Joachim Gauck, geboren am 24. Januar 1940 in Rostock, war von 1990 bis 2000 Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit. Er ist Ehrenvorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie« und lebt in Berlin. Joachim Gauck verlebte seine Kindheit in einem Dorf an der Ostseeküste. Später studierte er Theologie in Rostock und fand seinen Weg in die Kirche in Mecklenburg. Distanz zum DDR-System prägte seine Tätigkeit von Anfang an. Wie selbstverständlich wurde er Teil einer kritischen Bewegung und schließlich zu einer Symbolfigur im Umbruch von 1989. Nach dem Mauerfall übernahm Gauck politische Verantwortung, er wurde Abgeordneter im ersten freien Parlament der DDR und erster Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Der Kampf gegen das Vergessen und Verdrängen blieb als Redner und Kommentator sein großes Thema, auch als er nach zehn Jahren aus dem Amt ausschied.
Preisträger 2010
Joachim Gauck
Winter im Sommer – Frühling im Herbst
In Zusammenarbeit mit Helga Hirsch
Siedler Verlag
München 2009
ISBN: 978-3-88680-935-6
Autor
Begründung der Jury
Der Geschwister-Scholl-Preis wird Joachim Gauck für sein Buch Winter im Sommer - Frühling im Herbst verliehen. Es ist die Autobiografie eines Mannes, der wie wenige andere über seine Opposition zur DDR-Führung und die Aufarbeitung des DDR-Unrechts identifiziert wird. Der Theologe Gauck war erster Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit. Im Juni 2010 wurde Joachim Gauck überraschend zum Kandidaten für das Bundespräsidentenamt vorgeschlagen, er stellte sich zur Wahl, unterlag, seine Kandidatur aber hat eine Debatte ausgelöst, die auf ungewöhnlich deutliche Weise politische Sehnsüchte und Verwerfungen im Lande offen legte.
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Mit seiner klaren Haltung in Leben und Werk ragt Joachim Gauck aus dem politischen und gesellschaftlichen Mainstream heraus. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Debatten darüber, ob die DDR nun ein Unrechtsstaat gewesen sei oder nicht, noch voll im Gang. Joachim Gauck zeigt in seinem Buch, dass für ihn die Antwort ganz einfach ist: Die DDR-Führung nahm ihren Bürgern die Freiheit und das war unrecht. Die Freiheit ist ein hohes Gut, die engste Verwandte der Menschenwürde. „Doch ich wollte und will mir jene warme und tiefe Zuneigung zur Freiheit erhalten, die wohl nur versteht, wer sich lange und intensiv nach ihr gesehnt hat und in ihr magnetisches Feld geraten ist“, schreibt Gauck. Sehnsucht nach Freiheit – dies ist der Geist, der geeignet ist, dem Gegenwartsbewußtsein wichtige Impulse zu geben, und in dem auch die Geschwister Scholl gehandelt haben.
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Verleihung
Der Geschwister-Scholl-Preis wurde am 29. November 2010 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilian-Universität in München an Joachim Gauck verliehen. Oberbürgermeister Christian Ude und Wolf Dieter Eggert, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Laudator war Peter Schneider. Die Verleihung wurde von LovelyBooks aufgezeichnet.
Ansprache von Wolf Dieter Eggert
Magnifizenz,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Joachim Gauck,
sehr geehrter Herr Schneider,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
im Saale und aus der Jury,
seinem Dichterkollegen Walter Mehring schrieb Kurt Tucholsky 1932 folgende Widmung in den Satireband „Lerne lachen ohne zu weinen“: „Was ist der Unterschied zwischen Mussolini, Stalin u. Hitler? Ja wer das wüßte!“ Im selben Jahr schrieb Tucholsky „Weder eine Schulbehörde noch sonst eine Behörde hat das Recht, für Deutschland zu sprechen.
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Deutschland sind auch wir“. Dann kam Hitler an die Macht und der Nationalsozialismus schuf neue Behörden, von denen jede ihrerseits für Deutschland das Wort ergriff und damit Kurt Tucholskys Einwand - „Deutschland sind auch wir“ – verstummen ließ. Das „andere“ Deutschland ging ins Exil oder wurde in Gefängnissen und Lagern endgültig zum Schweigen gebracht. Schließlich entstanden mit der Befreiung vom Hakenkreuz zwei deutsche Staaten - mit neuen Behörden, die in Ost und West abermals behaupteten, für Deutschland zu sprechen. Doch für welches der beiden? Für welches „Drüben“, jenseits der Mauer? So wurde eines Tages aus Tucholskys Verdikt, keine Behörde habe das Recht für Deutschland zu sprechen, denn dieses Land seien stets auch wir - die Bürger - der Satz: „Wir sind das Volk!“. Dies war leider kein Schlusssatz unter dem Kapitel Deutschland und seine Behörden, aber es war ein Fanal.
Im Abgesang auf den finanziell wie moralisch bankrotten Staat DDR war damals eine Stimme unüberhörbar geworden, die Stimme Joachims Gaucks. Und plötzlich wuchs zusammen, was eigentlich gar nicht zusammenpasst: Der Volksmund verband den guten Namen eines Bürgerrechtlers mit dem Wort „Behörde“ zu „Gauck-Behörde“. „Behördengänge“, „Behördenfilz“, „Finanzbehörde“ – statt eines neuen Unwortes sollte mit Gaucks absoluter Integrität die Notwendigkeit eines weiteren deutschen Verwaltungsapparates gerechtfertigt werden - keiner Behörde im Sinne Tucholskys - sondern einer Dokumentationsstelle der Unmenschlichkeit und des Unrechts. „Gauck“ stand dabei für Zivilcourage, „Behörde“ für das Auswerten und Verwalten von über 200 Kilometern Spitzelakten.
