„Klara ist wieder da“ – damit beginnt Angelika Ende Juli 1945 ein Tagebuch, um festzuhalten und zu verarbeiten, wie sie nach der Rückkehr ihre Freundin und Schwägerin Klara erlebt. Nach 29 Monaten im Konzentrationslager Auschwitz und einer Irrfahrt durch halb Europa kehrt diese nach Paris zurück. Die Schwägerin hält in ihrem Tagebuch fest, was ihr an Klara auffällt, was sie sagt, und es ist das Unaussprechliche, das sich durch Klaras Stimme, in Bruchstücken und unter größter Anstrengung, nach und nach mitteilt. „Klaras NEIN“ ist die erschütternde, fiktive Geschichte einer Verweigerung und inneren Wandlung einer „toten Überlebenden“.
Preisträgerin 2004
Soazig Aaron
Klaras NEIN
aus dem Französischen von Grete Osterwald
mit einem Vorwort von Jorge Semprun
Friedenauer Presse
Berlin 2003
ISBN: 3-932109-32-5
Autorin
Soazig Aaron wurde 1949 in Rennes geboren. Nach dem Studium der Geschichte arbeitete sie einige Jahre in einer Pariser Buchhandlung. Sie lebt heute in der Bretagne. „Klaras NEIN“ ist ihr erstes Buch. Als Historikerin hat Soazig Aaron Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager gelesen, schrieb das Buch „Klaras NEIN“ aber ohne Betroffene persönlich zu kennen. Als Französin und Nicht-Jüdin hatte sie – so Aaron – den nötigen Abstand und die Freiheit, solch ein Buch zu schreiben.
Begründung der Jury
"Soazig Aaron erzählt in ihrem (ersten) Roman eine ungeheuerliche Geschichte: Klara, nach 29 Monaten im KZ als eine der letzten heimgekehrten Überlebenden zurück in Paris, weigert sich kategorisch, wieder ein “normales Leben” zu führen, und sie will auch die eigene Tochter nie wieder sehen.
Die Jury hat dieses literarische Meisterstück so beeindruckt, weil die Autorin etwas schildert, was so bislang noch nicht beschrieben war: Sie erzählt die Geschichte einer “überlebenden Toten”, einer Überlebenden, die für jeden und alle eine Zumutung zu sein glaubt – und das auch tatsächlich ist.
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Zugleich weist das Buch jedoch über den geschilderten Konflikt weit hinaus und zeigt uns, was ein verantwortliches Gegenwartsbewusstsein vor allem auszeichnet: Toleranz und die Bereitschaft, das eigene Urteilen, Denken und Empfinden als möglicherweise “begrenztes” zu begreifen.
Soazig Aaron ist etwas gelungen, was Primo Levi, KZ-Überlebender und überragender literarische Chronist dieser Erfahrungen, einmal sinngemäß so formuliert hat: Die meisten Berichte über die Lager sind buchhalterisch und literarisch zweifelhaft. Erzähle deine Geschichte deshalb auf höchstem literarischen Niveau, und das heißt nichts anderes als: erzähl sie so, dass sie unseren Verstand und unsere Seele erreicht und wir sie nie mehr vergessen.
Soazig Aarons Buch ist um so erstaunlicher, als die Autorin vier Jahre nach Kriegsende geboren, also keine Zeitzeugin ist. Ihr Buch ist “pure fiction”, und genau dieser Umstand ist es, der den Schriftsteller (und KZ-Überlebenden) Jorge Semprun so begeistert hat: “Klaras NEIN ist der Roman, auf den ich gewartet habe, das erste, unvergessliche Zeichen der Kraft eines fiktiven literarischen Versuchs, sich an die kühne und bescheidene Rekonstruktion unserer innersten Erfahrung der Vernichtung zu wagen, die auch ihre Rettung ist“ (aus Jorge Sempruns Vorwort zu Klaras NEIN)."
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Verleihung
Am 22. November 2004 nahm Soazig Aaron in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Rosemarie von dem Knesebeck, Vorsitzende des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio hielt Verleger und Hochschullehrer Christoph Buchwald, der auch Mitglied der diesjährigen Jury war.
Ansprache von Rosemarie von dem Knesebeck
Magnifizenz,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Frau Aaron,
meine sehr verehrten Damen und Herren, im Saale und aus der Jury,
vor über 80 Jahren erschien bei Hoffmann und Campe ein kleines Taschenbuch mit dem Titel „Deutscher Reaktions-Almanach“. Der Herausgeber hatte 1920 bereits jenes Zeichen der Zeit erkannt, das der ersten deutschen Republik zum Verhängnis werden sollte: Eine Kreuzspinne – auf dem Rücken das Hakenkreuz – leuchtete vom schwarz-weiß-roten Buchumschlag. Die Illustrationen des engagierten Bändchens stammten unter anderem von Käthe Kollwitz, die Textbeiträge von Walter Hasenclever, Paul Zech, Armin T. Wegner, von Alfred Döblin und Kurt Tucholsky, der gleich unter drei seiner Pseudonyme vor den Feinden der ersten deutschen Republik warnte.
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Der „Deutsche Reaktions-Almanach“ prangerte 1920 jene Kräfte an, die später mit Volkes Stimme an die Macht kommen sollten. Zugegeben, nur ein literarischer Protest, bewundernswert ist aber der Mut und die Weitsicht jener Schriftsteller und Künstler. Andere Autoren wie Ernst Toller und Erich Mühsam saßen zur selben Zeit in Haft. Im schwäbischen Niederschönenfeld - auch das ist in Vergessenheit geraten - hatte die „Deutsche Reaktion“ das erste „Konzentrationslager“ errichtet. Nur den Begriff gab es noch nicht. Strengste Zensur, Schreibverbot, brutale Schikanen, antisemitische Beschimpfungen, Stacheldraht und schärfste Bewachung, Arrest und Appelle - das alles gab es als Zwangsmaßnahmen gegen Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Anachristen in unserem Land - viele Jahre vor Dachau.
Mit ihrem „Deutschen Reaktions-Almanach“ hatten Tucholsky, Döblin und die anderen ein Zeichen setzen wollen für die Vernunft und gegen den rechten Pöbel, der drei Jahre später in München einen Putschversuch unternahm und ab 1933 regierte. Ein schmales Bändchen wollte den Anfängen widerstehen und voller aufklärerischer Gedanken gegen die Dumpfheit und das Pathos der Hakenkreuzler zu Felde ziehen. Und wir? – Heute?
