit einen umfassenden zentralen Befehl hervorzutreten. Die durch den Diktator auf den Weg gesetzten Apparate erfüllten diese Funktion, ohne dass es der ausdrücklichen zentralen Befehlsgebung bedurfte.
Hilberg hat den methodischen Einfluss Franz Neumanns, dessen Werk „Behemoth“ tiefen Eindruck auf ihn machte, nie verleugnet. Der Zugang zu den damals noch von keiner Seite ausgewerteten Akten bestärkte ihn in der Neigung, das Schwergewicht seiner Forschung auf die Auswertung der amtlichen Akten, erst in zweiter Linie auf die Zeugnisse von Überlebenden zu legen. Bei der Analyse der Vernichtungspolitik des Regimes folgte er einem systematischen Ansatz, der einerseits die einzelnen Stufen von der Definition, der Enteignung, der Konzentration und schließlich der Vernichtung der auszugrenzenden jüdischen Bevölkerung, andererseits das Zusammenwirken der für sich autonom vorgehenden Hierarchien der Ministerialbürokratie, der Wehrmacht und der Partei in einem Prozess arbeitsteiliger Vernichtung herausarbeitete. Die antisemitische Motivation, die in erster Linie vom Parteiapparat vorangetragen wurde, stellte einen notwendigen Antriebsfaktor dar. Der administrative Apparat gewann aus dieser Sicht eine eigene Schwerkraft und entfaltete dieselben Stufen der Verfolgung auch in den vom Reich okkupierten Ländern. Der einmal in Gang gebrachte Prozess trieb mit innerer Logik auf die Vernichtung hin, auch wenn ihm kein von vornherein festgelegter Plan zu Grunde lag und der Gedanke der Massenvernichtung erst 1941 reale Züge annahm.
Dieser spezifische Ansatz erlaubte es Hilberg, den komplexen Vorgängen, die im Begriff des „Holocaust“ zusammengefasst werden, eine gewisse innere Folgerichtigkeit beizulegen und als einheitlichen Prozess zu schildern. Im Unterschied zu den gegen Juden gerichteten „wilden Aktionen“ der Partei in den Anfangsjahren des Regimes, war es die Bürokratie, die der Verfolgung innere Systematik und Effizienz verlieh. Diese Sicht der Dinge besaß eine deutliche Affinität zu der funktionalistischen Schule, die ebenfalls die Bedeutung vergleichsweise zweckfreier bürokratischer Mechanismen für die Eskalation der Vernichtung hervorhob. Prompt wurde auch Hilberg vorgeworfen, „die Delegation von Verantwortlichkeit in einem arbeitsteilig organisierten Vernichtungsprozess“ vorgenommen, d.h. die individuelle Verantwortlichkeit der Täter verdeckt und diese zu weitgehend „willenlosen Werkzeugen von Strukturen“ gemacht zu haben. In seinem frühen Werk, so wurde argumentiert, seien die Täter „allenfalls schemenhaft sichtbar“, und seine Betonung der „arbeitsteiligen Täterschaft“ führe zu einer Minimierung des „Unrechtsbewusstseins“. Hilberg urteilte jedoch aus einer umgekehrten Perspektive heraus, wonach jeder, der den mit den Holocaust befassen bürokratischen Apparaten angehörte, an der Gesamtverantwortung teilnahm und die Einbindung in den Apparat das geschehene Unrecht nicht minderte.
Hilbergs umfassende Darstellung hob sich durch die Zentrierung auf die Täter oder doch die administrativen Prozesse, die zum systematischen Genozid führten, vom Hauptstrom der Fachliteratur zum Holocaust ab, der weithin auf die Opfer ausgerichtet war. In seinem Erinnerungsbuch hat Hilberg selbst eingeräumt, dass er sich mit seinem „ganzen Ansatz“ gegen den Hauptstrom jüdischen Denkens gerichtet hätte, das die Opfer als Ausgangspunkt gewählt und den „heldenhaften“ Charakter ihres Sterbens betont habe. Er wehrte sich jedoch gegen die Tendenz zu deren moralischen Überhöhung durch die Betonung ihres Selbstbehauptungswillens, welche die tatsächliche Hoffnungslosigkeit ihres Schicksals verdeckte. Als Herausgeber des Tagebuchs von Adam Czerniakow war er jahrelang unmittelbar mit der alltäglichen Erfahrung der Ausweglosigkeit der Existenz in den Ghettos konfrontiert.