Wer von Ihnen, meine Damen und Herren, Joachim Gaucks Erinnerungen „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ bereits gelesen hat, kennt die Hintergründe und den Geist, den der Träger des diesjährigen Geschwister-Scholl-Preises dieser Institution eingehaucht hat. „Seine“ Behörde, und es war von Anfang an tatsächlich „seine“ Behörde, sprach für sich und klagte an – dies durch ihre bloße Existenz. Ohne die verschiedenen Ausformungen des Totalitarismus in unserm Land gleichsetzen zu wollen: Nicht noch einmal sollten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungesühnt bleiben, sollten Täter und Zuarbeiter einer Diktatur einfach zur Tagesordnung übergehen können. Während sich durch den Zusammenbruch der DDR 90 000 hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter und 174 000 aktive Inoffizielle von der Geschichte überrollt und ertappt fühlten, brachen Dunkelmänner in die Archive des Ministeriums für Staatssicherheit ein, um nach Ganovenart sie belastendes Material verschwinden zu lassen. Wie schon in Nachkriegsdeutschland und der jungen Bundesrepublik wollte wieder einmal keiner dabei gewesen sein. Aus der deutschen Geschichte gelernt und sich ihr als erster „Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ gestellt zu haben, ist das Lebenswerk von Joachim Gauck. Seine im Siedler Verlag erschienenen Memoiren begeisterten die Jury und ließen sie ihm den Geschwister-Scholl-Preis 2010 zusprechen.
Feststeht, mit dem diesem Preis an Joachim Gauck traf die Jury wieder eine souveräne Entscheidung. Dafür möchte ich an dieser Stelle den Jurorinnen und Juroren ausdrücklich danken!
Den Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, den Intellektuellen und glänzenden Rhetoriker Gauck kannten wir bereits, dem Sohn wie dem Familienvater, dem Sinnsucher wie dem Theologen, kurzum, dem sensiblen Zeitzeugen kommen wir durch dessen Erinnerungsband „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ näher: Plaudereien reihen sich an Sentenzen, Utopien ergänzen die Retrospektive. Joachim Gauck erzählt uns, was er unter „Heimat“ versteht, und bekennt bei Lesungen gerne valentinesk-existenzialistisch: „Manchmal hatte ich Sehnsucht nach der Sehnsucht, die ihr Ziel verlor, als die Freiheit kam.“ Eine gaucklerische Synthese aus Karl Valentin und Jean-Paul Sarte. Joachim Gaucks Autobiographie ist keineswegs nur Meinungsbekenntnis und Rückbesinnung, sie läßt auch lachen. Im Gegensatz zu den Memoiren vieler Schauspieler, Berufspolitiker und anderer Medienstars sind Gaucks Erinnerungen sehr persönlich, ohne ins Private zu gleiten.
Geschildert werden Erfahrungen und Erlebnisse in drei deutschen Staaten, in drei politischen Systemen, zu denen Gauck für sich selbst stets eine einzige Haltung finden konnte und die der Geschwister-Scholl-Preisträger des Jahres 2010 mit seiner jüngst in Frankfurt gehaltenen Laudatio auf den Geschwister-Scholl-Preisträger 2008 so formulierte: „Und so steht nun, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ein Mann vor uns, dessen pure Existenz unserer ewigen Sorge, ob Leben gelingen kann, eine Antwort gibt. Darum macht uns die Begegnung auch glücklich. […] Menschen sind nicht dazu verurteilt, Opfer ihrer Umstände zu sein. Menschen haben eine Wahl. Menschen können sich selbst noch angesichts von Willkür und Diktatur eine Bewegungsfreiheit schaffen“, so Laudator Gauck über David Grossmann.
Lieber Joachim Gauck, Ihr leidenschaftliches Eintreten für Integrität, Gerechtigkeit und Freiheit ist zum Baustein bundesdeutscher Zeitgeschichte geworden. Ich gratuliere Ihnen herzlich zum Geschwister-Scholl-Preis!
Wolf Dieter Eggert, München 29.11.2010
Es gilt das gesprochene Wort.
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Ansprache von Christian Ude
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
der Geschwister-Scholl-Preis wird heute zum 31. Mal verliehen, zum 23. Mal hier in der Aula der Universität und ich muss sagen, so viel Unzufriedenheit habe ich, der ich schon 20 Mal teilnehmen durfte, noch nie erlebt. Wer das nicht glaubt, hätte sich vor den Türen aufhalten müssen, als erstmals massenweise Publikum zurückgeschickt werden musste, weil man für viele keinen Platz mehr hier in der großen Aula finden konnte. Damit hat sich jetzt hoffentlich auch Ihre Schrecksekunde gelegt.
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Es ist tatsächlich für den Preis eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, nach mehr als 30 Verleihungen wieder eine Wahl getroffen zu haben, die derart überzeugt und derartig viele Bürgerinnen und Bürger weit über die treue Gemeinde aller Preisverleihungen hinaus angezogen hat. Dazu der Jury, die viel zu selten genannt und gewürdigt wird, ein herzliches Dankeschön.
Persönlich freue ich mich besonders über diese Wahl, weil ich letztes Jahr unter dem Eindruck einer Veranstaltung über die demokratische und gewaltfreie Revolution 20 Jahre zuvor angeregt hatte, hier doch auch einmal die Zivilcourage zu ehren, die sich 1989 bewährt hat, und sich nicht ausschließlich auf die kritische Auseinandersetzung mit nationalsozialistischem Terror zu beschränken, so wichtig dieses Thema ist und auch bleibt. Und in der Tat macht die heutige Übergabe des Geschwister-Scholl-Preises deutlich, dass in Deutschland Zivilcourage auch nach 1945 gefordert war und immer noch gefordert ist. Es handelt sich um kein historisch endgültig abgeschlossenes Kapitel, dass der aufrechte Gang etwas Besonderes ist und Zivilcourage eine persönliche Tugend, die leider nur selten anzutreffen ist und deswegen besonders ermutigt werden sollte.
