Dr. phil., geboren 1957 in Istanbul, hat in Deutschland Volkswirtschaft und Soziologie studiert und über das Thema »Islam im Alltag« promoviert. Sie forscht zum Thema Parallelgesellschaften und berät u. a. die Hamburger Justizbehörde zu Fragen der Behandlung türkisch-muslimischer Gefangener. Sie wurde ins Projektteam der evangelischen Kirche berufen, das den Kirchentag 2005 in Hannover vorbereitete. Necla Kelek unterstützte eine Gesetzesinitiative in Baden-Württemberg, Zwangsheiraten unter Strafe zu stellen.
Preisträgerin 2005
Necla Kelek
Die fremde Braut
Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland
Kiepenheuer & Witsch
Köln 2005
ISBN: 3-462-03469-3
Autorin
Begründung der Jury
„Auf Erfahrungen in ihrer eigenen Lebensgeschichte gestützt, hat die türkisch-deutsche Soziologin Necla Kelek ein zorniges, aufrüttelndes Buch geschrieben: eine Streitschrift gegen den archaischen Sittenkodex der Zwangsheirat, für einen besseren Schutz der Opfer arrangierter Ehen und für das Recht auf selbstbestimmte Lebensführung. Ihr Appell zielt nicht in erster Linie auf gesetzliche Regelungen, so notwendig diese auch sind, sondern auf eine zivilgesellschaftliche Debatte über Normen und Werte im interkulturellen Dialog.
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Necla Kelek konfrontiert uns mit Verstößen gegen die Grundrechte von türkischen Bürgerinnen, die mitten unter uns leben und somit auch mit einer Frage, die ebenso unbequem wie unumgänglich ist: Wo verläuft in Deutschland die Grenze zwischen dem gebotenen Respekt vor kultureller Differenz und falsch verstandener Toleranz? Mit dem Einblick in die Praxis der Zwangsverheiratung und ihre Folgen gibt Necla Kelek ein alarmierendes Signal. Sie streitet für die Durchsetzung elementarer Rechte von Mädchen und Frauen, die aus der Türkei zu uns gekommen sind. Diese leben in unserer Nachbarschaft in ethnischen Enklaven, die von Außenkontakten weitgehend abgeschottet sind. Necla Kelek verbindet ihren Bericht mit einer radikal-kritischen Sicht auf bestimmte islamischen Traditionen wie auch auf den Gang und Stand der deutschen Integrationspolitik.
Mit Necla Keleks „Die fremde Braut“ wird ein Buch mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, das vom persönlichen Mut und der geistigen Unabhängigkeit der Autorin zeugt, bürgerliche Freiheit fördert, dem gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein Impulse gibt und einen wichtigen Beitrag zur Vertiefung der Integrationsdebatte leistet.“
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Verleihung
Am 14. November 2005 nahm Necla Kelek in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München den Preis entgegen. Oberbürgermeister Christian Ude und Dr. Rosemarie von dem Knesebeck, Vorsitzende des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde.
Die Laudatio hielt derJurist, Journalist und Publizist Heribert Prantl, dem der Geschwister-Scholl-Preis 1994 verliehen wurde. Der feierliche Festakt wurde von Aylin Aykan musikalisch umrahmt.
Ansprache von Rosemarie von dem Knesebeck
Magnifizenz,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Frau Dr. Necla Kelek,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Juroren des Geschwister Scholl Preises und Mitglieder der Weißen Rose,
Jahrhunderte lang hat Europa, allen voran seine Kolonialmächte, dem Rest der Welt gezeigt, was sauber, ordentlich, anständig, tüchtig und tapfer ist. Ob in Lateinamerika, Asien oder Afrika, wir Europäer hatten, wie Bob Dylan einst sang, Gott auf unserer Seite. Wir bauten Schulen, Krankenstationen und Kirchen, vor allem aber Warenkontore, denn darum ging es.
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Das Alte Europa - und bald auch die Neue Welt - bescherten den Hochkulturen unseres Planeten eine äußerst effiziente Verwaltung und ein ertragreiches Wirtschaftssystem. Für uns erfolgreich, ertragreich und effizient!
Und damit auch das Deutsche Reich nicht länger hinter den alten Kolonialmächten zurückstehe, entsandten wir vor gut hundert Jahren so genannte „Schutztruppen“ nach Deutsch-Südwestafrika. Deutsche Touristen, die heute nach Namibia reisen, sind noch immer begeistert, wie sauber und tüchtig die Farbigen etwa in Swakopmund sind, wie deutsch dieses Städtchen noch immer ist. General Lothar von Trotha sah die Afrikaner noch ganz anders:
„Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, daß sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terror und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Geld.“
Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen. In der festen Überzeugung, in seinem Kampf gegen den Terror, deutsche Tugenden und Interessen zu verteidigen, setzte des Kaisers General am Waterberg seine mörderische Strategie in die Tat um: „Schutztruppen“ besetzten Wasserstellen, attackierten das versammelte Volk der Herero von drei Seiten und verfolgten es auf seiner Flucht in die Wüste Omaheke. Obwohl wir als die besten „Vergangenheitsbewältigter“ gelten, ignoriert unser historisches Gewissen Fakten und unsere Empörung über die Menschenrechtsverletzungen wird oft zurückgehalten, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht: Wir schweigen zu Tibet, da wir unsere Güter und Dienstleistungen nach China exportieren wollen.
Die Frage stellt sich, wann hat das Alte Europa angesichts seiner eigenen blutigen Geschichte zu schweigen, wann darf es, nein, wann muß es Frauenrechte in Afghanistan einfordern, öffentlich Beschneidungen junger Afrikanerinnen anklagen und gegen Zwangsehen von Türkinnen in der Bundesrepublik einschreiten?
Wann wird Toleranz zur Mittäterschaft?
„Eine Kultur, die dem einzelnen die Menschenrechte verweigert, ist nicht demokratiefähig“, heißt es bei Necla Kelek in „Die fremde Braut“. Zunächst Ihnen, sehr geehrte Frau Kelek, herzlichen Dank für dieses Buch! Ihr „Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“ bricht ein Tabu und riskiert, politisch mißverstanden zu werden. Das ist gut so, denn wir brauchen Bücher, die Denkanstöße geben und sich nicht hinter sogenannter „politischer Korrektheit“ verstecken.
„Der soziologische Hintergrund der meisten Menschen ist klein wie der Boden einer Konservenbüchse“, schrieb Kurt Tucholsky vor 80 Jahren. „Sie wähnen sich im Himmel. Eine neue Gesellschaftsliteratur sollte sie aus diesen Träumereien reißen und ihnen die Erde zeigen, wie sie ist. […] Aber die Herren Schriftsteller haben keine Zeit, […] sie bauen eine Nebenwelt auf“.
Die Schriftstellerin Necla Kelek fand die Zeit und auch den Mut, sich mit allen Seiten anzulegen. Sie konfrontiert uns in ihrem „Bericht“ mit einer Wirklichkeit mitten in Deutschland, die wir nicht kennen, die sich uns verschließt und der wir uns verschließen.
Man bleibt in der Gesellschaft in der Regel unter sich. Jungen Türkinnen begegnen wir vielleicht in der U-Bahn oder im Hallenbad, aber selbst wenn wir uns einmal in die Straßenzüge rund um den Bahnhof verirren, können wir einen türkischen Laden nicht von einem arabischen oder kurdischen unterscheiden.
Als eine Kurdin vor sechs Jahren unter Pseudonym ihre autobiographische Erzählung „HennaMond“ bei Peter Hammer veröffentlichte, war die Zeit für diese Buch noch nicht reif. Kaum eine Rezension, lediglich ein „Lesezeichen“ im Bayerischen Fernsehen.
Fatma B. wuchs als Kurdin in Ostanatolien auf und kam im Alter von neun Jahren als Türkin unter die Deutschen. Es konnte nur besser werden, meinte sie, denn hinter ihr lagen Armut, Demütigungen und Gewalt. Vor ihr aber lag eine hoffnungsvolle Zukunft, wenn auch in einem fremden Land. Doch - ihre Identität als Kurdin brachte sie mit ins Ruhrgebiet. Nicht nur von Seiten der dort lebenden Türken und Deutschen, nein, selbst in der eigenen Familie begegnete sie Unverständnis, ja sogar Gewalt bis hin zu Morddrohungen, nachdem sie in die Ehe mit einem deutschen Arzt geflohen war. Lieber tot als mit einem Deutschen verheiratet. Das gebot die Familienehre. Inzwischen - Jahre nach „HennaMond“ - ist übrigens auch Fatma B.s deutsch-kurdische Familie zerbrochen. Kein Einzelschicksal, sondern eine Realität, in der viele junge Kurdinnen und Türkinnen in der Bundesrepublik leben.
Ein aus Anatolien nach Europa verschleppter Ehrenkodex, der grundlegende Menschenrechte verletzt und die Frau elementarer Rechte beraubt, kann und darf in einer Demokratie nicht geduldet werden. Es geht - auch beim ostentativen Tragen des Kopftuchs - um die Würde des Menschen, die durch Vergewaltigungen innerhalb der Familie, durch erzwungene Ehen mit Clanmitgliedern aus der Türkei auf grausame Weise verletzt wird. Die Morde an jungen Türkinnen in Deutschland zwingen uns zu handeln – ebenso wie wir es auf internationaler Ebene nicht hinnehmen können, daß der Iran den Staat Israel auslöschen will oder dies auch nur androht. Auf die familiären Morddrohungen gegenüber der Kurdin Fatma B. folgten die Morde an jungen Türkinnen in Berlin. Wir dürfen dabei nicht tatenlos zusehen.