Sie haben natürlich Recht, meine Damen und Herren, die Zeiten sind heute ganz andere. Jede Analogie zu historischen Gegebenheiten könnten rein zufällig sein. Wir haben keine „Arbeitslosen“ mehr, sondern „Erwerbslose“. Schönhuber, Haider und Schill sind gescheitert. Berlusconi ist ein besonderer Fall, und den Kampfbund von NPD und DVU samt ihrer Propaganda gegen unsere Demokratie könnte man als „Rechtspopulismus“ abtun.
Es ist vielleicht alles gar nicht so schlimm, meinen einige von uns. Ein brauner Spuk, am rechten Rand des politischen Spektrums. Und außerdem scheren sich viele Neonazis ja nicht mehr den Schädel. Sie haben ihre Springerstiefel gegen feine Lederschuhe getauscht - in den Landtagen neuer Bundesländer: die alte Gesinnung.
Meine Damen und Herren, wir alle hier hegen eine große Leidenschaft für das Schöne, aber auch die Kraft der Sprache. Und eins ist sie immer: aufschlußreich, „verräterisch“. Einen Schöngeist erkennen wir an seinem Stil. Die Vernunft erschließt sich aus Formulierungen, auch die Phantasie, aber ebenso Dumpfheit und Einfallslosigkeit. Die Gazetten und Websites der Neuen Rechten strotzen vor Pathos und Phrasen. Volksvertretung oder Volksverhetzung?
Das ist das Schöne an Sprache: Die ostdeutschen Landtagsabgeordneten von DVU und NPD können sich neue Krawatten kaufen und feine Lederschuhe, ihre Sprache wird die alte bleiben. Plump, heuchlerisch, altbacken. Kurzum, das ideale Medium, um Ängste zu schüren und überkommene Feindbilder aufzupolieren. Renaissance der selbsternannten „Herrenrasse“, die deutsche Plebs zieht grölend wieder durch die Straßen.
Doch wie sieht es auf der anderen Seite aus? Wer sind künftig die Wortführer des „anderen Deutschland“? Voll bitterer Ironie schrieb Hans Sahl aus dem Exil: „Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Wir sind zuständig. / Greift zu, bedient euch, / Wir sind die Letzten.“ Hans Sahl ist tot, geblieben sind seine Gedichte und seine Erinnerungen an die Jahre des Exils. Literatur hatte ihm die Heimat ersetzt.
Vielleicht war es seine Muttersprache, die Jorge Semprun das KZ Buchenwald überleben ließ. Heute lehnt sich der spanische Autor, der in vielen Ländern und vielen Sprachen zuhause ist, beruhigt zurück: Seine Romane stehen gegen das Vergessen und werden auch künftig unter jungen Menschen die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten wachhalten. Um so beeindruckender, wenn Semprun einer französischen Kollegin in ihr Erzähldebüt schreibt: „Wir können ruhig sterben. Unsere Stimme, die Stimme der Zeugen, wird in dieser wunderbaren Fiktion weitergegeben und bewahrt.“ Das macht neugierig.
Nachdem ich „Klaras NEIN“ von Soazig Aaron gelesen hatte, wußte ich, daß wir - die Jury, die Stadt München und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels – die richtige Preisträgerin und das richtige Buch für den 25. Geschwister-Scholl-Preis gefunden hatten. Es ist das große Verdienst von Soazig Aaron, Auschwitz - ein Synonym für Unmenschlichkeit - in eine „wunderbare Fiktion“ gefaßt zu haben. Daß die Autorin selbst nicht zum Kreis der Überlebenden des Holocaust zählt, halte ich für weitaus weniger bemerkenswert als einige Rezensenten. Man schreibt ein Buch wie „Klaras NEIN“ natürlich nicht mit zwanzig oder dreißig Jahren, aber Literatur kann mehr als nur eigene Erfahrungen widerspiegeln. Die Geschichte von Klaras großem Nein und den Gründen, warum sie nach ihrer Befreiung aus Auschwitz jedes normale Weiterleben verweigert, riskiert alles und mündet, konsequenterweise, in einem absurden Halbsatz: „Die Wörter in einen Schrank sperren, den Schlüssel wegwerfen und vergessen, daß es den Schlüssel und den Schrank gegeben hat. Klara wie eine Baustelle.“
Frau Aaron, wie vertraut haben Sie ein Leben mit Literatur verbracht, um so souverän erzählen zu können? Sie sind sich Ihrer Sprache so sicher, daß Sie die Bande zwischen ihrer Erzählfigur Klara und deren Tochter Vera / Victoire zerschneiden. Unmenschlichkeit in Auschwitz, das Klara nur polnisch Oswiecim nennt, kann selbst Urinstinkte wie Mutterliebe vernichten.
Klaras NEIN bricht mit ihrem Leben vor Oswiecim, mit Liebe, Freundschaft und Kindheitserinnerungen. Kein Vaterland mehr, keine Muttersprache. Klaras NEIN, so erzählt uns Soazig Aaron, ist auch ein Verweigern jener Sprache, die Täter und Opfer im Lager gemeinsam gedient hat.
„ Ich habe meine Sprache benützt als wäre sie mein Körper, ein in den Dreck gezogener Körper, Deutsch als ein verachteter Körper, meine Sprache, ich habe sie prostituiert“. Und weiter heißt es in Klaras fiktivem Tagebuch: „Ich sagte mir, wenn sie töten hilft, kann sie mir leben helfen, sie taugt zu allem, diese Hure… aber manchmal war sie wie ein Kind und ich wiegte sie, sagte Reime auf, Gedichte, ich reinigte sie sorgfältig von allem Schmutz, ich wischte sie ab und sagte ihr, das bist auch du…“ Dieses „auch“ genügt Klara nicht. Sie löste sich für immer von der mißbrauchten Sprache ihres Lebens vor Auschwitz. Welcher Glaube an die Sprache, um so tief von ihr enttäuscht sein zu können…
Meine Damen und Herren, wenn es irgendeine Gemeinsamkeit unserer Preisträger aus fünfundzwanzig Jahren „Geschwister-Scholl-Preis“ gibt, dann ist es der Glaube an die aufklärerische Kraft der Sprache und der Literatur. Bücher, unser aller Anliegen, stehen als Medium immer noch im Mittelpunkt, wenn es gilt, Gedanken und Bewusstsein differenziert zu vermitteln.
Der Oldenbourg Gruppe hat es uns finanziell möglich gemacht, nicht nur die Geschichte dieses Preises, sondern kurz auch alle Preisträger der 25 Jahre in einer Broschüre in Erinnerung zu rufen. Dafür danke ich der Druckerei und Binderei sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an unserer Jubiläumspublikation.
Nein, das Gespräch über Bäume ist kein Verbrechen, und es gibt Literatur trotz Auschwitz, nach Auschwitz und gerade wegen all jener Greueltaten, für die dieser Name steht.