Im Unterschied von der seinerzeit gängigen Literatur konzentrierte sich Hilberg bei der Rekonstruktion der einzelnen Phasen des Vernichtungsprozesses auf die Auswertung der beschlagnahmten deutschen Akten und der übrigen erhaltenen Dokumente, während er die Zeitzeugenaussagen mit quellenkritischer Skepsis betrachtete. Notwendigerweise traten die Opfer, über deren individuelles Schicksal in den Ghettos und den Lagern nur unzureichende Quellen überliefert wurden, bei der Schilderung des Vernichtungsprozesses eher beiseite. Das trug ihm die weit überzogene Polemik von Arno Lustiger ein, er habe die Opfer „in das gemeinsame Grab des Verschweigens und Vergessens“ verbannt und die Toten mit „Tonnen von Akten der Mörder“ und „Tausenden von Fußnoten“ zugedeckt. Die bittere Wahrheit aber ist, dass der Vernichtungsprozess, wie das Schicksal von Anne Frank eindrücklich macht, die Individualität der Opfer unwiederbringlich zerstörte.
Zu der Kontroverse über die fehlende Opferperspektive trat die Auseinandersetzung über die Funktion der Judenräte und die Rolle der jüdischen Widerstandsbewegung. Diese Frage zog breitere öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, nachdem Hannah Arendt sie in ihrem umstrittenen Bericht „Eichmann in Jerusalem“, gestützt auf die Darstellung Hilbergs, aufgegriffen hatten. Dieser führte das Bestreben der jüdischen Opfer, den nationalsozialistischen Zugriff durch Anpassung zu unterlaufen, statt offenen Widerstand zu leisten, auf lange zurückreichende jüdische Überlebensstrategien zurück, die gegenüber klassischen Pogromen erfolgreich sein konnten, aber im Verhältnis zu dem bürokratischen Charakter der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wirkungslos waren. Desgleichen lautete sein Urteil über die Mehrheit der Judenräte negativ, da sie sich nicht nur zu Erfüllungsgehilfen der Vernichtungsbürokratie gemacht, sondern auch Ansätze zu aktiven Widerstand vielfach unterbunden hätten. Hilberg stellt die tödliche Pression, die auf die Mitglieder der Judenräte von der deutschen Besatzung ausgeübt wurde, und den immer geringeren Handlungsspielraum, der ihnen eingeräumt war, in endrucksvoller Weise dar, kommt aber zu dem Eingeständnis, dass ohne sie der Vernichtungsprozess vermutlich weniger reibungslos verlaufen wäre.
Die Auffassung Hilbergs von der Rolle der jüdischen Organisationen ist vor allem von israelischen Historikern nachdrücklich bestritten worden – den Anfang machte der Harvarder Sozialhistoriker Oscar Handlin, der in der Zeitschrift Commentary von einer „pietätlosen Verunglimpfung der Toten“ sprach. Ihm folgten Arno Lustiger und eine große Zahl von jüdischen Kommentatoren, die im Zusammenhang mit Hannah Arendts "Eichmann in Jerusalem“ der Kontroverse eine breite und vielfach polemisch geprägte Öffentlichkeit verschafften. Heute schält sich eine vermittelnde Linie heraus, indem Jehuda Bauer die Feststellungen Hilbergs über die Rolle der Judenräte zwar nicht direkt bestreitet, aber die amida, den unbewaffneten Widerstand und Willen zur „Heiligung des Lebens“ gleichwertig neben die militärischen Aktionen von Juden gegen die Unterdrücker stellt. Andererseits setzt sich auch bei israelischen Historikern schrittweise die Einsicht durch, dass es verfehlt wäre, die aktiven jüdischen Untergrundkämpfer mit der Masse derjenigen gleichzusetzen, die niemals kämpften.
Von deutschen Historikern wurde Hilberg vorgehalten, er sei „einem amorphen Täterbegriff“ verhaftet. Die Täter seien bei ihm „allenfalls schemenhaft sichtbar“ geworden. Indessen sind Vorwürfe dieser Art nach seiner Darlegungen in seinem Buch „Täter, Opfer und Zuschauer“ nicht plausibel, denn dort legte er eine Typologie der Täter vor, wenngleich sie aus seiner Sicht austauschbar waren. Er lehnte es ab, einen speziellen Tätertyp zu postulieren, und betonte demgegenüber, dass sich die mit dem Vernichtungsprozess befassten Bürokraten „in ihrer moralischen Gesinnung nicht vom Rest der Bevölkerung“ unterschieden hätten: „Der deutsche Täter war kein besonderer Deutscher“. Den Antrieb zur Eskalation der Verfolgung erblickte er primär in der Dynamik der beteiligten bürokratischen Apparate und deren Rivalität.