Hier, im Westen der Republik, ist uns, wenn wir gegen den Stachel löcken wollten, wenn wir eine Minderheitsmeinung vertreten haben, wenn wir uns gegen den Mainstream gestellt haben, relativ wenig abverlangt worden. Wie wenig, das sieht man erst, wenn man sich Lebensläufe aus dem östlichen Teil Deutschlands anschaut und da sind die Memoiren von Joachim Gauck ganz besonders aufschlussreich. Es zieht sich als roter Faden von der frühesten Kindheit durch sein gesamtes Leben, durch die Kindheit, die Schuljahre, die Studienzeit, die Zeit der Berufstätigkeit, bis hin zur Arbeit als Revolutionspastor 1989. Und danach war immer noch sehr Vieles aufzuarbeiten, was mit Unrecht zu tun hat. Ich glaube, dass die Lektüre für jemanden, der im sicheren Schoß eines demokratischen Rechtsstaats aufgewachsen ist, immer wieder beklemmend ist. Zum Beispiel 1951, die Verhaftung des Vaters, die einer Entführung gleichkam. Zwei Jahre später die Mitteilung an die Mutter, dass er wegen regimekritischer Tätigkeit zu unvorstellbaren 25 Jahren verurteilt worden ist. Und dann noch zwei Jahre später zwar die Rückkehr des Vaters, aber gezeichnet von den Jahren der Unfreiheit, abgemagert, körperlich geschwächt, aber eben nicht geistig gebrochen. Und für ein solchermaßen eingeschüchtertes Kind dann die Frage, ob man die kritische, die kompromisslose Haltung des Vaters trotz dieses erlebten Schicksals aufgreifen und fortsetzen oder doch lieber klein bei geben sollte.
Ich habe erst aus diesem Buch gelernt, dass es drei Wahlmöglichkeiten gab für einen so herangewachsenen jungen Menschen: entweder abhauen, was für ihn nicht in Frage kam oder irgendeine Lehre machen, fernab von allen akademischen Ausbildungen oder die dritte Option: Theologie studieren. Und für den letzten Weg hat er sich bekanntlich entschieden und dabei gleichzeitig erklärt, dass dies viele mit dem aufrechten Gang, zumindest der Sehnsucht nach dem aufrechten Gang, so gehalten haben, weil Theologie zu studieren eine der wenigen Möglichkeiten war, keine Kompromisse mit dem System zu schließen und doch eine qualifizierte Ausbildung zu genießen und eine anspruchsvolle Tätigkeit zu entfalten. Das erklärt uns, warum so viele Pastoren eine wichtige Rolle bei der friedlichen Revolution gespielt haben, warum Gebete in Kirchen ein ganz wichtiges Fundament für eine Freiheitsbewegung waren, die sich dann sehr kraftvoll entwickeln konnte. Es war für mich als Protestant, lieber Joachim Gauck, auch sehr trostreich, von dieser Rolle evangelischer Kirchenleute zu erfahren, denn man wird ja oft genug damit konfrontiert, dass im wilhelminischen Reich Wilhelm II. das Oberhaupt der evangelischen Kirche war, dass es im Dritten Reich nicht nur die bekennende Kirche gab und dass auch in Ostdeutschland mehr Kompromisse geschlossen worden sind, als man nachträglich wahrhaben will. Da tut das Beispiel der aufrechten Pfarrer schon sehr gut und es hat Maßstäbe gesetzt, die fortwirken sollten.
Nach dem Mauerfall, nach der Deutschen Einheit, haben Sie, wie ja schon gewürdigt worden ist, einer Behörde, die mit dem deutschen Obrigkeitsstaat überhaupt nichts zu tun hatte, aber sehr viel mit seiner Aufarbeitung, sogar Ihren Namen gegeben. Und diese Behörde steht auch heute noch, wenn jetzt in wenigen Wochen Frau Birthler aus dem Amt ausscheiden wird, für die Frage, wie lange wir die oft quälende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in Unrechtssystemen fortführen wollen? Die Antwort, für die Sie auch persönlich stehen, kann nur heißen: Es darf keinen Schlussstrich geben, nicht für braunes Unrecht, das der Geschwister-Scholl-Preis mit den meisten Ehrungen immer wieder in Erinnerung gerufen hat, aber auch nicht für Unrecht, dass in der DDR begangen worden ist von einem System der Unfreiheit. Hier gilt das Wort „Gegen Vergessen“ und es ist sehr erfreulich, dass Sie diesem Verein so viel Lebenszeit gewidmet haben, einem Verein, dem auch Hans Jochen Vogel, der Münchner Ehrenbürger auf die Beine geholfen hat, immer mit dem Hinweis, es gehe nicht ausschließlich um die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischem Unrecht, so sehr es uns gerade hier, in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung, beschäftigen muss. Es geht auch um Unrecht, dass im DDR-System begangen wurde und das nicht unter den Teppich gekehrt werden darf.
Insofern ist das heute eine Ehrung für ein Lebenswerk, das in Ihrem Buch eindrucksvoll persönlich beschrieben ist, aber es ist auch ein Appell, keinen Schlussstrich zu ziehen in der Auseinandersetzung mit Unrecht.
Wir danken Ihnen, dass Sie uns dazu ein so ermutigendes Beispiel gegeben haben.
Christian Ude, München 29.11.2010
Es gilt das gesprochene Wort.
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Laudatio von Peter Schneider
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Ude,
verehrte Angehörige und Überlebende der Weißen Rose,
lieber Joachim Gauck,
meine Damen und Herren!
Ich betrachte es als ein Privileg, an dieser Stelle Joachim Gauck, den Preisträger des Geschwister-Scholl-Preises des Jahres 2010, zu loben und zu würdigen. Dieser Preis ist einer der schönsten und ehrenvollsten Preise, den diese Republik zu vergeben hat, und Joachim Gauck ist ein Mann, der das Gewicht dieses Preises mit Würde, ja mit einer gewissen Lässigkeit tragen kann – man muss nicht lange überlegen, was er mit diesem Preis zu tun hat. Die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter stehen für eine Tugend, die in der Geschichte unseres Landes öfter beschworen als bewiesen worden ist. Er steht für die Verteidigung der Freiheit, wenn die Freiheit in Gefahr oder bereits abgeschafft ist, er steht für geistige Unabhängigkeit und für den Mut, an dem Anspruch auf die Freiheits- und Bürgerrechte festzuhalten – auch dann, wenn die Einlösung dieser Rechte aussichtslos erscheint.