Die in Istanbul geborene Soziologin Dr. Necla Kelek motivierte Unrecht, das im Namen des Koran begangen wird, zu ihrem „Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland“. Doch „Die fremde Braut“ ist keine soziologische Studie, sondern arrangiert die erschütternden Geschichten junger Türkinnen, die nach Deutschland verheiratet wurden, zu „Dokumentarliteratur“. Gegenstand dieses Genres der 68er-Generation sind nicht mehr Arbeiterschicksale in Bottrop oder Bitterfeld, Keleks Dokumentarliteratur prangert Sklaverei zu Beginn des 21. Jahrhunderts an – Sklaverei mitten im sich stolz als liberal und weltoffen gebenden Hamburg. Die Autorin erzählt von „Importbräuten“. Ihre Geschichten stehen für das Los von über fünfzig von ihr befragten Türkinnen, die nach Deutschland verheiratet und hier isoliert wurden. Man nennt eine solche Ehesklavin „Gelin“ – „die, die kommt“. Doch sie kommen nicht nur, sie müssen auch bleiben. Es gibt für sie kein zurück. Mutig und unerschrocken kämpft Necla Kelek dafür, diese Zwangsehen in der Bundesrepublik unter Strafe zu stellen. Sie kennt die falsch verstandene Liberalität mancher Intellektueller, die gerne wegsehen und von Religionsfreiheit reden, während die Würde türkischer Frauen in Deutschland mit Füßen getreten wird. Natürlich weiß Frau Kelek, daß sie Applaus auch aus Kreisen der Neuen Rechten ernten wird, die ihr Buch propagandistisch ausschlachten könnte, dass Linke sie als politisch unkorrekt empfinden und sie sich dem Zorn der eigenen Leute aussetzt. Dennoch wendet sie sich entschieden gegen das Tragen von Schleier und Kopftuch. Sie entsprächen keineswegs der Latzhose aus den Anfängen der Frauenbewegung. Denn, so Kelek:
„Das Verschleiern sagt über die Trägerin aus: Ich bin ehrbar. Im Umkehrschluß heißt das: Alle nicht verschleierten Frauen sind unrein und damit eine Schande für die muslimische Gesellschaft.“
Keleks Resümee: Die bundesdeutsche Linke und Teile des liberalen Bürgertums seien längst muslimischer als die Muslime selbst. Und das ist nicht ganz untypisch für uns Deutsche. Erst soll am deutschen Wesen die Welt genesen, dann machen wir kehrt und sind plötzlich unter der Parole „Multikulti“ muslimischer als die Muslime.
Ich denke, wir haben mit dem Grundgesetzt einen Rahmen gesteckt, auch für die Parallelkulturen innerhalb der Bundesrepublik. Sie alle kennen aus ihrer Kindheit noch die bunten Knetstangen. Man kann aus ihnen farbige Figuren formen oder aber sie zu einem braunen Knödel vermengen. Es wäre bestimmten Kreisen sicherlich recht, wenn jedes Einrichtungshaus zwischen Oslo, Malaga und Budapest gleich aussähe, jeder Baumarkt und jeder Supermarkt. Überall die gleichen Waren, europaweit. Allüberall: multikulti, überall eine braune Knetmasse. Unser Mahlzeiten könnten wir dann in Tappas-Bistro-Kaffeehaus-Pizzeria-Pubs einnehmen und unsere Gerichte entsprächen dem gastronomischen Mix: Labskaus-Paella oder Irish-Stew-Moussaka und Spaghetti an Eisbein. Nein, Europa hat nur eine Chance, wenn es die kulturelle Identität aller wahrt, keine Ghettos entstehen läßt und klare Grenzen setzt. Haßtiraden in Islamschulen dürfen dabei ebenso wenig toleriert werden wie Zwangsehen junger Türkinnen.
Sie, Frau Kelek, haben uns ein Stück deutscher Realität erschlossen. Sie haben ein ergreifendes Buch geschrieben und eine Diskussion angeregt. Für all das danke ich Ihnen im Namen des Börsenvereins – Landesverband Bayern und gratuliere Ihnen zum Geschwister-Scholl-Preis 2005.
Rosemarie von dem Knesebeck, München 14.11.2005
Es gilt das gesprochene Wort.
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Ansprache von Christian Ude
Sehr geehrter Herr Professor Huber, vielen herzlichen Dank für die Gastfreundschaft zum wiederholten Male hier in der Ludwig – Maximilian - Universität, als deren Sprössling ich mir natürlich nicht verkneifen kann, den Rektor der ehrwürdigen Anstalt zu korrigieren: Wir vergeben hier den Geschwister-Scholl-Preis schon zum 26. Mal.
Und, meine Damen und Herren, verehrte Ehrengäste, genau das ist das Problem.
Der Preis ist durch viele Verleihungen charakterisiert worden - was in seinen Ausschreibungsbedingungen gar nicht drin steht, aber sich aus der Verleihungspraxis ergeben hat - als ein Preis, der vor allem Werke auszeichnet, die sich mit noch nicht aufgearbeiteten Aspekten des Nationalsozialismus auseinandersetzen.
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Das ist, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, der Regelfall gewesen, und deshalb denke ich, lauern heute fast hinter jeder Ecke scharenweise mögliche Missverständnisse. Und ich möchte gerne mit solchen Missverständnissen aufräumen, bevor sie ernsthaft aufkommen können.
Ein erstes Missverständnis wäre, dass jetzt endlich, fast schon im Sinne der Schlussstrichsehnsucht, mit der Aufarbeitung des Dritten Reiches Schluss sein könne, weil alles gesagt und alles geschrieben ist und weitere Aufklärung nicht mehr von Nöten sei. Diesem Eindruck, meine Damen und Herren, kann man gar nicht deutlich genug entgegentreten, das ist uns gerade im Vorfeld des 9. November wieder deutlich gemacht worden: Wenn in einer Strafverfolgungsbehörde ernsthaft argumentiert wird, ein Neonaziaufzug zur Ehrung der Täter des Hitlerputsches sei keine Verherrlichung des Nationalsozialismus, weil der doch erst zehn Jahre später, nämlich 33, angefangen habe, dann zeigt schon dieses Beispiel allein, dass selbst bei Vollakademikern in politischer Verantwortung noch weitere Aufklärung Not tut, also vom Ende der Aufklärungsnotwendigkeit keinerlei Rede sein kann.
Aber gleichwohl zeichnet der Geschwister-Scholl-Preis Werke aus, die von geistiger Unabhängigkeit zeugen, deren Veröffentlichung Mut verlangt aus, die sich für bürgerliche Freiheitsrechte einsetzen - und das soll nicht auf die Vergangenheit beschränkt sein. Auch der Laudator des heutigen Abends war schon mal ein Preisträger mit einem ungewöhnlich gegenwartsbezogenen Buch, das deshalb auch sehr kontrovers diskutiert worden ist. Nun setzt sich aber das heute zu ehrende Buch nicht mit deutscher Behördenwillkür oder Mehrheitsmeinungen der deutschen Gesellschaft oder Intoleranz im Lande auseinander, sondern mit Problemen, die bei einer Minderheit festgestellt, nachgewiesen und angeklagt werden.
Und da kommt unweigerlich die Frage: ist das statthaft? Ich denke, es ist nicht nur statthaft, sondern notwendig, ja überfällig - wenn wir dabei aber Missverständnisse vermeiden. Zum Beispiel das Missverständnis, hier ginge es um eine kulturelle Überlegenheit des Okzidents über den Orient. Davon, meine Damen und Herren, kann ja nun wirklich nicht die Rede sein, auch nicht beim Thema Zwangsheirat oder Missbrauch von jungen Frauen. Wir sollten deshalb, bevor hier ein Tonfall kultureller Arroganz auch nur hereinschleichen kann, ganz deutlich feststellen, dass es unserem Kulturkreis keineswegs fremd ist, dass Hochzeitspartnerinnen und –Partner sehr früh ausgesucht werden, und zwar nicht von den Brautleuten selbst, sondern zur Wahrung von Besitzständen. Das war über Jahrhunderte Tradition, ist Thema deutscher Literatur und zeigt, dass es diesen Ansatz, Hochzeiten als Instrument ökonomischer Interessen der Familien, der Altvorderen zu nutzen, auch hierzulande gegeben hat. Das ist zum Glück wohl ganz überwiegend Geschichte. Aber aktuelle Beispiele für den Missbrauch der Frau gibt es auch und das durchaus dort, wo unsere Gesellschaft am hemmungslosesten kapitalistisch ist. Um nur zwei Formen zu nennen: wenn es massenhaft Zwangsprostitution gibt, mit sehr jungen Ausländerinnen, die auch mit Versprechungen ins Wirtschaftswunderland Deutschland gelockt werden, dann aber nach brutal kapitalistischen Mechanismen zur Profiterzielung ihrer Schleuserbanden oder Zuhälter eingesetzt werden, dann ist dies ein beschämendes Zeugnis, was in unserer Werteordnung mit dem Mensch als Ware und als Produkt von Fremdbestimmung auch möglich ist.
Das entschuldigt und relativiert überhaupt nichts von dem, was im heutigen Buch festgestellt wird, aber es bremst uns, ehe eine kulturelle Arroganz auftreten kann. Und auch andere, die aus dem Ausland mit großen Illusionen herkommen, um geheiratet zu werden, erleben dann nicht immer bürgerliche Emanzipation in einer partnerschaftlichen Ehe, sondern Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse unterschiedlichster Art. Ich denke an die Ehe nach Katalog, die so häufig bei asiatischen Partnerinnen aus Elendsquartieren und armen Dörfern praktiziert wird. In unserer Geschichte gibt es selbstverständlich noch andere Formen, wie Frauen herabgewürdigt und instrumentalisiert werden.
Ich halte diese Feststellung (die letzten beiden waren auch Massenphänomene und reichen in unsere Gegenwart) für außerordentlich wichtig, damit bei diesem Thema, das richtig und notwendig ist, nicht ein falscher Zungenschlag hereinkommt, der pauschal verletzt, pauschal herabsetzt und neue interkulturelle Probleme aufwerfen könnte.