Im Unterschied zur gegenwärtig modisch gewordenen Täterforschung, die auf spezifische ideologische Vorprägungen während der 20er Jahre abstellt, ist Hilbergs auf breitester Quellenkenntnis beruhende Typologie der „Rationalisierungen“, damit der Rechtfertigungen bürokratischen Handelns, wesentlich hilfreicher, um die relative Homogenität des Verhaltens der Vollstrecker und das fast völlige Fehlen von Verweigerungsversuchen zu erklären. Die damit verknüpfte Einübung von Euphemismen zur Umschreibung des Mordhandelns, die den inneren Behördenverkehr auszeichnet, sieht er jedoch auch bei den Opfern wirksam, die um der Erhaltung ihrer Identität willen die tödliche Wahrheit der nationalsozialistischen Vernichtungsabsicht nicht unmittelbar einzugestehen in der Lage waren.
Die von Hilberg vorangetriebene systematische Erweiterung der Quellenbasis blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Einschätzung der Täter. Neigte er ursprünglich dazu, dem intentionalistischen Faktor entscheidendes Gewicht einzuräumen, so modifizierte er auf Grund seiner unter dem Titel „Sonderzüge nach Auschwitz“ 1981 veröffentlichten Studie über die an den Deportationen in die Vernichtungslager verantwortlich beteiligten Eisenbahnbeamten sein Bild von der Mitwisserschaft und der Mentalität der Vollstrecker und nahm damit die Ergebnisse der bekannten Analyse Christopher Brownings über das Hamburger Polizeibataillon 101 vorweg. Er wandte sich stets gegen Versuche, die Täter zu dämonisieren, betrachtete sie als gewöhnliche Deutsche, die in den bürokratischen Abläufen, in die sie sich eingebunden fühlten, die Fähigkeit einbüßten, sich der Zumutung des Massenmordes zu entziehen. Als strenger Beobachter nimmt er die nichtdeutschen Kollaborateure, die nichtdeutschen Regierungen einschließlich der Neutralen und des Vatikans und selbst die Führer der jüdischen Organisationen von der Kritik nicht aus, angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe zumindest geschwiegen zu haben.
Der Vorwurf mangelnder Anschaulichkeit, den man Hilbergs „Die Vernichtung der europäischen Juden“ analog zu funktionalistischen Interpretationen gemacht hat, ist angesichts der vielen so anschaulichen Fallbeispiele in seiner jüngsten Publikation zu den „Quellen des Holocaust“, aber auch dem vorausgehenden Essay über „Täter, Opfer und Zuschauer“ nicht eben überzeugend. Er hat indessen einen wahren Kern, der auf die Kritiker zurückfällt. Denn es ist Wunschdenken, einen komplexen und schicksalhaften Prozess wie den der Ermordung des Judentums in Europa mit den personalistischen Kategorien einer idealistisch beeinflussten Geschichtsschreibung erklären und vor allem umfassend darstellen zu können. Hilberg deutet, indem er den Begriff der „kollektiven“ Tätermotivation einführt, an, dass dies ein Irrweg ist, und seine detaillierte Schilderung eines bürokratisch überformten und arbeitsteiligen Gesamtprozesses verweist auf einen weit umfassenderen Erklärungszusammenhang, dem gleichwohl nicht unterstellt werden kann, individuelle Schuld zu eskamotieren und auf diesem Wege einer Exkulpation der Einzelnen die Hand zu reichen.
Statt eine fortschreitende Sublimierung der Ursachenanalyse durch biographische Einzelforschung voranzutreiben, gibt Hilberg, was die weitere Forschung angeht, sowohl der Einordnung in breitere Kontexte, so der Ostsiedlungsprogramme Himmlers und der Einbeziehung anderer Verfolgtengruppen, als auch der Intensivierung der Regionalstudien – zuletzt mit den unentbehrlich gewordenen Untersuchungen von Götz Aly, Dieter Pohl, und Hanns-Heinrich Wilhelm – den Vorzug. Sein jüngstes Buch ist ein Plädoyer für die unermüdliche Fortsetzung der Forschung, deren Hauptgewicht er der Erschließung bislang nicht hinreichend berücksichtiger Akten und Artefakten beimisst, während er den Quellenwert serieller Videoaufzeichnungen von Überlebenden geringeres Gewicht beimisst und für klassische historische Arbeitsweisen eintritt. Er bleibt damit seiner Ausgangslage treu, die von dem Willen zu objektiver Quellenerhebung geprägt und falschen Popularisierungen widersteht.