Frau Aaron, Ihre „Tagebuch-Erzählung“ von Klaras Weigerung, nach Auschwitz zur Normalität des Alltags zurückzukehren, ist mehr als ein grandioser literarischer Wurf, es erschüttert und provoziert.
Ich gratuliere Ihnen zum Geschwister-Scholl-Preis 2004.
Rosemarie von dem Knesebeck, München 22.11.2004
Es gilt das gesprochene Wort.
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Ansprache von Christian Ude
Zum 25. Mal wird heute der Geschwister-Scholl-Preis verliehen. 1980 haben der Verband Bayerischer Verlage und Buchhandlungen, der inzwischen als Landesverband Bayern im Börsenverein des Deutschen Buchhandels firmiert, und die Landeshauptstadt München diesen Preis ins Leben gerufen. Seither wird damit jährlich ein Buch ausgezeichnet, das im weitesten Sinn an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert, von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.
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Das ist ein außerordentlich hoher Anspruch, schon der Name des Preises legt hier einen Maßstab an, der die Jury immer wieder vor die Frage gestellt hat, wofür überhaupt ein „Geschwister-Scholl-Preis“ verliehen werden kann. Schließlich war der Schrecken des „Dritten Reichs“ und seiner Verfolgungs- und Vernichtungsmaschinerie so einzigartig, wie es auf der anderen Seite der Mut der Geschwister Scholl, ihrer Mitstreiter der Weißen Rose und all derer bleibt, die dagegen angekämpft haben.
Fast sechs Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ist heute – zum Glück – weder in Deutschland noch sonst einem demokratischen Rechtsstaat etwas annähernd Vergleichbares auch nur denkbar. Dennoch ist es dank der engagierten und kompetenten Arbeit der Jury gelungen, eine Reihe höchst beeindruckender Werke mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszuzeichnen, die dem damit verbundenen Anspruch auf eine sehr unterschiedliche, immer aber herausragende Weise gerecht werden. Das gilt für die Erzählungen, Essays, Lyrikbände und Erinnerungsbücher ebenso wie für die wissenschaftlichen Dokumentationen und Abhandlungen, die sich in der Reihe der preisgekrönten Werke finden.
Der Geschwister-Scholl-Preis ist sehr schnell zu einem der bedeutendsten und meistbeachteten deutschen Literaturpreise geworden, was angesichts der Vielzahl von Literaturpreisen noch umso bemerkenswerter und erfreulicher ist. Auch die Preisverleihung stieß auf Anhieb auf eine so große Resonanz, dass der Alte Rathaussaal, wo die Veranstaltung in den ersten Jahren stattfand, dafür bald schon zu klein wurde.
Seit 1988 wird der Geschwister-Scholl-Preis nun in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität verliehen, an jenem Ort, der wie kein anderer an den Widerstand der Geschwister Scholl erinnert: Hier wurden Hans und Sophie Scholl entdeckt, als sie am 18. Februar 1943 ihre letzten Flugblätter in den Lichthof warfen, hier wurden sie festgenommen, der Gestapo übergeben und damit ans Schafott geliefert. Nur vier Tage später wurden sie zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Natürlich kann die Verleihung eines Preises, der dem Andenken an die Geschwister Scholl gewidmet ist, nichts von dem begangenen Unrecht je wieder gut machen. Aber neben vielen anderen Münchner Initiativen und Projekten zeigt gerade auch der Geschwister-Scholl-Preis, dass München aus seiner Geschichte gelernt hat, dass aus der ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung" eine Stadt der Toleranz und Weltoffenheit wurde, die sich konsequent und mit Nachdruck für die Ideale einsetzt, für die die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter der Weißen Rose ihr Leben riskiert und geopfert haben.
Wie aktuell deren Vermächtnis auch heute noch ist, hat ja gerade in letzter Zeit eine Reihe von Alarmsignalen deutlich gemacht. Der von Neonazis geplante und zum Glück verhinderte Bombenanschlag auf die Grundsteinlegung für das Jüdische Zentrum im vergangenen Jahr, die Stimmenzuwächse rechtsextremer Parteien bei den letzten Landtagswahlen, der Anstieg rechtsextremistischer Gewalttaten, wie wir ihn gegenwärtig gerade auch in Bayern erleben: Das alles zeigt, wie dringend geboten es ist, neuen Anfängen entschlossen zu wehren und Zivilcourage zu zeigen gegen Intoleranz, Fremdenhass und Antisemitismus, solange das – anders als zu Zeiten eines rücksichtslos mordenden Staatsterrors – noch ohne Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit möglich ist.
Im letzten Jahrzehnt hat es leider vor jeder Preisverleihung Anlässe gegeben, die uns schmerzhaft bewusst machten, dass die Gefahren des Rechtsextremismus nicht vollständig gebannt sind, sondern immer wieder in bedrohlicher Weise aufflackern. Da gab es Anfang der 90er Jahre Übergriffe auf Asylbewerberheime und Ausländerwohnheime mit Brandstiftung und Todesfolgen, da gab es Mitte der 90er Jahre Anschläge auf jüdische Friedhöfe und gemeindliche Einrichtungen, da gab es Ende der 90er Jahre schon einmal beklemmende Wahlerfolge der Rechtsradikalen in den neuen Bundesländern und in diesem Jahr wie gesagt die Münchner Attentatspläne und im Osten das erfolgreiche Zusammenwirken von DVU und NPD. Die Attentatspläne sind ein polizeiliches Problem und zum Glück von der Polizei auch rechtzeitig aufgedeckt worden. Aber die rechtsradikalen Wahlerfolge sind eine politische Herausforderung, und zwar an uns alle. Und da möchte ich eine modern gewordene politische Attitüde kritisieren: Es kommt immer häufiger vor, dass kritische Demokraten über die rechtsradikalen Wahlerfolge zwar entsetzt und empört sind, beim nächsten Atemzug aber erzählen, dass sie als besonders kritische und sensible und nachdenkliche Menschen künftig nicht mehr wählen gehen, sondern sich der Stimme enthalten. Hierzu eine unerbittliche mathematische Erkenntnis: Wenn die Hälfte der Demokraten in diesem Land am Wahltag zuhause bleibt, hat jede rechtsextreme Stimme doppeltes Gewicht! Dann können schon mit 2,5 Prozent Zustimmung die 5 Prozent-Hürden in den Bundesländern übersprungen werden!
Wahlenthaltung, und mag sie noch so geistreich mit Empfindsamkeit oder Enttäuschung begründet werden, überlässt den Rechtsextremen freiwillig das Feld! Oder anders ausgedrückt: Der Vormarsch der extremistischen Kameradschaften und Skinhead-Szene in die Parlamente wird letzten Endes nicht durch zeitgeschichtliches Wissen, durch schulische Aufklärung, durch Erinnerungsarbeit oder Betroffenheitspflege gestoppt, sondern durch die Stärkung des demokratischen Spektrums und eine offensive politische Auseinandersetzung, die nicht nur Nein zu den Neo-Nazis sagt, sondern auch ein Ja zur Stärkung demokratischer Strukturen zustande bringt.