Wir haben Gewalttaten erlebt, die beispiellos sind und etwas mit einem pervertierten Ehrenkodex zu tun haben, nämlich dann wenn ein Ehrenmord wie in Berlin geschieht oder wenn sogar eine sich widerstrebende Braut vergewaltigt wird, damit es überhaupt keine Alternative zur ausgewählten Zwangsheirat mehr gibt. Ganz sicherlich ist richtig, dass die Kriminalität nicht erst beginnt, wenn der falsche Ehrenkodex solche Straftaten hervorbringt, sondern dass schon vorher jede Art der Nötigung gegen den Willen der Betroffenen mit unserer grundgesetzlichen Ordnung unvereinbar ist, mit unseren Wertvorstellungen nicht in Einklang steht und deshalb bekämpft werden muss, auch wenn dies eine politisch und gesellschaftlich äußerst schwierige Aufgabenstellung ist. Darin, denke ich, muss in einer wertorientierten Gesellschaft Einverständnis bestehen. Auch wenn es in der Realität äußerst schwierig umzusetzen ist, schon weil es an den Kommunikationsmöglichkeiten mit den betroffenen Frauen fehlt, was ja eine der Folgen dieser Fremdbestimmung und Unterdrückung ist, dass sie gar nicht die Sprache des Gastlandes verstehen, dass sie gar nicht in Kommunikationsprozesse eingebunden sind, dass sie gar keine Gesprächspartnerinnen und -partner finden, denen sie sich mitteilen könnten, dass sie gar keine Perspektiven haben, die aus der Putzfrauenrolle für die zahlenden Schwiegereltern herausführen würde (Wobei die Schwiegereltern nicht die Putzfrau bezahlen, sondern den Brautpreis gezahlt haben und deswegen einen offensichtlich unbefristeten Anspruch auf niedere Dienste durchsetzen können).
Meine Damen und Herren, ein weiteres Missverständnis, das heute hinter jeder Ecke lauert, könnte sein, dass dieses Thema, ebenso wie die Unruhen in Paris und anderen französischen Städten oder zuvor das Attentat in den Niederlanden auf einen kritischen Filmemacher instrumentalisiert wird, um darzulegen, dass die Idee friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Kultur oder Religion von vorneherein eine Schnapsidee gewesen sei und jetzt endlich als gescheitert bezeichnet werden müsse. Wer so daher redet, auch wenn er gerade aktuellen Auftrieb durch aktuelle Konflikte erhält, weiß offenbar nicht, wie er zündelt.
Was soll denn die Alternative sein zum friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kultur, Herkunft, Hautfarbe, Religion? Eine Rückabwicklung von Wanderungsbewegungen, die die deutschen Arbeitgeber in den 60iger Jahren eingeleitet und der deutsche Staat vier Jahrzehnte lang aktiv betrieben hat? Eine Trennung von Milieus, wie sie ja in Frankreich gerade zu explosiven Situationen geführt hat, weil Ghettos besonders brandanfällig sind? Ich glaube, dass darüber Einverständnis bestehen muss: es gibt zum friedlichen Zusammenleben von unterschiedlichen Kulturen, die nun einmal durch jahrzehntelange Wanderungsprozesse durcheinander gewürfelt worden sind, überhaupt keine Alternative!
Aber dieses Zusammenleben ist noch schwieriger zu organisieren, als sich viele vorgestellt haben, als viele noch vor wenigen Jahren angenommen haben, deswegen müssen Integrationsanstrengungen viel früher ansetzen, viel konsequenter durchgesetzt werden, mit viel größerem Mittelaufwand verbunden sein und nicht nur an der Oberfläche dahinplätschern, denn die Entstehung von Parallelgesellschaften mit eigenem Wertekanon ist eine bittere Realität und auf Dauer nicht hinnehmbar. Das und nichts anderes ist meines Erachtens die Konsequenz dieses großartigen Buches, das heute vorgestellt wird. Großartig, weil es ein verdrängtes Thema aufspießt, darstellt, unter die Leute bringt, das wir einfach ignoriert haben. Nicht durch aktive Verdrängung, sondern durch schlichtes Nichtwissen, weil diese Familien mit den gekauften Bräuten so abgeschirmt leben, dass wir tatsächlich die internen Verhältnisse, die Lebensläufe, die fehlenden Bildungs- und Arbeitchancen überhaupt nicht mitbekommen.
Und insofern ist dies im besten Sinne der ursprünglichen Zweckbestimmung des Geschwiser-Scholl-Preises ein Buch, das sich durch Mut auszeichnet, in Ihrem Fall auch noch durch den Mut der so genannten Nestbeschmutzung - ein Vorwurf den jede Gruppe erhebt, wenn eigene Defizite plötzlich öffentlich thematisiert werden. Aber es ist auch ein Buch, das sich für bürgerliche Freiheitsrechte einsetzt und damit präzise der Aufgabenstellung des Geschwister-Scholl-Preises entspricht. Ich verstehe das als einen Appell, dass die Diskussion, die viele Jahre unterlassen wurde, aus Nichtwissenheit oder aus Verklärung der Umstände, jetzt endlich nachgeholt werden muss und dass wir dann die Anstrengungen der Integration verstärken, und zwar buchstäblich in allen Phasen.
Das beginnt bei den Kleinkindern und multikultureller Erziehung in den Kinderkrippen, das geht weiter mit den Programmen wie „Mutter lernt Deutsch“, damit die Mütter dieser türkischen Familien endlich am Willensbildungsprozess im Lande, am öffentlichen Diskurs, auch an der Diskussion von Wertvorstellungen, teilnehmen können und mitbekommen, welche Werte zur Verfügung stehen, um sich auf sie zu berufen. Und es geht weiter damit, dass wir den jugendlichen Türken Perspektiven eröffnen müssen, um über abgeschlossene Ausbildungen und ernsthafte Berufschancen den Einstieg in die Moderne wirklich hinzubekommen. Nur zu fordern, sie mögen sich der Moderne öffnen, obwohl sie in der Realität dort keine Chancen haben, wird beim Appell bleiben. Erst mit der Eröffnung realer Perspektiven werden wir die Chance haben, dass sich diese zum Teil erschreckend abgeschottete Minderheit auch tatsächlich öffnet.
Insofern danke ich Ihnen für einen Diskussionsanstoß, der dringend notwendig war und ich gratuliere Ihnen nicht nur zum Preis, obwohl der schon zu den höchst beachteten gehört, die in München verliehen werden, sondern vor allem zum Buch und seiner Wirkung. Ich wünsche Ihnen die Diskussion, die Sie mit diesem Buch anstoßen wollten, nicht nur in der türkischen Minderheit, sondern genauso in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Herzlichen Glückwunsch an Necla Kelek.
Christian Ude, München 14.11.2005
Es gilt das gesprochene Wort.
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Laudatio von Heribert Prantl
In einem Brief von Franz Kafka an Oskar Pollak aus dem Jahr 1904 findet sich eine schöne Passage über den Wert von Büchern. Sie geht so: „Ich glaube“, so schreibt Kafka, „man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt.“
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Necla Kelek hat so ein Buch geschrieben. Es wirkt auf uns wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt. „Die fremde Braut“ tut weh. Sie beißt, sie sticht. Das Buch ist wie ein Faustschlag auf den Schädel. Der soll uns aufwecken, uns die Augen öffnen – und uns zeigen, was wir nicht akzeptieren dürfen: Dass mitten unter uns Zehntausende von jungen türkischen Frauen wohnen, die das Wort Gleichberechtigung nicht sprechen, nicht schreiben und nicht leben können. Necla Kelek beschreibt und analysiert das Integrationshindernis Heiratsmigration, sie geißelt Zwangsheiraten und arrangierten Ehen, wie sie in der muslimisch-türkischen Gesellschaft in Deutschland gang und gäbe sind. Jeder zweite Türke in Deutschland sucht seine Partnerin in der Türkei. Die typische Import-Braut ist sehr jung, ungebildet und kommt vom Dorf, wird an einen fremden Verwandten in Deutschland verheiratet, lebt dort ohne Außenkontakte in der türkischen Gemeinde und lernt kein Wort Deutsch – mit katastrophalen Folgen für die Bildung der Kinder.
Necla Kelek unterscheidet nicht groß zwischen Zwangsheiraten und arrangierten Ehen, für sie sind das graduelle Unterschiede. Es geht ihr um das Grundproblem: Wie durch die Import-Frauen, wie durch die fremden Bräute ein archaischer Begriff von Ehre gepflegt und ein Familienbild tradiert wird, das mit dem Grundgesetz nichts zu tun hat. „Gelin“ heißt auf türkisch „die, die kommt“ – der Brautpreis ist Deutschland. Wenn die „Import-Gelins“ kein Wort Deutsch können: niemand aus ihren neuen Familien in Deutschland hat ein Interesse daran, dass sich das ändert. Im Gegenteil, denn dann erführe die Braut womöglich auch, dass sie in einer Gesellschaft lebt, in der sie Rechte hat. Importiert wird die Frau aber, so Necla Kelek, damit sie sich dem Mann unterwirft. Sie habe ihm Kinder zu gebären und den Haushalt zu führen. Necla Kelek scheut das Wort „moderner Sklavenhandel“ nicht. Wie gesagt: Das Buch ist wie ein Faustschlag auf den Schädel.
Faustschläge sind, wie jeder weiß, kein Mittel aus der Homöopathie. Sie gehören eher ins Arsenal des Doktor Eisenbarth, der bekanntlich die Leut’ nach seiner Art kuriert hat. Und wenn ich, als gebürtiger Oberpfälzer, das sage, ist das keine Kritik sondern eine eine Respektsbezeugung vor einem heute unterschätzten Landsmann: Johann Andreas Eisenbarth, geboren vor 343 Jahren im oberpfälzischen Oberviechtach, also in meiner Heimat, war der erfolgreichste Arzt seiner Zeit. Seine Methoden haben gelegentlich auch dort geholfen, wo die Schulmedizin versagte. Heute gilt er nur noch als Marktschreier. Wenn er nicht geschrieen hätte, hätte er nichts ausrichten können, hätte er die Patienten nicht erreicht.
Necla Kelek ist eine Frau Doktor Eisenbarth der deutschen Gesellschaft im Jahr 2005. Man darf nämlich auch schreien, man muss schreien über das Schicksal der 23jährigen Hatin Sürücü, die im Februar diesen Jahres aus ihrer Wohnung im Berliner Stadtteil Tempelhof gelockt und auf offener Straße von ihren Brüdern mit drei Kugeln hingerichtet wurde – weil sie sich von ihrer Familie losgesagt und als alleinerziehende Mutter ein westliches Leben führen wollte. Schreien befreit.