Als ich 1978 Gelegenheit hatte, auf einer Tagung der Jewish-Christian Society in San José einen Vortrag von Raul Hilberg zu hören, stand er unter dem Eindruck der unerhörten Verbrechen des NS-Regimes und dem Wissen darum, dass nicht, wie man damals in Deutschland immer noch glauben machen wollte, eine kleine fanatisierte Clique von nationalsozialistischen Gewalttätern den Vernichtungsprozess in Gang gesetzt hatte, sondern dass große Teile des deutschen Volkes als Täter oder Zuschauer Schuld auf sich geladen hatte. Es fiel ihm auch damals immer noch schwer, Deutschland aufzusuchen und zumal zu den Angehörigen der älteren Generation ein normales Verhältnis zu gewinnen. Es waren wohl die jüngeren deutschen Historiker, die er in seiner „unerbetenen Erinnerung“ erwähnt, aber auch die Einsicht in die komplexe Motivlage der Mitlaufenden, zugleich das unbestreitbare Interesse gerade der nachwachsenden Generationen in Deutschland, sich mit der Geschichte des Holocaust zu befassen, die ihn dazu bewogen, den emotionalen Gegensatz zu diesem Lande zu hintanzustellen. Dass nicht das Wegsehen, sondern das Hinsehen befreiende Wirkung hat, bewährte sich auch in persönlicher Beziehung, und dies gibt uns die Ehre und Genugtuung, Raul Hilberg für seine Lebensleistung zu danken und dies mit der Verleihung des GeschwisterScholl-Preises zum Ausdruck zu bringen.
Hans Mommsen, München 02.12.2002
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Raul Hilberg
Zweierlei Widerstand
Ich habe gegrübelt, worüber ich heute Abend in meiner Danksagung sprechen könnte, und in diesen Überlegungen drängte sich ein einziger Gedanke voran: die Bedeutung des Widerstandes. Zwei blasse Leichen junger Leute, die hier ihr Leben ließen, kamen mir nicht aus dem Sinn. Mit ihnen ist der Geschwister-Scholl-Preis verbunden, und das ist das Thema, das jedes andere verdrängt.
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Nun bin ich von Haus aus Akademiker und fragte mich immer wieder, aus welchen Erwägungen in der damaligen Zeit irgendein Widerstand überhaupt zu Stande kam. Eines wissen wir: Die Teilnehmer waren sich im Klaren, was sie zu tun hätten, und das ist überall bemerkbar, von der Atlantikküste bis zur Front in Russland, doch gab es in diesen Strömungen zwei grundverschiedene Gruppen. Die einen hatten naheliegende Ziele und erhofften einen praktischen Erfolg. Die anderen blickten in die weiteste Ferne und achteten auf ein inneres Gebot.
Die Praktiker wählten wirkungsvolle Handlungen, wie etwa die Sabotage oder einen Streik, eine Zermürbung der Besatzung oder die Aufrechterhaltung der eigenen Kraft im Kampf mit dem Feind. Längst bekannt in dieser Gruppe sind uns die Partisanen. Oft wurden sie von den Alliierten unterstützt und sogar als einen Teil der Kriegsführung hinter den deutschen Linien betrachtet. Zuletzt beherrschten sie manche Gebiete mit Feldern und Dörfern, die sie verteidigen konnten und wo sie vielmals bis zur Ankunft alliierter Armeen ausharrten.
Leicht war ein solcher Widerstand allerdings nicht. Der Aufstand der Polen in Warschau scheiterte 1944, und der Untergrund in Buchenwald konnte 1945 weder die Todesmärsche verhindern noch sich selbst befreien. Man vergesse auch nicht, dass die Befürworter des Widerstands fast immer und fast überall eine Minorität in ihrer eigenen Umwelt waren, denn die breite Bevölkerung, insbesondere in den okkupierten Gebieten, fürchtete die unmittelbar folgenden Repressalien mehr als die fortbestehende Unterdrückung. Besser das andauernde Leiden als der sofortige Tod. Derartige Schlussfolgerungen bewirkten auch, dass in Deutschland die jüdische Reichsvereinigung und in Holland der Joodsche Raad allen deutschen Anweisungen mit peinlicher Genauigkeit Folge leisteten, um, wie man sich ausdrückte, "schlimmeres zu verhüten." Schon deshalb waren in einem solchen Rahmen etwaige Versuche, sich zu wehren oder irgendwo durchzugreifen, die Ausnahmen.