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Immer noch stehen wir Nachgeborenen staunend vor dem Beispiel, das die Namensgeber des Preises hinterlassen haben. Was befähigte diese jungen Leute, mitten im Krieg Flugblätter zu verteilen, die die Hitler-Diktatur „grauenvollster, jegliches Maß unendlich überschreitender Verbrechen“ anklagten? Woher nahmen sie die Weitsicht, in ihrem letzten Flugblatt „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewalttaten“ als Grundlagen eines neuen Europa zu reklamieren? Bedachten sie nicht, dass sie mit ihrer „freien Meinungsäußerung“ – es handelte sich schließlich nicht um einen Aufruf zum bewaffneten Widerstand, sondern um einen schriftlichen Einwurf in den Lichthof dieser Universität – ihr Leben aufs Spiel setzten? Oder nahmen sie dieses Risiko bewusst in Kauf? Sahen sie nicht voraus, dass sie von einem eifrigen Hausmeister – die Rolle des Hausmeisters in zwei deutschen Diktaturen verdient eine eigene Dissertation – denunziert werden, vor Roland Freislers Volksgerichtshof enden und zum Tode verurteilt werden würden? Soviel steht fest: Sie hatten nicht ihre Kommilitonen und Professoren hinter sich, folgten nicht den Vorgaben einer bestehenden Organisation, sie waren Einzelne, die sich zusammenschlossen und einer fragilen, immer noch rätselhaften und bestrittenen Instanz gehorchten: ihrem Gewissen.
Wie groß und nachhaltig die Beunruhigung war, die die Geschwister Scholl mit ihrem Beispiel setzten, lässt sich daran ermessen, wie lange die Bundesrepublik und die Stadt München brauchten, um sie zu ehren. Das erste Mahnmal für die Geschwister Scholl wurde in München – vielleicht nicht ganz zufällig – im Jahre 1968 errichtet. Zu einer Zeit, als Angehörige von Naziverbrechern erfolgreich Rentenansprüche einklagten und Hinterbliebene von Widerstandskämpfern leer ausgingen. Noch im Jahre 1974 erhielt die Witwe von Roland Freisler einen Aufschlag von 400 DM auf ihre Witwenrente mit der Begründung, ihr verstorbener Ehemann hätte im Erlebensfall – aufgrund seiner „fachlichen Qualifikation“ wohl eine Tätigkeit als Rechtsanwalt oder Beamter im höheren Dienst gefunden. Hitler-Gegner gleich welcher Provenienz wurden als Vaterlands-Verräter verunglimpft – ich erinnere nur an den CDUWahlkampf des Jahres 1961, in dem Willy Brandt in Anspielung auf seine Herkunft als uneheliches Kind und seine antifaschistische Tätigkeit im norwegischen Exil als „Alias Frahm“ an den Pranger gestellt wurde. „Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen“, sagte damals Konrad Adenauer, „Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.“ Der Schock, den die Erkenntnisse einer Historiker-Kommission über das Auswärtige Amt im Dritten Reich noch im Jahre 2010 auslösten, spricht nicht gerade für die Tiefe dieses Wissens. Als ich Anfang der sechziger Jahre an dieser Universität studierte, konnte ich an keiner Festveranstaltung des Geschwister-Scholl-Preises teilnehmen – der Preis wurde erst 1980 gegründet. Nichts liegt mir ferner, als den Gründern und Stiftern dieses Preises irgendeinen Vorwurf zu machen. Vielmehr soll mein kurzer historischer Rekurs dazu dienen, die Widerstände deutlich zu machen, denen sie sich bei der Schaffung und Durchsetzung dieses Preises gegenübersahen. Ja, auch dazu gehörte ein Stück Mut. Dass wir heute im Namen der Geschwister Scholl zusammentreten, um einen Mann zu ehren, der ihrem Beispiel unter den ganz anderen Bedingungen der DDR-Diktatur folgte, erscheint uns heute als eine Selbstverständlichkeit. Aber was inzwischen selbstverständlich ist, musste – auch in der demokratischen Bundesrepublik – erst erstritten werden.
Joachim Gauck hat sich dem kommunistischen Regime in der DDR von Anfang an verweigert. Er war nicht geleitet durch ein Programm oder durch eine politische Gruppe oder durch feindliche Agenturen aus dem Ausland, die Diktaturen gewohnheitsmäßig hinter jeder Freiheitsregung wittern. Er war – zusammen mit anderen, die sich oft nicht kannten – lange Zeit ein Einzelkämpfer. Bei seinem Aufbegehren gegen die systematische Gleichschaltung des Denkens, Fühlens und Verhaltens hat ihm seine Erdung als Pastor in Rostock zweifellos Halt und Orientierung geboten. Und wenn wir nach „konspirativen Gruppen“ hinter diesem Pastor suchen, so muss man wohl am ehesten die evangelische Kirche nennen. Aber diese „Erklärung“ für seine frühe Verweigerung bedarf einer zweifachen Einschränkung. Wie wir nicht nur durch Gaucks schöner Autobiographie „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ erfahren, zeigte die evangelische Kirche in der DDR ein Doppelgesicht: An ihrer Basis kann sie auf eine imponierende Reihe tapferer Pastoren und Pastorinnen verweisen, ohne die die friedliche Revolution in der DDR gar nicht denkbar wäre. Aber in allen Etagen der Hierarchie, vor allem in den höheren, muss die Evangelische Kirche auch Geistliche nennen, die mit dem Regime paktierten oder sich ihm als informelle Mitarbeiter zur Verfügung stellten. Dieses zwiespältige Bild der Kirche ist uns aus dem Dritten Reich bekannt: Auf der einen Seite die heldenhaften Pfarrer der Bekennenden Kirche, die mitten im Krieg – etwa in der St. Annenkirche und in der Jesus-Christuskirche in Berlin Dahlem – Bittgottesdienste für verhaftete Verfolgte abhielten und für die noch nicht Verhafteten Hilfe und Verstecke organisierten – ich nenne nur die Namen Martin Niemöller, Helmut Gollwitzer und den überlebensgroßen, in Deutschland immer noch verkannten Harald Poelchau. Auf der anderen Seite Kirchenmänner, viele Bischöfe darunter, die unter Nazifahnen und mit dem Heil-Hitler-Gruß für den Krieg demonstrierten. Die zweite Einschränkung nennt Gauck in seinem Buch. Er studierte Theologie, nicht weil er sich dazu berufen fühlte, sondern weil dieses Studium das einzige war, das ihm einen geistigen Freiraum in der Diktatur gewährte. Dass solchen eher weltlichen Motiven ein starker Pfarrer entwachsen kann, der in seiner stetig wachsenden Gemeinde die Hoffnung auf eine Veränderung wachhielt, gehört wohl zu den Wundern, die eine eigenwillige Auslegung des Evangeliums bewirken kann. Deswegen möchte ich, ein gläubiger Atheist, an dieser Stelle den vielen tapferen Kirchenmännern – und – Frauen meinen Respekt bekunden, die im Dritten Reich und in der DDR ihrem Gewissen folgten und Widerstand geleistet haben.