Necla Kelek schreit in ihrem Buch. Sie ist wütend und zornig. Sie mischt ihre Familiengeschichten, ihre schönen Erzählungen vom Sultan und den Gebräuchen ihrer tscherkessischen Vorfahren, mit ihrer Wut und mit ihrem Zorn über die muslimisch-türkische Gemeinde in Deutschland. Und wenn sie im sthenischen Affekt mit Sätzen zuschlägt wie dem, dass „eine Kultur, die dem einzelnen die Menschenrechte verweigert, nicht demokratiefähig“ sei, dann geht das selbst einem Mann wie Bundesinnenminister Otto Schily zu weit, der in jedem zweiten Interview vor Parallelgesellschaften warnt und die Assimilierung für die beste Form der Integration hält. Mit einem solchen Satz von der Integrationsfeindlichkeit der muslimischen Kultur bedient Necla Kelek vordergründig die Vorurteile einer aufgeschreckten deutschen Gesellschaft, erhält sie den Beifall ungebetener Freunde; den Beifall von denen nämlich, die noch immer nicht kapieren wollen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Diesen Beifall will sie natürlich nicht. Sie will, so verstehe ich sie, die Öffnung der muslimisch-türkischen Gesellschaft in Deutschland für die Aufklärung. Und daher schlägt sie zu, als gelte es, eine Bresche in eine Mauer zu schlagen. Vielleicht übersieht sie, dass gar nicht überall eine Mauer steht. Mir hat der Lehrer einer sogenannten „Türkenklasse“ an einer Berufsschule erzählt, wie er, nach dem Vorlesen aus Necla Keleks Buch, mit seiner Klasse ins Gespräch gekommen sei, wie es spannend geworden sei in der Klasse, wie es zu Diskussionen kam zwischen „Modernen“ und „Unmodernen“. Vielleicht meinte er, dient Keleks Beschreibung ihrer Befreiung der Hilfe zur Selbsthilfe seiner Schülerinnen und Schüler. Das war die Hoffnung, die er mit diesem Buch verband.
Necla Kelek rechnet ab mit dem Islam, wie sie ihn erlebt und erlitten hat. Die pauschalisierenden Sätze von Necla Kelek, die so tun als sei der Islam per se ein großes Integrationshindernis, entspringen ihrem Leiden an der ihrer Religion, an Zuständen, für die diese Religion mitursächlich zu sein scheint, sie entspringen ihrer Wut auf die starren Konventionen, ihrem Zorn darüber, wie wenig sich zu ändert scheint, sie entspringen auch dem eigenen Mädchenschicksal. Und trotz alledem ist auch die Autorin selbst ein Beispiel dafür, wie, selbst bei widrigen Umständen, Integration gelingen kann – und wie sie immer mehr gelingen muß. Vielleicht kann unsereins bei Gelegenheit des Buches auch einmal darüber nachdenken, seit wann bei uns, in der deutschen Gesellschaft, die Berufstätigkeit von Frauen allseits akzeptiert ist und seit wann Männer und Frauen in der Kirche nebeneinandersitzen und nicht streng auf zwei Seiten aufgeteilt..
Das Leiden Necla Keleks an der Religion, der man angehört, kann ich schon verstehen. Auch ich als Katholik habe mir meine Kirche und die von ihr verkündeten Meinungen so oft anders gewünscht. Und oft war und bin oft zornig auf sie und auf ihre Sturheiten. Mit ist bei Necla Keleks Islamkritik Tillmann Mosers „Gottesvergiftung“ aus dem Jahr 1976 eingefallen, ein Buch, in dem der Psychanalytiker mit seiner eigenen religiösen Geschichte abrechnete und Gott ins Kreuzverhör nahm. Heute sagt er von seinem Buch, es käme ihm ein Stückchen hochmütig vor, heute sucht er ein neues, für ihn tragbareres Fundament der Religiosität. Er findet es in einem „freundlichen Gottesbild“ und der „Fähigkeit zur Andacht“.
Vielleicht darf man, wenn es um Necla Keleks generalisierende Bedenken über das Zueinanderpassen von Islam und Demokratie geht, an dieser Stelle darauf verweisen, wie es um das Verhältnis von Demokratie und christlicher Religion, von demokratischem Staat und christlicher Kirche bestellt ist: Es ist noch nicht so arg lang her, dass die christlichen Kirchen ihren Frieden mit der Demokratie gemacht haben. Es war der Rechtsgelehrte und spätere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, ein bekennender Katholik, der im Nachkriegsdeutschland der Amtskirche fundiert auseindersetzte, dass sie sich, wenn sie den pluralistischen Staat ernst nimmt, „aus dem Kampf und aus den Auseinandersetzungen der politischen Gruppen soweit nur irgendmöglich herauszuhalten“ habe, dass sie zu allen politischen Gruppierungen in gleicher Weise Kontakt suchen und für alle offen sein müsse. Der philosophische Rechtsgelehrte Böckenförde hat einer Kirche, der, ja es war wirklich so, die Demokratie suspekt war, mit dieser Demokratie versöhnt – auch indem er die Kirche als einen der unverzichtbaren Orte der Wertebildung beschrieb. Man sieht: Auch christliche Kirchen und Demokratie leben noch nicht so arg lange in Eintracht und Frieden miteinander. Ecclesia est semper reformanda, sagt da der Katholik. Ich könnte mir vorstellen, ich wünsche mir, dass es so einen Satz auch auf arabisch und auf türkisch gibt.
Unser Thema ist Integration. Auch dieser Preis, der Geschwister-Scholl-Preis an Necla Kelek, ist ein Beitrag dazu, er ist ein Akt der Integration. Er integriert die Einwanderungsgesellschaft in die Geschichte dieses Preises. Ich habe der Jury, die diesen Preis verliehen hat, nicht mehr angehört. Solange ich ihr angehörte habe, habe ich dafür geworben, bei der Preisverleihung nicht nur in die Vergangenheit zu schauen. Das Vermächtnis der Geschwister Scholl verpflichtet nämlich zu mehr: Es verpflichtet zu sorgsamer Beobachtung der heutigen Zustände und Entwicklungen. Es verpflichtet zum Handeln, wenn ein Teil der Menschen, die hierzulande leben, nicht als Bürger betrachtet und behandelt werden. Vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren behaupteten nicht nur Rechtsradikale, sondern Politiker etablierter Parteien, dass Ausländer keine Mitbürger seien. Nicht wenige lebten im Irrglauben, man könnte die Einwanderung wieder rückabwickeln. Um Integration wollte man sich daher nicht kümmern. Sprachkurse waren nicht wichtig. Warum sollte man „Gastarbeiter“ integrieren, warum sollten sie Deutsch lernen? Stattdessen legte man Rückkehrförderungsprogramme auf.
Politiker etablierter Parteien waren es auch, die damals Asylbewerberstatistiken in einer Manier präsentiert haben, in der hundert Jahre früher Kriegsminister die Aufrüstung eines feindlichen Staates nachzuweisen versuchten. Politiker der staatstragenden Parteien haben so versucht, den Rechtsradikalen das Wasser abzugraben. Sie haben sich daran beteiligt, die Feindbilder zu entwerfen, auf die sich der Mob dann gestürzt hat. Sie haben „Asylmißbrauch“ gerufen und vor der „durchrassten Gesellschaft“ gewarnt – und als das Echo aus Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen schallte, da erklärten sie, dass Deutschland ein ausländerfreundliches Land sei und bleibe.
Für die Kritik daran, für meine „Ermittlungen gegen die Bonner Politik“, wie der Untertitel meines Buches hieß, haben Sie mit 1994 den Gechwister-Scholl-Preis verleihen. Wenn ich heute, elf Jahre später, die Rede für Necla Kelek halten darf, dann ist das zum einen eine große Ehre für mich, zum anderen zeigt es mir, dass sich in diesen elf Jahren auch etwas positiv bewegt hat: Die sogenannten Ausländer, die Neubürger in Deutschland, sind vom Objekt zum Subjekt geworden.
Ich habe gesagt, Necla Kelek sei die Frau Doktor Eisenbarth der deutschen Gesellschaft von heute. Sie nutzt die Techniken, die es heute gibt. Sie handelt lege artis. Sie legt die Fehler der muslimisch-türkischen Gesellschaft in Deutschland unter ihr Mikroskop und betrachtet sie ganz genau. Und sie zieht uns, die Altbürger, zum Okular und sagt: guckt hinein. Sie scheut sich nicht, einen hohen Vergrößerungsfaktor zu nehmen. Das sollten wir uns zum Vorbild nehmen. Es geht um den Mut, unsere Fehler, die Fehler der deutschen, der eingesessenen Gesellschaft so ins Visier zu nehmen, wie die Preisträgerin das mit den muslimisch-türkischen Fehlern macht. Es geht mir hier also nicht um die Kritik an den Türken. Das macht unsere die Preisträgerin. Mir als einem der eingessenene Bürger in diesem Land geht es vor allem um die Fehler unserer deutschen Gesellschaft, die sich mit der Einwanderung immer noch so schwer tut, dass ihr selbst das Wort so schwer über die Lippen geht. Im einschlägigen Gesetz, das seit Beginn diesen Jahres in Kraft ist, wurde es durch „Zuwanderung“ ersetzt.
Es ist gut, dass wir dieses Gesetz endlich haben. Ich muß Ihnen aber sagen, dass ich mir davon viel mehr erhofft hätte. Dieses Gesetz, so wurde es vor Jahren angekündigt, sollte einen großen Teppich weben, auf dem künftig Integration stattfinden kann. Nun ist ein Topflappen daraus geworden. Aber was hülfe uns das schönste Gesetz, was hülfe der schönste und größte Teppich, wenn diese Gesellschaft nicht bereit ist, ihn auszurollen. Diese Bereitschaft kann man nicht legislativ verordnen. Sie muss wachsen. Sie müsste viel schneller wachsen. Seit Jahrzehnten leben nun die Türken in Deutschland. Gleichwohl könnte man den Eindruck haben, die Entdeckung der Türken sei eine Angelegenheit der vergangenen zwei oder drei Wochen. Seitdem in Frankreich die Vororte brennen, wird allenthalben die bange Frage laut, ob nicht auch in Berlin-Kreuzberg oder Gelsenkirchen ein Ausbruch der Gewalt bevorsteht. Wer sieht, wie es vielen Migrantenkindern in Deutschland ergeht, muss sich wundern, dass es keinen Aufschrei und keinen Aufstand gibt. In manchen Regionen, vor allem in den Großstädten, verlässt jedes vierte türkische Kind die Schule ohne Abschluss. Bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz gehen die meisten leer aus. Die Bildungschancen der Ausländerkinder sind nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland minimal. Schauen Sie in die Pisa-Studie. Dort entdecken sie die ganz neue soziale Frage in den Zahlen der Statistik. Die Antwort darauf: Die Schule wird wieder ein Ort der Schicksalkorrektur werden müssen.