Ich danke allen, die Anteil haben am Erfolg des Geschwister-Scholl-Preises: Das ist der Landesverband Bayern im Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der die Stiftung des Preises initiiert hat und ihn gemeinsam mit der Landeshauptstadt München verleiht. Das sind besonders auch die zahlreichen aktiven und ehemaligen Jurymitglieder, die mit ihren Vorschlägen – mitunter auch gegen kritische Einwände – dem Preis zu seiner exzellenten, inzwischen auch internationalen Reputation verhalfen. Das sind die Kolleginnen und Kollegen des Münchner Stadtrats, die als beratende Mitglieder mit großem Engagement an den Juryentscheidungen mitgewirkt haben. Das ist die Ludwig-Maximilians-Universität als Gastgeberin der alljährlichen Preisverleihung. Das ist das städtische Kulturreferat. Das sind die Laudatoren, und das sind vor allem auch die Preisträgerinnen und Preisträger, die für ihre Werke mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurden.
Heute geht dieser Preis an die bretonische Autorin Soazig Aaron für ihr Buch „Klaras NEIN“. Ein „Wagnis“ wurde dieses Buch genannt, weil es die fiktive Geschichte einer Auschwitz-Überlebenden erzählt, geschrieben von einer Autorin, die vier Jahre nach Kriegsende geboren, also keine Zeitzeugin ist. Es ist, wenn man so will, eine „erfundene“ Wahrheit, die Soazig Aaron da in der Form einer Tagebuch-Erzählung vermittelt. Aber es ist eine Wahrheit, die der Authentizität und Intensität autobiographischer Erinnerungsbücher oder wissenschaftlicher Abhandlungen über den Holocaust, für den Auschwitz zum Synonym wurde, nicht nachsteht.
„Klaras NEIN“ ist nicht nur die Rekonstruktion des Leidens und Grauens in Auschwitz und all den anderen Todeslagern, sondern die erschütternde Darstellung dessen, was die Hölle der Massenvernichtung aus denen gemacht hat, die mit dem Leben davonkamen. Es ist die Geschichte einer Überlebenden, die nicht mehr die ist, die sie vorher war, vor der Deportation nach Auschwitz, die ihr Überleben mehr als ein „Unterleben“, als Unglück, gar als Schande, und den Tod ihres im Widerstand umgekommenen Mannes als Gnade empfindet, die sich weigert, nach ihrer Heimkehr nach Paris, die keine ist, wieder an ihr früheres Leben anzuknüpfen, je wieder ein Wort ihrer deutschen Muttersprache in den Mund zu nehmen, ja selbst ihre Tochter wiederzusehen, weil sie, wie sie sagt, ihr nichts zu geben hat außer ihren Schmerz, ihren Wahnsinn, ihre Krankheit, unter der sie leidet, ohne Aussicht auf baldige Genesung.
Es ist eine Geschichte, die eine ganz neue Antwort gibt auf die Frage nach dem angemessenen Umgang mit den Verbrechen des NS-Terrors. Das ist wichtig in einer Zeit, in der die überlebenden Opfer immer weniger werden und der Tag immer näher rückt, an dem niemand mehr aus eigener Anschauung, aus eigenem leidvollen Erleben über Verfolgung, Entrechtung und Demütigung, über Entmenschlichung und Mord berichten wird.
Denn mit dem Verlust der Zeitzeugen, die in den vergangenen Jahrzehnten ihre Stimme erhoben, um die Erinnerung an den Holocaust lebendig zu halten, wächst die Gefahr, dass die emotionale Teilnahme am Schicksal und Leid der Opfer zunehmend „distanzierter“ wird, dass die Dimension des Grauens verharmlost, die enthemmte Unmenschlichkeit der Verfolger und Mörder relativiert und die verzagte Gleichgültigkeit, das bemühte Wegsehen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft im NS-Staat kleingeredet wird.
„Klaras NEIN“ weist einen Weg, dieser Gefahr zu begegnen. Es ist „der Roman, auf den ich gewartet habe“, schreibt der Schriftsteller und KZ-Überlebende Jorge Semprun in seinem Vorwort dazu, das er mit dem Fazit abschließt: „Wir können ruhig sterben: Unsere Stimme, die Stimme der Zeugen, wird in dieser wunderbaren Fiktion weitergegeben und bewahrt.“
Es ist ein Buch, so heißt es resümierend in der Begründung der Jury, das dem Geschwister-Scholl-Preis und der Literatur große Ehre einlegt. Gleich mit ihrem ersten Roman ist der Autorin Soazig Aaron damit ein großer Wurf gelungen. Dazu herzlichen Glückwunsch, herzliche Gratulation zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2004.
Christian Ude, München 22.11.2004
Es gilt das gesprochene Wort.
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Laudatio von Christoph Buchwald
Chère Madame Aaron, meine sehr verehrten Damen und Herren,
gestatten Sie mir vorab folgende kleine Abschweifung: Eines der wunderbarsten und erstaunlichsten Phänomene der Literatur und der Künste ist es, dass die pure Fiktion, die reine Erfindung “wahrer” sein kann als jede auf Fakten basierende Darstellung. Ästhetik und Philosophie beschäftigen sich damit seit der Antike.
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Thomas Manns Roman Buddenbrooks etwa – trotz des Buddenbrook-Hauses in Lübeck ist das meiste frei erfunden – schildert realistisch wie kein anderer den Niedergang einer einstmals mächtigen Familie und gilt bis heute als der grosse Roman vom Anfang des Endes des patrizischen Bürgertums. Oder Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands, vollkommen fiktive Biographie eines jungen Arbeiters: der epochemachende Roman in drei Bänden zeichnet ein verblüffend genaues Bild vom Untergang der Weimarer Republik, von den Schauprozessen in Moskau und den linken Rivalitätsgefechten im Spanischen Bürgerkrieg. Vom Mythos des spanischen “Freiheitskampfes” bleibt nach der Lektüre des Romans kaum etwas übrig.
Die Beispiele grosser literarischer Epochengemälde lassen sich beliebig fortsetzen, von Alfred Döblin bis Philip Roth und von Theodor Fontane bis Italo Calvino, und alle belegen sie eindrücklich dreierlei:
Erstens: Literatur und Kunst, wie fiktiv sie auch sein mögen, sind immer auch ein Echo von Zeit und Epoche.