Aber da ist es wieder: das rätselhafte, irgendwie erklärungsbedürftige Wort ‚Gewissen‘. Aus welchen Quellen ernährt es sich? Was war zuerst: Der Glaube oder die eher instinktive Auflehnung gegen Lüge und Unterdrückung? Der Einfluss der Bergpredigt oder der Freiheitsdrang? Woher nehmen übrigens auch Nicht-Kirchgänger, Nicht-Religiöse die Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, wenn sie sich bei der Ausübung dieser Unterscheidung nur Isolation, Benachteiligung oder gar Gefängnis oder Tod einhandeln? Wie im Fall der Geschwister Scholl müssen wir auch im Falle Joachim Gauck eine Antwort auf die Frage suchen, was ihn dazu befähigte, den Verführungen und Erpressungen des Systems zu widerstehen.
Ganz früh, in seiner Jugend, gab es ein Ereignis, das seine Haltung zum real existierenden Sozialismus geprägt und für Jahrzehnte bestimmt hat. Im Juni 1951 wurde der Vater des damals 11-Jährigen von zwei Männern abgeholt und weggebracht. Jahrelang erfuhr die Familie nichts über sein Schicksal, wusste nicht, was ihm zur Last gelegt und wo er festgehalten wurde, ob er überhaupt noch lebte. Erst viel später fand Joachim Gaucks Mutter heraus, dass der Vater wegen angeblicher Spionage und antisowjetischer Hetze (letzterer Vorwurf bezog sich auf den Besitz einer nautischen Fachzeitschrift aus dem Westen) zu zweimal 25 Jahren verurteilt und in ein Arbeitslager nach Sibirien verschleppt worden war. Im Oktober 1955 kehrte der Verschleppte dank der von Konrad Adenauer eingeleiteten „Moskauer Verhandlungen“ über die Rückführung der Kriegsgefangenen zurück. „Das Schicksal unseres Vaters“, schreibt Gauck in seinem Buch „wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form von Fraternisierung mit dem System aus. (…) Ich hatte dieses Gebot so verinnerlicht, dass ich nicht einmal mehr durch die Freizeitangebote der FDJ in Versuchung geriet. Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen.“
Also doch alles nichts als frühe Prägung, bereits im Kindesalter erlernter Widerwille? Gab es da überhaupt eine Entscheidung? Seine „gut begründete“ antikommunistische Grundeinstellung (so Joachim Gauck in seiner Autobiographie) scheint durch dieses traumatische Erlebnis auf den ersten Blick erklärt und damit auch seine lebenslange Gegnerschaft gegen die Diktatur bis hin zu seinem „coming out“ als wortgewaltiger Bürgerrechtler. Glück im Unglück gehabt, könnte ein zynischer Informeller Mitarbeiter (IM) dem Gegenspieler Gauck vorhalten: Durch das extreme Unrecht, das seiner Familie widerfuhr, war der junge Gauck von Anfang an gegen die Versprechen und Lügen des Systems geimpft. Und wer wollte leugnen, dass die familiäre Prägung und die schon im Kindes- oder Jugendalter aufgesogenen Einstellungen eine entscheidenden Einfluss auf die Entscheidungen eines Erwachsenen haben, ja selbst auf seine Prinzipien und Grundüberzeugungen?
Wenn wir diesem Erklärungsmuster bis zu Ende folgen würden, dann gäbe es eigentlich keinen zwingenden Grund, einen Stasi-Spitzel anders zu beurteilen als einen Joachim Gauck. Dann wären beide, Joachim Gauck wie die IMs, durch eine quasi automatische, ihnen selbst gar nicht zugängliche Konditionierung gelenkt, dann gäbe es auch keinen Grund, ihm den Geschwister- Scholl-Preis zuzuerkennen. Denn in „Wahrheit“ hätte der Mutige, der gegen den Strom schwamm, genauso wenig eine Wahl gehabt wie der Feige, der für seinen Verrat Honorare und Orden entgegennahm und die Vorteile genoss, die ihm die Kollaboration mit dem System gewährte. Martin Luthers Satz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ wäre nicht das Ergebnis eines geistigen Ringens mit Gott und Teufel in seiner Wittenberger Turmstube, sondern eines vorgegebenen Programms, oder – um einen Ausdruck des Internet-Zeitalters zu benutzen – eines Algorithmus. Und dasselbe würde für die Geschwister Scholl gelten und für alle stillen und auch lauten Helden, die ihr Leben im Kampf für die Freiheit riskiert haben und es heute – in Afrika, in China, in der Sowjetunion, in Indonesien, in Kuba – immer noch riskieren und oft genug verlieren. Räumen wir also endlich auf mit der Chimäre des Gewissens!
Ich mute ihnen diese Überlegungen zu, weil sie uns auch von der neueren Gehirnforschung zugemutet werden. Neurobiologen wie Benjamin Libet und John-Dylan Haynes stellen unsere Gewissheiten über die Freiheit des Willens in Frage. Mithilfe der Kernspintomographie glauben diese Forscher nachweisen zu können, dass chemische Prozesse im Gehirn, abzulesen am erhöhten Sauerstoffverbrauch in einem bestimmten Gehirnareal, jeder Entscheidung zu einer Handlung um Sekundenbruchteile vorausgehen. Derjenige, der einen politisch Verfolgten in seine Wohnung lässt und ihn für eine Nacht aufnimmt, hat genauso wenig eine Wahl, wie der andere, der ihm – unter Berufung auf seine Verantwortung als Familienvater – die Tür vor der Nase zuschlägt. In Wahrheit, so könnte man die These dieser Forscher zuspitzen, hat unser freier Wille gar keinen Einfluss auf unsere Handlungen: Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun!