Die Kids der Einwanderergenerationen haben Kompetenzen, die in der Schule wenig oder gar nicht honoriert werden: Kinder, die keinen Satz ordentlich schreiben und keine zwei Absätze ordentlich vorlesen können, schreiben blind unter der Bank SMS. Die Zwölfjährige spricht akzentfrei Deutsch und kann ebenso gut Italienisch und türkisch, weil ihre Eltern aus diesen Ländern kommen; nur ordentlich aufschreiben kann sie das nicht, was sie sagt. Aber sie wäscht ihre Wäsche selbst, weil die sich bei ihrer Mutter immer verfärbt. Andere Kinder bringen ihre Geschwister am morgen in den Kindergarten, müssen auch selbst dafür sorgen, dass sie ihre Schulsachen dabei haben – Dinge, auf die in den Mittelstandsfamilien die Eltern achten. Perspektiven bietet diesen bemerkenswert selbständigen Kindern die Hauptschule bisher nicht; sie ist ein Stigma. Ich sage es noch einmal: Die Schule muss wieder ein Ort der Schicksalskorrektur werden. Vielleicht hat erst die PISA-Studie klar gemacht, dass auch Schulpolitik ein Stück Ausländerpolitik ist.
Die Krux der deutschen Ausländerpolitik besteht darin, dass sie bis zum heutigen Tage nicht für die ausländischen Einwanderer gemacht wird, sondern für die Deutschen, für die deutschen Wählerinnen und Wähler. Sie waren und sind die Adressaten der deutschen Ausländerpolitik. Und im Umschlag mit dieser Adresse steckt auch noch eine partiell falsche Politik, eine Politik, in der sich alles um die innere Sicherheit dreht, eine Politik, die den Einwanderer vor allem als Störer begreift, eine Politik, die die Furcht vor anderen Kulturen fördert, statt sich über den Mehrwert zu freuen und ihn zu nutzen. Einwanderung hat Deutschland geprägt und verändert. Die meisten Deutschen machen es sich gar nicht bewußt, wie sehr. Wir reden fast ausschließlich über die Probleme der Einwanderung; die Reichtümer und Schätze, die unser Land dabei gewonnen hat – ich meine weniger Monetäres als Kulturelles – machen sie sich viele gar nicht bewusst. Ein Teil dieses Neues wird buchstäblich konsumiert, vulgo: verfressen.
Multikultur schmeckt hierzulande allen, so lange man sie essen kann. Wäre der Umsatz der ausländischen Gaststätten in Deutschland ein Gradmesser für die Integration der Ausländer in Deutschland, es könnte kaum bessere Werte geben. Indes: Integration ist nicht schon die Addition aller Döner-Buden in den deutschen Fußgängerzonen. Integration ist mehr als das In-Sich-Hineinstopfen von Dingen, die einem schmecken und mehr als die Annahme von Leistungen, die man gerade braucht. Als ich Jura studiert habe und wir im strafrechtlichen Seminar die Probleme diskutiert haben, die sich bei den Diebstahlparagrafen 242 ff Strafgesetzbuch ergeben, da sagte mein Professor über einen Dieb, der Nahrungsmittel stiehlt und sie sofort verputzt, den schönen Satz:; „Die Insichnahme ist die intensivste Form der Ansichnahme.“ Würde dieser Satz auch für die Einwanderungsgesellschaft gelten, dann wären wir schon erheblich weiter.
Nicht das In-Sich-Hineinstopfen, sondern das Sich-Annehmen ist Integration. Wie sieht dieses Einander-Annehmen aus? Die alten und die neuen Bürger werden miteinander die Zukunft gestalten und Geschichte schreiben müssen. Bundespräsident Johannes Rau hat es auf dem Historikertag 2002 so gesagt; „Was bedeutet Geschichte als Quelle für Identifikation und Identität in einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben? Wahrscheinlich werden sich die Hinzugekommenen auf ihre Weise die Geschichte zu eigen machen und gemeinsam werden wir einst eine neue gemeinsame Geschichte erzählen.“ Wir müssen uns also immer wieder bewusst machen, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben. Da beginnt mit der Erinnerung an die Geschichte der Einwanderung, eine Erinnerung, die bewahrt werden könnte zum Beispiel in einem zukünftigen deutschen Migrationsmuseum – einem Museum, das das historische Erbe der Einwanderer sichert und das uns lehrt, Einwanderung als kulturelles Kapital zu begreifen, das man pflegen muss, auf dass es sich verzinst, oder, schöner gesagt, Früchte trägt.
In regelmäßigen Abständen sucht die deutsche Politik nach der deutschen Leitkultur. Man sollte sich nicht darüber lustig machen, sollte das ernst nehmen – es ist dies vielleicht nicht Anlass zu schäumender Empörung, sondern ein Indiz für den späten, sehr späten deutschen Aufbruch in die Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft. Das Gros der etablierten Politik benimmt sich beim politischen Aufbruch in die Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft so, wie sich eine westdeutsche Familie in den fünfziger Jahren bei einer Urlaubsreise ins Ausland benommen hat. Damals, als die Westdeutschen die Welt zu entdecken begannen, als sie feststellten, dass die Welt hinter dem Brenner zwar schön ist, aber das Essen dort anders schmeckt, damals, in den fünfziger Jahren also, als der Urlaub an der Adria noch eine Art Expedition war, da begann die große Reise so. Die Familie nahm die Kernvorräte aus der Speisekammer. Sie packte eine gehörige Portion heimische Lebensart in den VW-Käfer und so war mit Hartwürsten und Schweinskopfsülze im Einmachglas das Überleben in der Fremde gesichert. So ähnlich ist die Politik in die neue Einwanderungsgesellschaft aufgebrochen. Sei hat den vertrauten Vorrat an Sprüchen mit auf die Reise genommen. Sie greift hinein ins Reservoir der Formeln vom Vater – und vom Abendland, sie nimmt also möglichst viel von der gewohnten politischen Verpflegung mit, um sich vor den vermeintlichen neuen Gefahren schützen, wo, wie man fürchtet, die Vergiftung droht. Das ist der Inhalt der Leitkulturdebatte. Sie ist eher rührend als gefährlich.
Auf dem Umschlag des Buches, das heute ausgezeichnet wird, steht der Satz, dass dieses Buch mit Multikulti-Illusionen aufräume. Das könnte ein missverständlichrer Satz sein. Ich weiß ja, dass Multikulti als Kampfwort gilt, dass es ein belastetes Wort geworden ist. Für mich war es immer ein Synonym für den Reichtum und das Miteinander, nicht für ein Nebeneinander oder Hintereinander der verschiedenen Kulturen. Und dieses Miteinander der verschiedenen Kulturen ist nicht Illusion, sondern Notwendigkeit. Wer Multikulturalität allerdings als einen Schleier, als einen Vorhang betrachtet, hinter dem sich Verstöße gegen die Grundrechte, gegen Menschenwürde, gegen Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verstecken dürfen, der missbraucht das Wort Kultur. Multikulturalität verlangt Hinschauen, nicht Wegschauen.
Homogenisieren und sterilisieren kann man die Milch, nicht die deutsche Gesellschaft. Deutschland war immer buntscheckig und ist in den vergangenen dreißig Jahren noch buntscheckiger geworden. Kulturelle Unterschiede sind ein Teil von Deutschland. Wer assimilieren will, der vergeht sich an diesem Teil der deutschen Identität. Die Politik hat diesen Tagen verkündet, dass man sich bei der Föderalismus-Reform geeinigt habe. Föderalismus ist die Kombination von Vielfalt und Einheit. Man sollte sich klarmachen, dass auch Einwanderung ein Teil des deutschen Föderalismus ist, dass Einwanderung diesem Föderalismus neues hinzufügt.
Die Leitkultur in Deutschland ist eine Kultur des Zusammenlebens, sollte es jedenfalls sein: Sie heißt Demokratie. Sie heißt Rechtsstaat. Sie heißt Grundrechte. Das klingt simpel. Aber der Alltag zeigt, dass es so simpel nicht ist. Diese Leitkultur fordert viel, nämlich Toleranz von beiden Seiten, von den Alt- und von den Neubürgern – und führt dann zur Integration. Toleranz bedeutet mitnichten, dass jeder machen kann, was er will. Toleranz heißt nicht Beliebigkeit, heißt auch nicht, das man für alles Verständnis haben soll. Toleranz ist nichts Schrankenloses. Sie kann nur innerhalb klar definierter Grenzen existieren. Wenn diese Grenzen nicht gesetzt und nicht bewacht werden, wird aus Wohltat Plage. Innerhalb dieser Grenzen gibt es, natürlich Multikulti – und wer sagt, dass Multikulturalität, Demokratie und Rechtsstaat sich nicht vertrügen, der ist töricht und verzichtet auf eine neue Quelle des Reichtums dieser Gesellschaft. Toleranz nimmt niemandem seine Religion, seine Kleidung, seine Lebensgewohnheiten weg. Toleranz setzt aber voraus, dass die heiligen Bücher, wie immer sie heißen, ob Bibel oder Koran, nicht über oder gegen die Leitkultur, gegen die Grundrechte, gestellt werden. Integration fordert also auch von Muslimen Toleranz – und eine Distanzierung vom Islam als einem zwingend vorgeschriebenen Rechtssystem.