Zweitens: Ihre Wahrheit ist etwas vollkommen anders als die Summe historisch belegbarer Zahlen, Daten und Ereignisse. Nur so ist zu erklären, weshalb ausgerechnet Picassos Bild “Guernica”, auf dem die Gliedmassen, Augen und Ohren von Mensch und Tier nicht unbedingt an der Stelle zu finden sind, wo die Natur sie klugerweise vorgesehen hat - zu der Ikone der Schrecken des Bürgerkrieges geworden ist.
Und drittens: Zeitzeugenschaft und historische Authentizität sind weder Voraussetzung noch Garanten für das Gelingen, geschweige denn für die Wahrheit von Literatur. Im Gegenteil: zu grosse Nähe macht blind. Weil die grössten Dilemmata einer Epoche den Ereignissen fast nie unmittelbar auf der Zunge liegen, braucht es den zeitlichen Abstand, um die entscheidenden Fragen überhaupt stellen zu können, zuzulassen im Denken. So gesehen hat es seine Logik, dass es den “grossen deutschen Wende-Roman” noch nicht gibt.
Ende der Vorüberlegung.
Aber was, höre ich Sie fragen, haben um Himmelswillen literarische Wahrheit und das Erzählen aus grösserem zeitlichem Abstand mit dem zu preisenden Buch zu tun, das heute abend mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wird?
Die Frage, meine Damen und Herren, beantwortet sich wie von selbst, wenn wir uns das preisgekrönte Buch genauer ansehen. Es trägt den Titel Klaras NEIN, und im Untertitel lesen wir “Tagebuch-Erzählung”.
Es ist, um es gleich zu sagen, eine skandalöse Geschichte, die (und da ist die Verbindung zu unserer kleinen Vorüberlegung) wohl erst jetzt, fast 60 Jahre später so - so mutig und so meisterlich – erzählt werden konnte.
Am Sonntag, den 29. Juli 1945, schreibt die Erzählerin in ihr Tagbuch: “Klara ist zurückgekehrt. So. Da steht es. Geschrieben. Ich muss es schreiben, damit es wirklicher wird und um daran zu glauben”.
Mehr als drei Monate nach Kriegsende und Befreiung aus dem KZ ist Klara wieder in Paris, hat sich unter ihrem Mädchennamen registrieren lassen, als könnte sie die Lagerjahre damit ausradieren. Kahlgeschoren und kaum vierzig Kilo schwer, spricht sie meist zu schnell oder zu langsam, ist zappelig in ständiger Bewegung und meidet stocksteif jede Berührung. Sie geht “mit der Vorsicht einer Katze, die sich scheut, eine Pfütze zu durchqueren” durch die Wohnung, kann nicht allein sein, aber auch nicht bei anderen, und erzählt allenfalls auf nötigendes Nachfragen und nur in Bruchstücken, was sie nach ihrer Verhaftung 1942 in Auschwitz durchgemacht hat. “Aber vernünftigerweise”, sagt sie, “kehrt man aus der Hölle nicht zurück”.
Am schockierensten jedoch, notiert die Klaras Schwägerin fassungslos im Tagebuch, ist die Tatsache, dass sich Klara kategorisch weigert, ihre bei Verwandten untergekommene kleine Tochter zu treffen, zu sehen, geschweige denn wieder zu sich zu nehmen. Klares NEIN.
Und mindestens ebenso unbegreiflich ist, dass Klara mit keinem einzigen Wort nach dem Schicksal ihres ebenfalls 1942 verhafteten jüdischen Mannes fragt. Als ihr die Schwägerin schliesslich ungefragt und unter grösster emotionaler Mühsal berichtet, dass er als Mitglied einer Widerstandsgruppe von den deutschen Besatzern erschossen wurde, reagiert Klara buchstäblich wie aus der Pistole geschossen: “Oh, sehr gut…”, um dann, auf der stochernden Suche nach den passenden Wörtern, in den gröbsten Floskeln Zuflucht zu suchen: “Jedem sein Schicksal. Ich werde keinen Helden beweinen… die Gnade, getötet zu werden… nicht jeder hat dieses Glück…”.
Darauf die Tagebuchschreiberin, halb wütend, halb verzweifelt über die permanenten Zumutungen dieser Frau: “Ich kann nicht mehr!” Und an anderer Stelle: “Sie verschleisst mich. In ihren Reden ist soviel kalter Hass”. Und Grausamkeit, Zynismus, Gehässigkeit, Arroganz und ungenierte Gleichgültigkeit.
Klaras NEIN, meine Damen und Herren, erzählt anhand der Aufzeichnungen der engelsgeduldigen und verständnisvollen Tagebuchschreiberin die Geschichte einer Heimkehr in die Fremde, einer Rückkehr aus der Unterwelt. Die Autorin portraitiert eine junge Frau, die Auschwitz überlebt hat und darüber zur Zumutung für sich und andere geworden ist.
Das ist neu in der Literatur, und es ist obendrein auch kühn. Literarische Referenzgrössen gibt es nicht. Was wir kennen, sind beispielsweise
- Heinrich Bölls Erzählungen von zu Tode erschöpften und desillusioniert aus dem Kriege heimkehrenden Soldaten,
- Irmgard Keuns wunderbaren aus dem Exil zurückkommenden Ferdinand, den Mann mit dem freundlichen Herzen,
- Primo Levis Maßstäbe setzende Lagerberichte, und
- Jules Melvin Bukiets Roman Danach, in dem Lagerüberlebende eine kriminelle Vereinigung gründen und ihre Befreier ausnehmen wie die Weihnachtsgänse –,
aber noch nie hat jemand erzählt von einer (wie Klara sagen würde) Unterlebenden, die für jeden und alle unbegreiflich bleibt. Für sie ist in unserer Vorstellungswelt bislang kein Platz vorgesehen.
Allein diese mutige Erkundungen einer Terra incognita, die – wenn Sie mir diese Untertreibung gestatten - als ethisch, moralisch und politisch vermintes Gelände und zudem als literarisch hoch gefährliche Kitsch- & Clichéegrube nur kartographiert werden kann von jemandem, der allein der Wahrheit verpflichtet ist, und nichts als der Wahrheit – allein diese Expedition ist den Geschwister-Scholl-Preis dreimal wert. Dafür, dass er bzw. sie alle denkbaren Bilder und Überlegungen, Blasphemien, Erkenntnisinteressen und Schlussfolgerungen zulässt – mit Ausnahme der ideologischen, der philosemitischen, antisemitischen oder politisch korrekten.
Ist das ein Mensch?, fragte der grosse Primo Levi angesichts dessen, was er an Entmenschlichung und Niedertracht unter seinen Leidensgenossen in den Lagern mitgemacht hatte. Soazig Aaron variiert diese Frage: Ist eine Frau, die sich nach all der erlittenen Unmenschlichkeit des Lagers kategorisch weigert, ihr Töchterchen und ihren Mann (wenn er denn noch lebte) wiederzusehen, nicht ihrerseits grausam und unmenschlich? Ist das noch ein Mensch?