Auf verblüffende Weise findet diese Philosophie ihr Echo in dem spontanen Verständnis vieler Politiker für die Mitläufer und die Spitzel der DDR-Diktatur. Auch im Westen waren es ja nicht wenige, die nach der Wiedervereinigung – wieder einmal – einen Schlussstrich unter die Vergangenheit forderten und großzügig eingestanden, sie wären vielleicht auch IMs geworden, wenn sie in der DDR aufgewachsen wären. Nun gut, auch der Sprecher, der vor Ihnen steht, kann nicht sagen, wie er sich verhalten hätte, wenn er in der DDR aufgewachsen wäre. Aber falls Peter Schneider ein IM geworden wäre und seinen besten Freund verraten hätte, dann sollte man doch sagen, dass er ein Versager war. Woher diese populäre Neigung, sich selber in vorauseilender Zerknirschung zum potentiellen Versager zu erklären und quasi ein Naturrecht zur Kollaboration einzuklagen, statt sich etwas Zivilcourage zuzutrauen? Joachim Gauck hat diese Frage in seinem Buch mit der ihm eigenen Noblesse so ausgedrückt: „Warum sagten sie – (die Entschuldiger aus dem Westen, Anmerkung des Verfassers) – nicht: ‚Ich hoffe, ich hätte standgehalten und mich gegen Anpassungsdruck, Verfolgung und Erpressung gewehrt?“
Wir, die „Wessis“, hatten gute Gründe, uns selbstgerechter Urteile über die „Brüder und Schwestern“ in der DDR zu enthalten. Wir waren dieser zweiten Diktatur nicht ausgesetzt. Aber eine Demokratie, die sich nicht mehr erlaubt, zwischen den Handlangern und den Anständigen und Freiheitskämpfern in einem unterdrückerischen Systems zu unterscheiden, begibt sich der Werte, auf die sie selber zählen muss. In diesem präzisen Sinn gibt es nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht zum nachträglichen Urteil. Und es, so meine ich, das Engagement für diese Unterscheidung, die Joachim Gauck motivierte, die später so benannte Gauck-Behörde zu führen. Er selber hat immer wieder darauf hingewiesen, dass in den sechs Millionen Stasi-Akten nicht nur die Zuträger des Systems, sondern auch die gar nicht so wenigen kenntlich werden, die sich Mielkes Geheimdienst widersetzten. Sie, die Nicht-Verführbaren, Nicht-Erpressbaren sind es, die für die Mitmacher bis auf den heutigen Tag die eigentliche Kränkung darstellen. Denn ihr Beispiel beweist, dass es möglich war, der Diktatur zu widerstehen.
Aber lassen Sie mich auf meine Eingangsfrage zurückkommen. Was befähigte Joachim Gauck zu seiner Standhaftigkeit, zu seinem zähen, lebenslangen Aufbegehren? Von seiner Prägung durch das Trauma der Verhaftung seines Vaters habe ich gesprochen. Aber wie weit reicht und hält eine solche Prägung? Reichte sie dazu aus, auch alle Folgen seiner Haltung zu ertragen? Zu ertragen, dass seine Kinder nicht studieren durften, jedenfalls nicht die Fächer, die sie studieren wollten? Gewährte sie ihm Halt, als er viele seiner ehemaligen Klassenkameraden mit der SED konform gehen oder im Fall der Verweigerung, in Isolation, im Alkohol oder im Gefängnis enden sah? Zu sehen wie sein älterer Bruder Christian, der sich, weil ihm das Studium verweigert wurde, mühsam als einfacher Seemann zum Ingenieur hochdiente und dann nicht weiterkam, weil er auf die Frage, ob er Parteimitglied sei, die Antwort gab, er fühle sich „nicht reif“ dafür? Gab ihm diese Prägung die Kraft, die linken Westbesucher zu ertragen, die ihm klarzumachen versuchten, dass er im besseren Deutschland lebte? Half sie ihm darüber hinweg, dass Willy Brandt, ein Adressat seiner Hoffnung, den Kontakt zu Dissidenten in der DDR und zu Lech Walesa vermied, um seine Entspannungspolitik nicht zu gefährden? Worauf genau hoffte dieser Uneinsichtige, der wider alle Erfahrung so sehr an die Freiheit glaubte? Hoffte er auf eine Reform, auf die Reformierbarkeit des Systems? Oder auf ein Überschwappen des permanenten Aufruhrs, wie ihn die Polen über zehn Jahre lang ihren deutschen Nachbarn vorführten, ohne viel Lust auf Nachahmung zu wecken? Tatsächlich sehe ich in der Beharrlichkeit, ja Verstocktheit, mit der Gauck seinen Anspruch auf die Freiheit verteidigte, etwas sehr Polnisches, fast möchte ich sagen, etwas Katholisches – eine Unbeirrbarkeit, die ja nicht nur von der SED, sondern auch von den Gewerkschaften und der Linken in der BRD als irrationale, katholisch-reaktionäre Hitzköpfigkeit verurteilt wurde, als eine Gefährdung des „Weltfriedens“. „Wir bedauern, dass dies notwendig wurde“, sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, als er bei einem Besuch in der DDR aus dem Zug stieg und nach seiner Meinung über den Putsch von General Jaruzelski gefragt wurde, der der Solidarnosz-Bewegung erst einmal ein Ende machte. Nicht von ungefähr hat Joachim Gauck immer wieder auf das polnische Beispiel hingewiesen, auf das Beispiel eines Volkes, das seine Freiheit mehr liebte als seine Sicherheit. In diesem Kampf war Joachim Gauck – mit anderen Einzelkämpfern, die erst Jahre später zusammenfanden – die meiste Zeit allein. Und in den langen Jahren nach der Niederschlagung des deutschen Arbeiteraufstands 1953, nach der Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956, nach dem Bau der Mauer 1961, nach der Niederwalzung des Prager Frühlings 1968, nach dem Jaruzelsjki-Putsch in Polen 1981 wird er oft der Verzweiflung nahe gewesen sein. „Trauer als Kehrseite der Sehnsucht“, schreibt er in seinem Buch, „war mir damals so wenig bewusst wie wohl den meisten DDR-Bürgern. Sie hätte mich gelähmt, also schickte ich sie weg. „Stör mich nicht“, sagte ich, „ich will leben, ich will stark sein!“
Die schmerzlichste Prüfung hatte er wohl zu bestehen, als er dabei zusehen musste, wie seine in der Familientradition des Ungehorsams gegen das Regime erzogenen Kinder eines nach dem anderen ihr Elternhaus verließen und in den Westen gingen. „Es müssen doch welche bleiben, die dafür eintreten, dass am Ende die Wahrheit siegt“, sagte er seiner geflohenen Vertrauten Sybille Hammer bei einem Besuch in Westberlin. Und sie entgegnete ihm: „Sollte ich am Fließband oder als kirchliche Hilfskraft mein Leben verbringen und immer unter meinen Möglichkeiten bleiben?“ Gauck, der Dableiber, der Hoffnungsstarke, der Tröster, der an irgendeine Öffnung, vielleicht an ein Wunder glaubte, er war selber trostlos und wusste keine Antwort.