Integration ist ein sensibler Prozeß. Mit Haudrauf und Wegdamit und Feldzügen wider die Ausländerei, wie sie vor 200 Jahren Johann Gottlieb Fichte gepredigt hat, wird nur eines erreicht: Die Minderheit flüchtet sich noch mehr ins Anderssein, nimmt zu einer aggressiven Ethnizität Zuflucht. Ein kluges Konzept sieht anders aus: Es wirbt um die Neubürger, es akzeptiert kulturelle Unterschiede. Und die Mehrheitsgesellschaft ist bereit, sich mit der Aufnahme der Neubürger auch selbst zu verändern. Aber sie pocht darauf, dass es einen gemeinsamen Rahmen gibt für alle, für die Altbürger und für die Neubürger: nämlich die Grundwerte der Verfassung und die deutsche Sprache.
Einwanderung kann sich doch nicht nur in den Einwohnermeldeämter und in den Gaststätten niederschlagen. Aneignung von Einwanderung sieht anders aus. Sie findet statt in den Lehrplänen und in den Schulbüchern, sie findet statt in den Theatern, sie zeigt sich auf den Programmen und Spielplänen der Staatsopern und der Nationaltheater. Deutschland muss eine Werkstatt der Kulturen sein. Da muss zusammengebaut, geleimt, gehämmert und gelötet werden, da sprühen Funken, wenn geschweißt wird, da müssen verschiedene Materialien kombiniert, da muss viel ausprobiert werden; da geht, weil viel probiert wird, auch etwas kaputt, aber es kommt immer wieder Ansehnliches heraus. Die Kindergärtner und Lehrerinnen müssen schon in ihrer Ausbildung auf einen multikulturellen Arbeitsalltag vorbereitet werden müssen. Es müssen mehr Lehrer aus eingewanderten Familien ausgebildet und eingestellt werden müssen. Und wenn einmal der Name Ügüzlük für einen Lehrer, einen Polizisten, einen Richter, Manager oder einen Journalisten so selbstverständlich sein wird wie Ulfkotte, Bauer oder Prantl, dann ist diese Gesellschaft da, wo sie hin muß.
Der Koalitionsvertrag der großen Koalition hat sich, bemerkenswert sachlich, mit dem Beitritt der Türkei in die EU befasst. Über diese Sachlichkeit, über diese Unaufgeregtheit bin ich sehr froh – weil das Gegenteil furchtbare innenpolitische Folgen haben könnte. Wie umgehen mit der Türkei, wie umgehen mit dem Islam? Als ich diese Frage vor zehn Jahren dem lebensklugen und aufgeklärten Wiener Altkardinal Franz König, einen der Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils darüber interviewt habe, wie man denn mit dem Islam umgehen solle, da hat dieser Mann gesagt: „Wir müssen miteinander leben lernen, nicht nebeneinander.“ Und dann sagte der alte Kardinal etwas Europäisch-Programmatisches: „Wir haben so viele verschiedene Kulturen auf heimatlichem Boden. Dieser Reichtum darf nicht nivelliert werden; er muss das vereinte Europa prägen. Der Reichtum der Sprachen, der Kulturen, der Traditionen, der Religionen, er muss hineingenommen werden in eine wirkliche Union.“ Und ich füge hinzu: Dieser Reichtum der Sprachen, der Kulturen, der Traditionen – er muss auch hineingenommen werden in ein modernes, demokratisches, tolerantes und zukunftskluges Deutschland.
Der heutige Abend, die heutige Preisverleihung ist vielleicht auch ein Beitrag dazu.
Herzlichen Glückwunsch, Necla Kelek.
Heribert Prantl, München 14.11.2005
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger
Dankesrede von Necla Kelek
„Wir haben das Recht, wenn wir Dostojewsky gelesen haben, an Goethe Kritik zu üben. Aber zunächst müssen wir ihn verteidigen.“
- Hans Scholl -
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Rektor,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Frau Dr. von dem Knesebeck,
verehrte Mitglieder der Jury,
sehr geehrter Herr Prantl,
1.
als ich davon hörte, dass sie mir hier in München den Geschwister-Scholl-Preis verleihen wollen, musste ich an die erste Tafel Schokolade denken, die ich in München bekam. Es war im August 1967, als ich, damals zehn Jahre alt, mit meiner großen Schwester und meinem kleinen Bruder nach einer dreitägigen Zugreise von Istanbul durch den Balkan auf dem Münchener Hauptbahnhof ankam.
Mehr…
Wir waren hungrig und orientierungslos. Unsere Mutter hatte uns am Bosporus in die Bahn gesetzt, mit Fahrkarten, der Adresse unseres Vaters in Niedersachsen, einem Essenskorb und der strikten Anweisung, mit niemandem zu sprechen, höchstens mit einem Menschen, der eine Uniform trüge. Unsere Verpflegung hatten wir bereits kurz hinter der bulgarischen Grenze aufgezehrt.
Wir hatten gehört, dass es in Deutschland fahrende Treppen und drehende Fenster gab, vor allem aber war es für uns das Land von Hänsel und Gretel, und Rotkäppchen und dem bösen Wolf. Außerdem hatte uns mein Vater bei seinem letzten Besuch in der Türkei die deutsche Nationalhymne vorgesungen: „Wenn ihr die könnt, dann seid ihr drin in Deutschland.“ Nun standen wir mit leeren Magen und dem „Lied der Deutschen“ in der Tasche auf dem Bahnsteig in der großen schwarzen Halle, als hätten wir uns im Wald verlaufen. Mein kleiner Bruder heulte, denn noch schlimmer als Heimweh war sein Hunger. Ein Bahnschaffner kümmerte sich um uns, setzte uns in den richtigen Zug und schenkte uns, kurz bevor der Zug losfuhr, eine Tafel Schokolade. Unsere erste. Wir waren gerettet und konnten es gar nicht fassen, dass man uns zur Begrüßung so etwas Köstliches schenkte.
Ich möchte mich bei der Jury, bei der Stadt München, der Börsenverein des deutschen Buchhandels- Landesverband Bayern, für die große Ehre bedanken, mich mit dem Geschwister-Scholl- Preis auszuzeichnen.
Und zusammen mit meinem Bruder Rahmi, der zu diesem Anlass aus Istanbul gekommen ist, möchte ich mich auch bei dem unbekannten Bahnschaffner für die herzliche Begrüßung, mit einer Tafel Schokolade bedanken. Sie war eins der schönsten Geschenke, die ich erhalten habe.
2.
Nachdem sich die große Rührung, die diese Auszeichnung in meiner türkischen Seele ausgelöst hat, ein bisschen legte, habe ich nachgedacht, worüber ich hier sprechen möchte. Ich habe mir die eindrucksvolle Reihe der Reden der vor mir Geehrten angesehen, aber als erstes habe ich die Briefe und Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl gelesen. Und Hans Scholl hat mich auch auf das Thema gebracht, über das ich mit Ihnen sprechen möchte. In seinem Rußlandtagebuch findet sich am 22.8. 1942 folgender Eintrag:
„O ja, Sie verteidigen die europäische Kultur, mein Lieber, obgleich sie selbst unter Kultur ihre Nagelfeile und Ihr Wasserklosett verstehen, vielleicht auch ihre kleine Vormachtstellung vor anderen und ihre Briefmarkensammlung. Und Goethe, Schiller, was ist mit diesen beiden Fixsternen am deutschen Nachthimmel…?.
(und dann, ein paar Zeilen später:)
Wir haben das Recht, wenn wir Dostojewsky gelesen haben, an Goethe Kritik zu üben. Aber zunächst müssen wir ihn verteidigen. Wir müssen ihn schützen, in dem wir uns selber schützen.“
Ich möchte mit Ihnen über Deutschland sprechen.
3.
Ich lebe jetzt seit 37 Jahren in diesem Land, bin hier zur Schule gegangen, habe hier einen Beruf erlernt, habe studiert, gearbeitet, unterrichtet, geforscht, geschrieben, habe geheiratet, wurde geschieden , bin Mutter eines zehnjährigen Jungen , habe inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft, ich liebe meine kleine und meine große Familie … und ich liebe Deutschland.
Ja, sie haben richtig gehört … ich liebe dieses Land.
Ich kann ihnen auch sagen warum. Dass ich heute hier stehe und alles, was ich im Laufe meines Lebens an persönlicher Freiheit gewinnen konnte, habe ich der deutschen Gesellschaft zu verdanken. Sicher, ich habe mir Freiheit erkämpfen müssen gegen meinen Vater, der dies nicht ertragen konnte, und ich hatte einen großen Bruder, der mir die Freiheit ließ, aber dass ich mir die Freiheit nehmen und wie mein kleiner Bruder leben konnte, habe ich der Verfassung dieses Landes zu verdanken.
Und den Menschen, die diese Kultur leben und verantworten.
Es war meine Lehrerin, die dafür sorgte, dass ich wieder zur Schule ging; es war der Personalchef, der sich weigerte, mich mit 14 in seiner Werkstatt zu beschäftigen;
es war die Gewerkschaftssekretärin Gilbert Lebien, die meine Mutter überredete, dass ich an Seminaren teilnehmen durfte;
es waren die Kollegen, die mich zur Jugendvertreterin wählten;
es war meine Wohngemeinschaft, die mir abverlangte, für mich und andere verantwortlich zu sein.
Aber es war auch die Literatur und das Studium, die mich zu diesen Schritten ermutigten, die mich kritisches Denken lehrten. Die Frage „Warum?“ kam in meiner Erziehung wie auch in der muslimischen Gemeinde, in der ich groß wurde, nicht vor. Und so war mein Weg in die Freiheit auch ein Prozess, der von einer sehr grundsätzlichen inneren und äußeren Auseinandersetzung begleitet war. Ich habe mir meine Freiheit erkämpft, aber um mit ihr etwas anfangen zu können, musste ich lernen. Meine Freiheit entstand aus Zweifel, Neugier und Kleinmut.
Ich war oft verzweifelt und nur manchmal mutig. Heute muss ich nicht mehr mutig sein, denn ich bin nicht allein. Es ist die deutsche Gesellschaft, die dem kleinen Mädchen aus Istanbul den Zweifel, das Vertrauen, den Mut und die Freiheit schenkte.
4.