In Belgien waren es drei Jungen, ein Jude und zwei nichtjüdische Freunde, die einen nach Auschwitz fahrenden Sonderzug mit einer Laterne aufhielten, Türen von drei Waggons aufrissen und 231 Juden befreiten, von denen 205 überlebten. In Polen waren die Hindernisse viel größer. Dort drangen eines Tages jüdische und nichtjüdische Partisanen der kommunistischen Gwardia Ludowa in das Judenarbeitslager Janiczow ohne Schwierigkeiten ein, da es ja nur von einem jüdischen Ordnungsdienst bewacht wurde. Von 295 Insassen flüchteten 131. Doch waren sie nun erst recht vogelfrei, und die meisten fanden in den umliegenden Ortschaften keine Zuflucht. Man denke nur an die Todesstrafe für Polen, die Juden beherbergten. So wurden die Flüchtlinge aus Janiczow von deutschen Polizisten aufgegriffen und erschossen. Und im Bialystok Ghetto, wo jüdische Aufständische am Tage einer Deportation einen Zaun mit Maschinengewehrfeuer umstürzten, um der bereits zusammengepferchten Masse von zwanzigtausend Menschen zur Flucht zu verhelfen, brach in der Menge eine Panik aus, und die Erschrockenen schrieen: "Wozu schießen diese Banditen? Sie bringen uns Unglück!"
Zumindest aber hatten alle, die ihre Aufgabe strategisch vorbereiten konnten, einen gewissen Spielraum. Sie wogen ihre Chancen ab. Sie konnten, je nach Beurteilung der Lage, losschlagen, warten oder weichen, und allerorts waren ihre Gedankengänge ausgesprochen konkret.
Anders war es in der Entschlussbildung solcher Leute, ob Christen oder Juden, die der Gewalt aus reiner Überzeugung entgegentraten. Sie fragten sich nicht, um welche Zeit oder unter welchen Umständen ein Widerstand günstig wäre, weil sie den Moment erkannten, in dem sie aus inneren Antrieb handeln mussten. Der Dompropst Bernhard Lichtenberg in Berlin betete öffentlich für die Juden, als die Deportationen 1941 anfingen. Die Geschwister Scholl bereiteten ihre Flugblätter 1942 und 1943 vor, als der Krieg bei weitem noch nicht zu Ende ging. Zur gleichen Zeit planten die Mitglieder der Jüdischen Kampforganisation in Warschau ihre bewaffnete Verteidigung und sicherten absichtlich keinen Fluchtweg aus dem Ghetto. Diese Beispiele zeugen von einem Widerstand, der nicht ein Mittel zum Zweck war, sondern der Zweck als solcher.
Was hätte man damals diesen selbstlosen Personen geraten? Begreifen konnte man sie kaum. Nüchtern, logisch - geschweige realistisch - erschienen sie nicht. War daher ihr Bemühen letzten Endes nur eine Geste? Was konnte man auch mit einem Gebet ausrichten? Was nützte in so einem diktatorischen Staat ein Flugblatt? Und wie konnte ein aussichtsloser Kampf in dem abgeriegelten Ghetto von Warschau auch nur einen Menschen retten?
Umgekehrt hatten die Widerstandskämpfer, die sich aufopferten, keine Vorstellung davon, wie man sie eines Tages feiern würde. Lichtenberg konnte sicherlich nicht seine Seligsprechung vorausahnen. Der vierundzwanzig Jahre alte Leiter der jüdischen Ghetto-Revolte in Warschau, Mordechai Anielewicz, hätte vom Erscheinen seines Bildnisses auf einer israelischen Briefmarke nicht einmal träumen können. Die Geschwister Scholl konnten sich einen Abend wie diesen schon gar nicht vorstellen. Und doch kam es dazu.
Warum?
Verehrte Zuhörer, Sie wissen genau wie ich, was die Antwort ist. Einfach gesagt, diejenigen, die sich aus Prinzip gegen das Nazi-Regime auflehnten, sind jetzt unsere ganz besonderen Wegweiser. Sie zeigen uns, was wir am höchsten werten sollen und wie wir uns im äußersten Notfall zu verhalten haben. Das hatten schon die alten Propheten gelehrt, und das ist noch heute so.
Ich danke Ihnen für diesen Preis, der die Namen von zwei außergewöhnlichen Bürgern München trägt.
Raul Hilberg, München 02.12.2002
Es gilt das gesprochene Wort.
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