Nicht alle Söhne und Töchter, deren Väter vom stalinistischen Geheimdienst entführt wurden, haben sich wie Joachim Gauck verhalten. Einige schwiegen sich über das Verhängnis aus, andere resignierten, wieder andere ließen sich bekehren und wurden Parteigänger des Systems. Nein, es gibt wohl doch kein automatisches, durch unkontrollierbare chemische Vorgänge im Gehirn vorbestimmtes Verhalten, keinen Algorithmus, der Joachim Gaucks Hoffnung und seinen Widerstand erklärt. Er musste sein Verhalten jeden Tag im Streit mit sich selbst und seinen Nächsten und Vertrauten neu bestimmen, musste sich unzählige Male zwischen Anpassung und Widerstand entscheiden und auch Kompromisse eingehen. Die Neurobiologen können uns nicht sagen, welche Mischung aus Prägungen, inneren Kämpfen, Überzeugungen und Ich-Idealen jenen ominösen Sauerstoffandrang im Gehirn verursacht, der dann – Sekundenbruchteile vor der Entscheidung – zu einer Handlung führt: im einen Fall zur Unterwerfung und sogar zum Verrat, im anderen Fall zum Aufbegehren und zur Solidarität mit den Verfolgten. Wir dürfen, wir müssen annehmen, dass es wohl doch jene rätselhafte, biochemisch vielleicht nie ganz aufklärbare Instanz in unserem Innern gibt, die man das persönliche Gewissen nennt.
Selbstverständlich kannte auch Joachim Gauck die Angst, die das Bindemittel jeder Diktatur ist. Aber öfter als andere hat er dieser Angst widerstanden. Und als immer mehr Menschen im Oktober 1989 aus dem Gefängnis der Angst ausbrachen, als sie sich gegenseitig mit ihrem Mut ansteckten und in das Zentrum der Angstmacher, in Mielkes Stasi-Zentralen einbrachen, da war er einer der ersten, der dem Jubel und dem Freiheitsdrang Ausdruck und Richtung geben konnte. Kein Zweifel, Gauck hat nicht nur Mut und Standfestigkeit bewiesen, er hat auch Glück gehabt. Denn am Ende fand er sich mit Hunderttausenden auf demselben Weg. Ja, diese Geschichte eines Widerständigen hat ein gutes Ende genommen. Und wenn wir ihn ehren, ehren wir auch die unzähligen anderen, die mit ihm gegangen sind und sich die Freiheit erkämpft haben.
Vielen von uns galt und gilt der Begriff Freiheit längst, als eine abgedroschene Phrase, als „uncool“. Diesen freiheitsverwöhnten Zweiflern möchte ich zu bedenken geben: Wer mit dem Begriff Freiheit nichts mehr anzufangen weiß, kann ziemlich sicher sein, dass er, ohne es recht zu wissen und etwas dafür getan zu haben, im Besitz der Freiheit ist. Und diesen Besitz sehr leicht verspielen kann, da die Freiheit kein abgeschlossenes Projekt ist und sich verliert, wenn sie nicht immer neu erkämpft und erweitert wird. Diejenigen aber, die die einfachsten Freiheitsrechte entbehren, wissen in der Regel ganz genau, was ihnen fehlt, und haben kein Problem damit, zu sagen, was ihnen das Wort Freiheit bedeutet. Und halten dann die Freiheit, die sie mühsam errungen haben, allzu leicht für sakrosankt. Auch einem Joachim Gauck dürfte es nicht leicht gefallen sein, jenen ungeheuerlichen Missbrauch der Freiheit zu begreifen, in deren Namen die großen Investmentbanken im Verein mit willfährigen Politikern ganze Volkswirtschaften ruinieren.
In den USA hat es sich bewährt, den Neubürgern zu vertrauen, die mit ihrem ungebremstem Elan und Optimismus die schal gewordenen Versprechen der amerikanischen Verfassung beim Wort nehmen und auf ihre Verwirklichung drängen. In diesem Sinn begrüße ich den Bürger Joachim Gauck und wünsche uns, dass wir uns von seiner Begeisterung für die Freiheit anstecken lassen.
Peter Schneider, München 29.11.2010
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger
Dankesrede von Joachim Gauck
Sehr verehrte liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
diese Dankesrede ist nicht einfach für mich. Bei uns im Norden sagt man dazu: „Wat to veel is, is to veel“.
Lieber Peter Schneider, liebe Jury, lieber Herr Oberbürgermeister, lieber Herr Eggert, alle Sie, die Sie mir einen so festlichen Empfang hier bereitet haben,
das ist ein München, wie es leuchtet, wie ein Größerer gesagt hat. Dass Bürger dies immer wieder erfahren können, hängt auch mit der Freiheit und Liberalität zusammen, die in dieser Stadt geliebt werden. Und dass ich hier zum zweiten Mal sein kann, nun um einen Preis mit einem so wunderbaren Namen zu bekommen, das rührt mich sehr, es beschämt mich auch.