Anhand der Tagebuchaufzeichnungen ensteht, erzählerisch überaus geschickt, nach und nach ein Bild Klaras, und dieses Bild ist – höflich ausgedrückt – in höchstem Maße ambivalent: Klara, die Lügnerin, das Nervenbündel, die Unkooperative, Hämische, Gleichgültige, Herzlose, die jüdische Rabenmutter, die Undankbare, die Hassende und Unberechenbare, die im KZ eine Frau auf deren Wunsch zu Tode bringt, ihre alte Hausärztin als “fette Kuh” und eine Freundin als “Drecksau” niedermacht, einem Mann, der sich eine unpassende Bemerkung über ihren geschorenen Kopf erlaubt, die Faust ins Gesicht schlägt, sich über die “unerträgliche Barmherzigkeit” und “das übermächtige Wohlwollen” der Freunde mokiert, eine lebende Tote, die rücksichtslos zusammenstiehlt, was sie braucht und von sich selbst sagt, “ich bin nicht wahnsinnig, aber ich bin krank”, “im Unglauben an mich”. Aber auch die verzweifelt rührende Klara, die sich nach der Befreiung nach Budapest und Prag durchschlägt, um dort ihre ermordeten Lagerfreundinnen wenigstens symbolisch zu beerdigen.
Erschöpft und überanstrengt notiert die Tagebuchschreiberin, Klara erzähle, wenn sie überhaupt etwas erzähle, “von einem anderen Planeten”, und was sie da so stockend und wie in Anfällen berichte, seien “Legenden von einem unbekannten Stamm”.
Darf man, hören wir uns ungehalten, aber leise fragen, eine Jüdin, eine fast zu Tode geschundene Überlebende so darstellen?
- als brutales, berechnendes menschliches Wrack, das alles, auch das Ureigenste, das Wichtigste und Liebste, scheinbar erbarmungslos niedermacht: das Jüdischsein und das Heldentum des Ehemanns, die ums Begreifen ringenden Freunde, die Barmherzigkeit der Davongekommenen, die deutsche Muttersprache, die emigrierten zionistischen Juden – “sie werden bald auf hebräisch bellen!” - und nicht zuletzt die Befreier.
Darf man eine solche im Lager ihrer Menschlichkeit Beraubte zeigen als aus der Verantwortung flüchtende Un-Mutter, die ihr Töchterchen nie, nie wiedersehen will?
So eine, denken wir in uns hinein, Opfer der Großen Barbarei hin oder her, möchte man doch lieber nicht kennen und sich auch nicht vorstellen müssen. Es ist zu verwirrend.
Die Antwort, verehrte Anwesende, muss jeder Leser für sich finden.
Madame Aaron, und auch darin zeigt sich ihre Meisterschaft, hütet sich vor Verurteilung und Urteil. Sie hat ihrerseits nichts weniger unternommen als den halsbrecherischen Versuch, einen Menschen und eine condition humaine, eine Menschlichkeit zu zeigen, die dank der Perfidie eines politischen Systems so sehr beschädigt und bis auf die Grundfesten des Daseins erschüttert sind, dass sie anderen und vor allem sich selbst zur unerträglichen Last geworden sind. Allein das verdient unsere allergrößte Bewunderung.
Klara ist sich ihrer Entmenschlichung von den Zehen bis in die Haarspitzen verzweifelt bewusst, und weil sie nicht mehr die psychische Kraft hat, sich endgültig von dieser Last zu befreien, verlangt sie sich der Tochter zugewandt das äusserste an Menschlichkeit ab, dessen sie noch fähig ist: nämlich die Unmenschlichkeit, ihre Tochter je wiederzusehen.
Angesichts dieses Paradoxes, das innerhalb von Klaras Logik tatsächlich als Tat grösstmöglicher Liebe zur Tochter und grösstmöglicher Härte gegen sich selbst erscheint, versagen unsere moralischen und ethischen Gut/Böse-, Schwarz/Weiss-Codierungen vollständig.
Die Frau, die sich nach den entmenschlichenden Erfahrungen des Konzentrationslagers nur noch als wandelnde Bombe und lebende Untote empfinden kann, betreibt lieber die Trennung von der Tochter und (wenn er denn überlebt hätte) die Scheidung vom Ehemann, als diese ihr Liebsten mit ihrer vollkommen entregelten Anwesenheit zu quälen.
“Ich verstoße meine Tochter nicht”, sagt Klara in einem gefassten, lichten Augenblick zur rat- und fassungslosen Tagebuchschreiberin, “ich verstoße mich selbst aus ihrem Eigenleben, für ihr eigenes Leben. Ich habe nichts zu geben außer meinem Schmerz und meinem Wahnsinn, meiner Krankheit, genau das ist es, (….) ich bin ohne Aussicht auf baldige Genesung.”
Ob Klaras NEIN und ihr unumkehrbarer Beschluss, auf Nimmerwiedersehen nach Amerika und in die Anonymität zu verschwinden, der menschlichen Weisheit (oder wessen Weisheit auch immer) letzter Schluss sind, darin weiss sich auch die Tagebuchschreiberin bis zuletzt keinen Rat.
Und wir, die Leser? Hätten wir uns Rat gewusst?
Anders als die Tagebuchschreiberin, die nach 46 Tagen mit Klara bei deren Abreise nur noch eine große Leere und Erleichterung spürt, reiben wir uns am Ende des Buches seltsam fasziniert, verwirrt und irritiert nachdenklich die Augen und können wenig mehr als zugeben, dass wir verschont geblieben sind, dass wir über solche paradoxe Unmenschlichkeit aus größter Menschlichkeit eigentlich noch nie haben nachdenken müssen.
Die Frage, ob unsere Moral differenziert und unsere Menschlichkeit stark genug gewesen wären, um mit einer wie Klara auch nur umgehen zu können, ohne schreiend verrückt zu werden, diese Frage wird uns noch lange beschäftigen.