Ich war neunzehn Jahre alt, Auszubildende zur technischen Zeichnerin in einer LKW-Fabrik und Jugendvertreterin der IG Metall, als ich 1977 eingeladen wurde, an der Preisverleihung der Carl-von Ossietzky-Medaille teilzunehmen. Preisträger war der Widerstandskämpfer und legendäre Gewerkschafter Willi Bleicher. Als er zu Ehren Ossietzkys, dem Journalisten, der den Friedensnobelpreis verliehen bekam und ihn nicht entgegennehmen konnte, weil er im Konzentrationslager saß, einen Kranz niederlegen wollte, stand ich einige Schritte von ihm entfernt. Er blickte sich kurz um, bat mich, ihm zu helfen. Danach drückte er mir die Hand und sagte: „Danke“.
Diese persönliche Begegnung und die ständige Präsenz der Auseinandersetzung um Verantwortung und Schuld der Deutschen haben mich überzeugt: es gibt in der Geschichte wohl kein Volk, das sich so offen seiner Geschichte gestellt hat, wie in den letzten dreißig Jahren das deutsche. Die Verantwortung für das, was während des Faschismus geschah, sind in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt. Von Forschungsprojekten bis hin zu Schülerwettbewerben, von Mahnmalen bis zu öffentlichen Debatten ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte ständig präsent. Das geht manchmal so weit, dass diese Gesellschaft sich selbst nicht traut, stolz auf das zu sein, was sie sich an zivilen Werten in den vergangenen sechzig Jahren erarbeitet hat. Stolz auf dieses Land zu sein, ist den meisten Deutschen immer noch verdächtig. Manchmal fehlt ihnen ein wenig von dem Selbstwertgefühl, das andere im Übermaß vor sich hertragen.
Und zuweilen hindert dieser Mangel an Stolz die Deutschen auch, Missstände anzuprangern, die sie wahrnehmen, besonders wenn es um Menschen aus anderen Kulturen geht. Die Deutschen hätten kein Recht dazu, diese Meinung ist unter den Deutschen selbst weit verbreitet. Die Angst, an andere Maßstäbe anzulegen, die man für sich selbst für selbstverständlich hält, führt dazu, dass Freiheitsverletzungen akzeptiert werden, die nicht akzeptabel sind.
5.
So wird es als fester Bestandteil einer anderen Kultur akzeptiert, wenn Eltern ihre Kinder von der deutschen Gesellschaft fernhalten, beim Schwimmunterricht und bei Klassenreisen fehlen lassen, wenn Jungen und Mädchen getrennt aufwachsen sollen, wenn Jungen zu Wächtern der Familie erzogen werden, wenn die Eltern bestimmen, wann und wen die Kinder zu heiraten haben. Es wird eine archaische, oft religiös begründete Kollektivkultur akzeptiert, die elementare Rechte der Verfassung verletzt.
Eine Untersuchung des Bundesministeriums für Familie hat 150 türkische Frauen befragt. Jede zweite Frau gab an, dass ihr Ehepartner von den Eltern ausgesucht wurde, jede vierte kannte den Partner vor der Ehe nicht, und zwölf von den 150 Frauen fühlten sich zur Ehe gezwungen. Auch heute – und ich betone, dies sind keine Ausnahmefälle - sind in diesen Kreisen Mädchen faktisch im Besitz der Väter und Brüder, man nennt sie die „Ehre der Familie“, und passt auf sie auf.
Ältere bestimmen über ihr Leben, entscheiden ob sie zur Schule gehen und wen sie heiraten. Ich selbst habe als junges Mädchen in Deutschland miterlebt, wie eine Freundin in der Nachbarschaft über zehn Jahre lang im Haus festgehalten wurde. Dieses Mädchen durfte nicht zur Schule, weil ihre Eltern arbeiteten und sie auf den jüngeren Bruder aufpassen musste. Und mit 16 Jahren wurde sie in die Türkei geschickt und dort verheiratet. Was für ein Leben hat dieses Mädchen gehabt? Ihm wurde jedes Recht auf ein eigenes Leben bestritten, ihm wurde Bildung und Selbstbestimmung verweigert.
Die Ehe ist im Islam kein Sakrament sondern ein zivilrechtlicher Vertrag zwischen zwei Familien. Und dass geheiratet werden muss, ist in der türkisch-muslimischen Gesellschaft keine Frage. „Verheiratet die Ledigen!“ steht im Koran, und die Familienoberhäupter nehmen diese Aufforderung wörtlich. Den jungen Menschen wird das elementare Recht vorenthalten, selbst zu entscheiden, ob, wen und wann sie heiraten. Und es mag in diesem Zusammenhang unwichtig sein, aber ich glaube, es ist keine verklärte Romantik: Damit wird ihnen auch die Liebe vorenthalten. Sie dürfen sich nicht verlieben. Ein Kontakt, ja selbst ein harmloser Flirt zwischen jungen Männern und Frauen ohne die Ehe ist nach traditioneller Auffassung undenkbar, ein Verstoß gegen den Sittenkodex, der geahndet wird.
6.
Diese Mentalität, das Festhalten am türkisch-muslimischen Common Sense in der Fremde, führt zu der Situation, die wir heute in Deutschland bei mindestens der Hälfte der hier lebenden Türken haben. Sie leben in der Moderne, sind dort aber nie angekommen. Sie leben in Deutschland nach den Regeln ihres anatolischen Dorfes. Sie haben sich in ihren Glauben, in ihre Umma, eine Parallelwelt, zurückgezogen und reproduzieren sie, indem sie ihre Kinder so erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind, und sie mit Mädchen und Jungen ihrer alten Heimat verheiraten.
Die Folgen sind dramatisch. Mangelnde Individualisierung und Selbstverantwortung zieht mangelnden Bildungswillen nach sich. Wenn Eltern davon ausgehen, dass sie ihre Tochter mit 16 Jahren verheiraten, warum sollten sie dann in die Bildung dieses Kindes investieren, es Abitur machen oder studieren lassen? Es lohnt sich schlicht nicht. Mangelnde Verantwortung für die Zukunft, mangelnde Investition in die Bildung ihrer Kinder, reproduzieren immer wieder den eigenen sozialen Status – den man dann auch noch dem „Gastland“ vorwerfen kann. Und so relativiert sich auch die Mär von der türkischen Familie, in der sich alle so nahe sind, die Geborgenheit bietet. Diese Gemeinschaftist in vielen Fällen ein Kontrollsystem, in dem die älteren Männer bestimmen und kontrollieren, was die Familienmitglieder zu tun und zu lassen haben. Dort herrscht das Prinzip des Respekts und der Ehre, ein Jüngerer hat dem Älteren nicht zu widersprechen, und die Frauen sind die „Ehre“ sprich: Besitz der Männer und haben in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Es ist kein System der Fürsorge, sondern eine Besitzanzeige. Im Zweifelsfall entscheidet wie im Dorf die Großmutter, ob es angemessen ist, dass die Enkelin zur Schule geht. Keine guten Voraussetzungen für eine Demokratie, denn die braucht mündige Bürger. Und so ist letztlich an der Frage der Gleichberechtigung der Frau die Integration einer großen Zahl von Türken in Deutschland gescheitert. Und diese Erkenntnis ist um so bitterer, weil in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vielfältige Initiativen staatlicher, politischer und sozialer Politik darauf gerichtet waren, die Stellung der Frau zu verbessern. Diese Chance wird immer noch von zu wenigen genutzt. Die Männer befürchten, dass ihnen die Macht über die Frauen verloren geht. Sie folgen hier wie dort einem anderen Weltbild.
7.
Lassen sie mich deshalb ein wenig auf die türkische Seite der Medaille eingehen. Obwohl die türkische Verfassung die Schweizer Verfassung zum Vorbild hatte, und im Zuge der Reformen im Mai 2004 der Artikel 10 geändert wurde – es heißt jetzt „Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet, die Gleichheit zu verwirklichen“ – klafft eine große Lücke zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit. Und ich möchte aus soziologischer Sicht dafür eine Erklärung versuchen.
Ein Grund liegt in der grundsätzlich anderen Auffassung über die Aufgaben und die Funktion des Staates und der Familie im traditionellen islamisch-türkischen Gesellschaftsmodell. Der Islam kennt keine Trennung von Staat und Politik. Die ist vertikal, in Männer und Frauen, getrennt. Die Männer sind die Öffentlichkeit, die Politik, die Frauen die Privatheit, das Haus. Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ist Teil des traditionellen islamischen Weltbildes. Die Gesellschaft ist kein Ganzes mit Männern und Frauen, sondern es sind zwei Gesellschaften, die der Frauen und die der Männer. Wenn die Frau die Domäne der Männer, d.h. die Öffentlichkeit betreten will, muss sie sich nach dieser Auffassung verschleiern, um die Öffentlichkeit, sprich die Männer, nicht zu stören. Frauen stören, weil sie eine ständige Verführung für den Mann sind, vor der er geschützt werden muss, weil er sich so schwer beherrschen kann.
Der Staat ist dieser Auffassung nach der Mann, er trägt Verantwortung für das Land und regelt den politischen und wirtschaftlichen Rahmen für seine Bürger. Das Haus ist die Frau, sie soll im Haus Entscheidungen treffen, aber für das Haus trägt der Mann wiederum die Verantwortung. Er kann seine Kinder so erziehen, wie er möchte, und verheiraten, mit wem er will, der Staat mischt sich nicht ein. Wer in der Öffentlichkeit über die Angelegenheiten der Familie spricht, verletzt das Gesetz der Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen. Dieses – vereinfacht dargestellte - Weltbild wird ungebrochen gelebt, ganz gleich, welche Rechte es in der Verfassung gibt. Deshalb auch regen sich die Nationalisten und Islamisten und ihre Presse so darüber auf, dass „Fremde“ über die Armenienfrage und Zwangsheirat, über Ehrenmord und Gewalt in der Familie sprechen. Sie sind der Auffassung, das gehe keinen Fremden etwas an. Es ist eine Auffassung, die der von Max Frisch gegebenen Definition diametral entgegensteht: “Demokratie heißt, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.“
8.
In den modernen Gesellschaften trägt jeder eine Verantwortung für sich. Dem Individuum wird zugestanden und von ihm wird verlangt, sich zu kontrollieren und für sein Handeln verantwortlich zu sein. Es ist eine horizontale Trennung von Einzelnem und der Gesellschaft.