Ich kann mir vorstellen, meine Damen und Herrn, dass nur ein Nachgeborener, eine Nachgeborene überhaupt in der Lage ist, ein Buch wie Klaras NEIN zu schreiben. Sicher scheint mir, dass es das bislang überzeugenste Argument gegen die Doktrin eines fernsehbekannten Literaturkritikers mit Doppelnamen ist, der meinte, über die Erfahrungen von Auschwitz dürfe überhaupt nur schreiben, wer sie mitgemacht habe. Der in alle Sprachen übersetzte spanische Schriftsteller Jorge Semprun (der Auschwitz überlebt hat) hat dazu in einem Vorwort zu Klaras NEIN das Passende angemerkt:
“Klaras NEIN ist der Roman, auf den ich gewartet habe, das erste starke, unvergessliche Zeichen der Kraft eines fiktiven literarischen Versuchs, sich an die kühne und bescheidene Rekonstruktion unserer innersten Erfahrungen der Vernichtung zu wagen, die auch ihre Rettung ist. – Wir können ruhig sterben: Unsere Stimme, die Stimme der Zeugen, wird in dieser wunderbaren Fiktion weitergegeben und bewahrt.”
Ich denke, wir haben zur 25. Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises keine würdigere Preisträgerin als Madame Aaron finden können. Klaras NEIN nämlich zeugt wie kaum ein Werk der jüngsten Literatur - ich zitiere die Statuten des Geschwister-Scholl-Preises - “von geistiger Unabhängigkeit und ist geeignet, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben”. Und das, gestatten Sie mir die Ergänzung, auf dem höchstmöglichen ästhetisch-literarischen Niveau und gegen alle Denkbeschränkungen des Gutmenschentums und der Political Correctness an.
Ich danke Grete Osterwald für die in keine Sentimentfalle laufende kongeniale Übersetzung, den Verlegern Maurice Nadeau und Frau Katja Wagenbach für ihren verlegerischen Mut und Ihnen, verehrte Madame Aaron, für Ihr grandioses erstes Buch. Sie haben uns damit reicher gemacht. Mögen ihm noch viele folgen.
Merci, Madame, merci beaucoup.
Christoph Buchwald, München 22.11.2004
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Soazig Aaron
Ich danke
- dem Rektor der Universität München, Prof. Dr. Bernd Huber
- dem Oberbürgermeister der Stadt München, Herrn Christian Ude
- der Vorsitzenden der Jury des Geschwister-Scholl-Preises, Frau Rosemarie von dem Knesebeck sowie jedem einzelnen Jurymitglied.
Dem Laudator Herrn Christoph Buchwald sage ich großen Dank für seine Worte zu „Klaras Nein“. Ich danke auch den Musikern.
Dank und Anerkennung schulde ich aber auch meiner Verlegerin, Frau Katharina Wagenbach-Wolff, der Übersetzerin Grete Osterwald sowie Monsieur Jorge Semprun für sein so bewegendes Vorwort zur deutschen Ausgabe. Aber auch meinen französischen Verleger, Monsieur Maurice Nadeau, will ich an diesem Tag nicht unerwähnt lassen.
Und all den Autoren, die hier gelesen, auserwählt und vor mir schon mit diesem Preis ausgezeichnet wurden, schicke ich einen kollegialen Gruß.
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Als erstes möchte ich sagen, dass ich mich durch diese Auszeichnung natürlich geehrt fühle, vor allem aber zutiefst berührt, weil ich ihren Symbolgehalt kenne, weil ich weiß, welche Emotionen sie wachruft in Deutschland, besonders hier in München und vor allem in dieser Universität. Doch lassen Sie mich gleich ergänzen: Wann und wo auch immer die WEISSE ROSE erwähnt wird, versteht man sie als Sinnbild für Mut, aber auch für Hoffnung. Diese Bewegung des Widerstands unter den bekannten Umständen bezeugt deutlich und unüberhörbar, dass es immer Menschen gibt und geben wird, die aufstehen, um NEIN zu sagen.
Obwohl es ein Allgemeinplatz ist, erstaunt es mich doch immer wieder von neuem, dass dieses kleine Wort der Verneinung das Kennzeichen für Selbstbehauptung ist, wohingegen sein Pendant, das Ja, sehr oft für freiwillige Unterwerfung, ja Selbstaufgabe steht.
Man kann natürlich sagen, in diesem NEIN der Empörung, des Aufbegehrens und der Ablehnung des Unannehmbaren, in diesem NEIN zu den Lügen und Manipulationen durch Verführung oder Gewalt, sei das Ja zu Würde, zu Ehre, zu Brüderlichkeit, zur Vision eines Lebens in Freiheit und Frieden enthalten. Das kann man sagen, aber zunächst einmal steht da das NEIN.
Bei Primo Levi lesen wir über den Haß der Nazis: „wenn begreifen unmöglich ist, so ist doch erkennen notwendig“.
Wenn es ihnen möglich war, haben die Opfer ja auch Zeugnis abgelegt, mit Mut, unter Schmerzen, und immer in Würde. Das hatten sie sich zur Pflicht gemacht. Denn sie wussten, wovon sie sprachen. Wie oft haben sie versucht, das Räderwerk zu entschlüsseln, wie eine Maschine, die man zerlegt, um zu begreifen. Ihre Zeugenaussagen sind erschütternd - und unendlich wertvoll. Ich denke an Victor Klemperer, Hermann Langbein, Primo Levi, Jorge Semprun, Germaine Tillon, Jean Améry, Charlotte Delbo, Imre Kertész, Ruth Klüger, David Rousset, und die Liste ist nicht vollständig, jeder hat noch andere Namen im Kopf.
Doch begriffen haben auch sie nicht, trotz all ihrer Anstrengungen.
Auch Historiker haben sich bemüht und bemühen sich noch immer, sie wühlen in Archiven, nehmen jedes Papier unter die Lupe, klassifizieren Dokumente, tonnenweise. Sie kennen die Fakten, die Daten, die Auslösermechanismen, die physischen und psychischen Umstände, die Bewegungen und Abläufe des Räderwerks, schlagen sich herum mit Zahlenkolonnen und Statistiken, halsen sich langwierige, kniffelige und undankbare Arbeit auf. Auch manche von ihnen haben sich dies zur Pflicht gemacht. Doch hinter diesen Anmerkungsapparaten, den Zettelkästen mit Belegen, den Analysen, Synthesen und Hypothesen, den fundierten und sachkundigen, manchmal arg nüchternen Abhandlungen, verbergen sich leidenschaftliche, intelligente, anständige, empfindsame, ja manchmal schmerzerfüllte Menschen, Männer und Frauen, und dabei denke ich besonders an Raoul Hilberg und Annette Wieviorka.
Aber begreifen können auch sie nicht.
Es gibt auch Philosophen, die darüber philosophieren und Konzepte erfinden, und all die Forscher und Geisteswissenschaftler jeglicher Fachrichtung – aber auch sie vermögen nicht zu begreifen. Wie ja auch wir nicht rechtzeitig begriffen haben, dass in Kambodscha, in Bosnien und in Ruanda Massaker stattfanden und beispielsweise auch jetzt die Greueltaten in Darfur nicht begreifen.
Und dann kommen die Gaukler: die Filmemacher, Dramatiker, Schauspieler, Musiker, Tänzer, bildende Künstler jeglicher Art, die Dichter, die Romanschriftsteller ...
Lassen Sie mich nur kurz an eine Szene aus dem Film „Shoah“ von Claude Lanzmann erinnern: Da ist der Kesselflicker aus Korfu, dieser einfältige Mann, der beim Löten seiner Kessel den Reim des Kindes, das er damals war, dieses „Papa, Mama, die sind nicht mehr da“ vor sich hinsummt. Er kam zurück, in den Arm eingebrannt jene unauslöschlichen Zahlen, und nun singt er in der leeren Synagoge von Korfu, neben dem Kantor, singt laut, mit schöner Stimme, während seine Augen die leeren Bänke absuchen. Vielleicht füllt er sie ja mit seiner kindlichen Seele, die sich erinnert.
Auch er hat die Gründe für seine einzige große Reise in den fernen schlesischen Norden, so fern vom Süden unter blauem Himmel, an den Gestaden eines blauen Meeres, nicht begriffen. Oft muss ich, wenn ich Gesänge des Ritus höre, an diesen in seiner Seele zerstörten Mann auf Korfu denken.
Dass die oben erwähnten Gaukler auch nicht mehr begreifen, muss ich wohl nicht eigens hinzufügen.
Diese mörderische Zeit der Greuel jeglicher Art hat dazu geführt, dass man an den Wörtern zweifelt, ihrer Verwendung, ja ihrer Grundbedeutung misstraut, dass man kein Vertrauen mehr hat zur Erzähltradition: dem Thema, den fiktiven Figuren und dem allwissendem Autor, denn man befindet sich – wie Nathalie Sarraute sagt – im „Zeitalter des Argwohns“. Den Nachkriegsgenerationen, zu denen ich gehöre, wurde das Fragen und das Zweifeln vererbt. Es fällt schwer, wieder glaubwürdige Fiktionsformen und -Inhalte in Gang zu setzen und nach all diesen großartigen „Aufarbeitungen“ der Fiktion zu neuer Legitimität zu verhelfen.
Da Zweifel und Misstrauen dauerhaft und hartnäckig ihre Spuren eingegraben haben, sollten wir jetzt vielleicht den Konditional einführen, das Tempus der Mutmaßung, der Sehnsüchte und der Skepsis. Noch sind nicht alle Möglichkeiten fiktiven Erzählens ausgeschöpft.
Sie verändern sich von Generation zu Generation und gewinnen je nach Zeitumständen an Leben und Kraft. Die Ewigkeit ist noch nicht zu Ende.
Zu „Klaras NEIN“ will ich nicht viel sagen. Es gibt Dutzende ernsthafte und tiefsinnige Definitionen des Romanschriftstellers. Mir genügt ein recht banales und fragmentarisches Bild: Bei der Arbeit ist der Romanschreiber meiner Ansicht nach ein Schwamm. Das sollte man vielleicht nicht zugeben, es ist auch nicht sehr angenehm, wie ich bezeugen kann, aber es ist sein quasi „normaler Zustand“.
„Klaras NEIN“ wurde in diesem Schwammzustand, aber auch in einem Unschulds-, nicht aber Naivitätszustand geschrieben. Dadurch war es möglich, den Figuren völlige Freiheit zu geben und ihre Worte – Ausdruck von Schmerz, Gewalt, manchmal auch Anmaßung – keiner Zensur zu unterwerfen. Sich zum Zensor über eine Figur zu erheben, wäre aus meiner Sicht, gelinde gesagt, eine Geschmacklosigkeit, wenn nicht gar, schlimmer noch, ein Beweis für Feigheit und Ungerechtigkeit.
Soviel zu den zwei Grundbedingungen, unter denen die Geschichte entwickelt wurde.
Nur ein Wort noch zur Erklärung der Beweggründe:
„Die Signatur eines Gedichts wie auch eines jeden Textes ist“ – wie Derrida es ausdrückte – „die Verletzung. Was da klafft, was nicht vernarbt, der Hiatus also, das ist der an der verwundeten Stelle sprechende Mund.“ Das ist in der Tat eine der Antworten auf die Fragen nach den Beweggründen. Und von allen Beweggründen ist dies der ursächliche und wichtigste. Er ist der unterschwellige, der im Dunkel bleibt, den man auch nicht unbedingt ans Licht holen sollte. Das gilt für alle Schriftsteller.
Und natürlich habe auch ich, die diese Epoche noch kennenlernen wollte, sie nicht begriffen.
Nichts zu begreifen hinterlässt Frustration, ist aber auch eine beruhigende Feststellung, denn was würde es denn bedeuten, wenn wir verstünden?
Lassen Sie mich zum Schluss noch Professor Kurt Hubers gedenken. Er lehrte Philosophie und schöpfte aus sich selbst und seinem Lehrstoff die Begründung für den Aufstand gegen geistige Verblendung und schändliches Tun. In jenen Zeiten, da das Denken dem Spott preisgegeben war, wusste er das Denkens hochzuschätzen. Unerschütterlich in seinen Überzeugungen, stellt er sich an die Seite jenes Grüppchens seiner Studenten, verfasst mit ihnen die Flugblätter, wird mit ihnen verhaftet und mit ihnen hingerichtet. Dieser Professor Kurt Huber hat sich nicht ins Schweigen zurückgezogen, in jenes verletzende Schweigen, über das unendlich hergezogen werden kann. Daher konnte er sich verdutzt und wohl auch bedauernd die Frage stellen, „was geschähe, wenn diese subjektive Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz würde.“ Er gab den Anstoß für die Zeit der Mutmaßungen und der schmerzhaften Fragen, die unbeantwortet blieben, weil es keine Antwort darauf gibt. Und voller Hoffnung und Überzeugung konnte er sich sagen: „Mein Handeln und Wollen wird der eherne Gang der Geschichte rechtfertigen, darauf vertraue ich felsenfest.“ Professor Kurt Huber hatte recht.
Und wir schulden ihnen allen Dank, all diesen Widerständlern der WEISSEN ROSE, Widerständlern unter vielen anderen, bekannten und unbekannten. Ich danke Kurt Huber, Willi Graf, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Hans Scholl und Sophie Scholl, die so junge Sophie, ich danke dem Geschwisterpaar, dessen Namen dieser so schöne Preis trägt. Ich danke aber auch all jenen, die hier und überall in Europa zur Rettung der Ehre und Würde des „Menschengeschlechts“, wie Robert Antelme sein Buch so treffend betitelt hat, beigetragen haben.
Und Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihr Kommen und Ihre Aufmerksamkeit.
Soazig Aaron, München 22.11.2004
Es gilt das gesprochene Wort.
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