In der türkisch-islamischen Welt dagegen ist der Mensch ein Sozialwesen, der sich nicht selbst, sondern der Gemeinschaft gehört. Er trägt Verantwortung für die Anderen - der Ältere für den Jüngeren, die Männer für die Frauen, das Familienoberhaupt für die ganze Familie.
Wenn ich von „dem“ Islam spreche, begegne ich natürlich sofort einer Reihe von Einwendungen. Es gebe nicht „den“ Islam, sagt man. Es gibt Schiiten, Sunniten, Aleviten, Wahabiten, unterschiedliche Rechtsschulen etc., es gibt den „Euro-Islam“ wie den in Indonesien. Der Islam ist von seiner Anlage her keine Kirche, und es gibt die Herrschaft der Islamistischen Fundamentalisten ebenso wie die Auffassungen der Modernisierer wie beispielsweise Fatima Mernissi oder Youssef Seddik, der den Koran als zutiefst individualistische Metapher deutet.
Ich bin Soziologin, und mir geht es nicht um eine theologische Diskussion. Halten wir uns deshalb an das, was im Namen des Islam gelebt wird. Ich deute Religion als eine kulturelle Dimension. So wie es eine christliche Lebenseinstellung, ein Grundverständnis von Ethik, einen Wertekanon im Christentum gibt, gibt es auch diese kulturelle Dimension im Islam. Religion ist ein kulturelles System, das unserem Leben die Dimension des Transzendenten gibt. Religion vermittelt eine allgemeine Seinsordnung über die soziale Wirklichkeit hinaus.
In der türkisch-islamischen Gesellschaft gibt es spezifische Menschen- und Weltbilder, die eng mit der Religion verbunden sind und von ihr legitimiert werden: Aus der Vorstellung der Umma, der Glaubensgemeinschaft, leitet sich ein soziales Konzept von Gemeinschaftlichkeit ab, das der Gemeinschaft dem Vorrang vor dem Individuum gibt. Damit steht es im Gegensatz zum Bild von der Einzigartigkeit des Individuums in Gesellschaften christlicher Prägung, das deren Transformation zu demokratischen Gesellschaften erleichtert hat. Der Christenmensch wurde durch die Entdeckung des Gewissens zum verantwortlichen Einzelnen. Wer Verantwortung trägt, kann auch schuldig werden. Umgekehrt gilt auch: Ohne Gewissen keine Verantwortung. Die Frage der Individuierung ist von Gewissen, Moral und Werten nicht zu trennen – auch wenn wir das zuweilen zu vergessen drohen. Ohne diese hätten wir uns keine Gesetze, keine Verfassung, keine Grundrechte geben können.
9.
Zwar versuchten sowohl die rechten wie die linken politischen Kräfte der türkischen Republik, den Islam konsequent zurück zu drängen, aber sie setzten dem Kollektivgedanken dieser Religion kein Konzept der Stärkung individueller Rechte und individueller Emanzipation entgegen, sondern füllten ihn – ganz nach Gusto – mit neuen kollektivistischen Konzepten wie der kommunistischen Revolution, kurdischem Separatismus und türkischem Nationalismus. Die türkische Verfassung betont im Artikel 1 den „Frieden der Gemeinschaft“ und „den Nationalismus Atatürks“ – sie gewährt zwar in Artikel 12 Grundrechte, verpflichtet gleichzeitig jeden auf die Verantwortung der Gemeinschaft und der Familie gegenüber.
Dies mag auch ein Grund dafür sein, warum es bürgerliche oder liberale Parteien so schwer haben und nie eine wirkliche Bürgerbewegung entstand. Es gelang den Kemalisten nicht, den Staat auch und zuallererst als Schutzorganisation für die Rechte des Einzelnen zu definieren. Obwohl Atatürk den Islam hasste, leidet seine Idee der aufgeklärten Republik daran, dass er zwar den Staat säkularisierte, aber nicht als eine Gemeinschaft von Individuen, sondern weiterhin als Kollektiv organisierte. Das Prinzip der Umma, der in sich und nach außen geschlossenen Gemeinschaft, wurde nicht in Frage, sondern auf den Kopf gestellt und zum Prinzip des Türkentums erhoben.
Und dieses Prinzip, ich nenne es den türkisch-muslimischen Common Sense oder nennen Sie es Leitkultur, wird mehr oder weniger „fraglos“ gelebt. Von strenggläubigen Muslimen, aber auch von türkischen Familien, die sich auf Nachfrage als republikanisch bezeichnen würden. In der Türkei und in der Migration.
10.
Ich habe vor zehn Jahren begonnen, mich mit dem Thema Migration und Integration zu beschäftigen. Ich ging davon aus, dass die säkularisierte, demokratische und soziale Zivilgesellschaft eine Chance für die Migranten und vor allem für deren Kinder darstellt. Mein Studium habe ich mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung finanzieren können, wofür ich sehr dankbar bin. Meine Forschungen habe ich ohne öffentliche Unterstützung betrieben. Denn ich habe gegen die stillschweigende Übereinkunft der Migrationsforscher verstoßen, die darauf ausgerichtet ist „zu erklären, um zu verstehen und um zu helfen“.
Für sie sind die Migranten die Opfer dieser Gesellschaft. Wer sich mit einer solchen Position bescheidet, hat sich für eine Einbahnstraße entschieden: der Migrant, das abhängige Mündel der deutschen Gesellschaft. Praktisch bedeutete die Umsetzung dieser These in die Praxis: den Migranten wurde die Eigenverantwortung abgesprochen, das deutsche Sozial- und Schulsystem hatte für die Integration zu sorgen. Die Folgen sind nicht mehr wegzudiskutieren: die Integration eines großen Teils der Migranten ist auch wegen dieses falschen Politikansatzes gescheitert.
Ich halte aber die Verantwortung des Einzelnen, die des Wissenschaftlers ebenso wie die des Migranten, für das Gelingen der Integration für unverzichtbar. Ohne Zweifel, wir müssen fördern, aber wir müssen auch den Willen zu Integration einfordern.
Wir müssen mehr wissen über diese muslimische Parallelgesellschaft mitten in Deutschland. Wir müssen wissen, was in den Koranschulen gelehrt wird, wir müssen wissen, was die Hodschas in den Moscheen predigen, wir müssen wissen, warum sie so wenig mit den Deutschen zu tun haben wollen, warum sie so oft ihre Kinder nicht zur Schule schicken, ihren Töchtern die Teilnahme am Sportunterricht und den Klassenfahrten verweigern, warum sich Mädchen das Kopftuch anlegen – wir müssen mehr wissen über ihre Werte, Einstellungen und Motive. Wir müssen hingucken und uns eine ganze Menge einfallen lassen, wie wir die Muslime aus dem Getto der Parallelgesellschaft herausholen und ihnen eine aktive Integration abverlangen können.
11.
Ich forsche und schreibe, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen. Ich könnte es nicht allein.
Ich danke meinem Partner Peter Mathews, der an mich glaubt und mich unterstützt, ich danke meiner Lektorin Ingke Brodersen, die mir den Weg bereitete,
ich danke meinem Verleger Helge Malchow und den Mitarbeitern des Verlages Kiepenheuer und Witsch, besonders Gaby Callenberg, Lutz Dursthoff und Eva Betzwieser, dafür, dass sie meine Sache zu ihrer Sache gemacht haben, denn ohne sie, hätten meine Arbeit die Öffentlichkeit nicht erreicht.
Lassen Sie mich noch einmal an Hans Scholl erinnern: „Wir haben das Recht, wenn wir Dostojewsky gelesen haben, an Goethe Kritik zu üben. Aber zunächst müssen wir ihn verteidigen. Wir müssen ihn schützen, indem wir uns selber schützen.“
Die Auseinandersetzung mit dem, was uns fremd ist, ist wichtig. Es kann dazu dienen, den kritischen Blick für das Eigene zu schärfen, aber es sollte uns auch das erkennen lassen, was an dem Eigenen schützenswert ist. Und dieses müssen wir bereit sein, auch zu verteidigen ( – andernfalls gäben wir uns selber preis). Erst dann, und nur dann, kann ein Dialog entstehen, in dem sich zwei, Ich und der Andere, respektvoll begegnen, in dem beide aufgehoben und in ihren wechselseitigen Rechten respektiert sind. Und darum geht es – „Menschen zu schützen, nicht ihre Ideen“ , wie Salman Rushdie sagt, der wegen seines Buches „Satanische Verse“ von Khomeini mit einer Fatwa überzogen wurde. Und er sagt weiter: „ Es ist völlig in Ordnung, dass Muslime – dass alle Menschen – in einer freien Gesellschaft Glaubensfreiheit genießen sollten. Es ist völlig in Ordnung, dass sie gegen Diskriminierung protestieren, wann und wo immer sie ihr ausgesetzt sind. Absolut nicht in Ordnung ist dagegen ihre Forderung, ihr Glaubenssystem müsse vor Kritik, Respektlosigkeit, Spott und auch Verunglimpfung geschützt werden. Die Trennung zwischen dem Individuum und seiner Überzeugung gehört zu den Grundlagen der Demokratie, und eine Gemeinschaft, die sie zu verwässern sucht, tut sich damit keinen Gefallen.“ (S.R. Überschreiten sie diese Grenze S. 411, Reinbek 2004)
Ich danke Heribert Prantl für seine bewegenden Worte und mit ihm bedanke ich mich ganz ausdrücklich bei den vielen Journalistinnen und Journalisten, die den Anstoß, den ich mit meinem Buch gegeben habe, aufgegriffen haben, über Gewalt, Zwangsheirat und Ehrenmorde zu berichten und damit politisch etwas bewegt haben.
Wenn allein in Berlin 6000 Mädchen und Frauen in den ersten zehn Monaten dieses Jahres den Mut hatten, Hilfe gegen Gewalt und Verheiratung bei Noteinrichtungen zu suchen, dann ist es diese Öffentlichkeit, die ihnen Mut gemacht hat , ihr Schicksal nicht mehr nur zu erdulden, sondern sich zu wehren.
Ich bedanke mich dafür, dass ich heute hier sein kann.
Necla Kelek, München 14.11.2005
Es gilt das gesprochene Wort.
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