Mehr…
Ich habe mich bei meiner damaligen Vorlesung zu Ehren der Geschwister Scholl sehr tief in das Leben von Hans und Sophie hineinversetzt und bedaure, dass die Zeit nicht ausreicht, heute aus dieser Rede einige Zitate bringen zu können. Ich möchte Ihnen all die Antworten auf die guten Worte ersparen, die ich hier gehört habe, die einzelnen Herleitungen, auch manche überraschende Einsicht, die mein Laudator uns vermittelt hat. Ich bin einfach beglückt durch Ihre Anwesenheit und durch Ihre warme Herzlichkeit, mit der Sie mir diesen Preis zuerkannt haben.
Und dann ist es natürlich für mich wunderbar, bekannte und vertraute Menschen zu sehen, Sie, Frau Hamm-Brücher, und Sie, Hans-Jochen Vogel, der den Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie, den ich jetzt seit vielen Jahren leiten darf, zusammen mit wackeren Demokraten gegründet hat. Das ist natürlich ein zusätzlicher Gewinn und ein zusätzliches Fest.
Liebe verehrte Damen und Herren, es gibt noch Dinge, die sehr überraschend sind und der Empfang dieses Preises ist so eine Überraschung. Ich bin, wenn ich hier stehe, auch in einer gewisser Weise hergebracht worden von guten Umständen und Peter Schneider hat eben gesagt, ich habe ja auch Glück gehabt. Ja, das gehört dazu, das ist so. Wir können eben nicht alle Umstände schaffen, die uns nach oben bringen, die uns schützen und bewahren, sondern wir brauchen Glück oder wie der Glaubende sagt, Segen. Davon habe ich vielleicht eine Menge bekommen und trotzdem habe ich Erfahrungen machen müssen mit meiner Seele und mit meiner Schwäche, die mich auch selbst überrascht haben. Ich bin eigentlich kein besonders heldenmütiger Typ und trotzdem ist es mir geschenkt worden, dass ich meinen Ängsten immer mal wieder den Abschied geben konnte, manchmal ein wenig eher als andere, manchmal auch später.
Von meinem Buch möchte ich noch sagen, dass ich zunächst die allergrößten Schwierigkeiten hatte mit einem Werk, das jetzt so stark angenommen wird. Irgendwie habe ich mich davor gefürchtet. Als ich immer wieder die Verleger hingehalten habe mit der Behauptung, ich sei ein Redner und kein Schreiber, da gab es irgendetwas in mir, einen inneren Widerstand. Es war eine so starke Schwäche in mir, dass nur durch die Hilfe einer engagierten, couragierten und klugen Frau, nämlich von Helga Hirsch, meiner Co-Autorin, aus dem Projekt tatsächlich ein Buch wurde. Helga, dafür danke ich dir.
Ja, aber was war es denn wirklich, das mich gehindert hat? Es fiel mir unendlich schwer, die „Abschiedsszene“ zu schreiben, wo meine großen Söhne, Christian und Martin, mich verlassen und unsere DDR verlassen haben, weil sie nicht nur nicht studieren konnten, sondern noch nicht mal Abi machen durften, selbst das war ja Menschen, die in der Staatsjugend nicht organisiert waren, nicht erlaubt. Es gab da ein Land, das wies den Leuten zu: du darfst Abi machen und du nicht. Mein Ältester wollte Medizin studieren, ohne Abi geht das nun mal nicht. Als ich den Abschied schreibe, da fließen viele Tränen aus meinen Augen, das ganze Papier ist nass und in meiner Seele ist es dunkel, aber das, über was ich schreibe, war über 20 Jahre her. Ich hatte über diesen Abschied auch schon öfter gesprochen, in Vorlesungen, in Vorträgen. Ich hatte erzählt, wie schwer solch ein Abschied ist und dass Trauer manchmal erst später kommt.
Ich habe darüber gesprochen, ich war darüber. Als ich aber alleine war mit meinem Papier, da war ich nicht darüber, sondern da war ich mittendrin in einem Leben, das schon so lange gelebt worden war, aber mit Gefühlen, die damals in das Leben nicht hinein sollten, weil ein stolzer Mann, der nicht leiden und trauern wollte, Gefühle der Trauer meinte, nicht tragen zu können und meinte, dass sie ihn schwach machen würden. Nun also kamen diese Gefühle nach. Es war etwas von dem tiefen dunklen Wasser, was am Grund so vieler Menschen ist, die in der Diktatur gelebt haben, diesem tiefen dunklen Wasser der Traurigkeit, nach oben gedrungen. Und so etwas tut der Seele gut. Ich dachte, du hast es endlich geschafft. Und ich war verändert, das ganze Buch hat mich verändert. Das ist einer der Gründe, warum ich in diesem aufregenden Sommer immerfort mit beiden Füßen auf der Erde stehen konnte. Ich war nämlich dichter bei mir selbst angekommen.
Erst lange nachdem ich diese Tränen des Abschieds geweint hatte, viel später erst, ein halbes Jahr, ein dreiviertel Jahr, es ist noch nicht lange her, da ist mir der tiefere Grund für diese übermäßige Trauer bewusst geworden. Es war eben nicht nur die Trauer darüber, dass die Söhne für eine Zeit, die man damals noch nicht überblicken konnte, aus dem Schoß der Familie hinaus mussten, sondern es war doch wohl die Traurigkeit über hergeschenkte Freiheit. Ich selber hätte bis zum 13. August 1961 jederzeit gehen können,. Aber ein klares und helles Bewusstsein hat eine Entscheidung gefällt: Ich werde nicht gehen. Ich werde hier sein und immer darauf warten und etwas dafür tun, dass es sich hier ändert, das werde ich tun.
Ich denke mir, dass ich diesen Beschluss nie bereuen werde, er gehört so sehr zu mir. Ich sehe mich nicht als Pfarrer in Lübeck, Hamburg oder München. Ich habe von dieser Entscheidung nichts zurückzunehmen. Aber wäre es nicht auch möglich gewesen, dass ich die Freiheit, die ich mir selber nicht gegeben habe, weil ich etwas anderes, meine Treue zu den Menschen, bewahren wollte, dass ich mir über diese verlorene Freiheit ein wenig Traurigkeit gegönnt hätte? Traurigkeit darüber, dass ich, ein erwachsener mitteleuropäischer Akademiker, nicht in Freiheit leben konnte? Nicht in freien, gleichen und geheimen Wahlen meine Regierung wählen, nicht schreiben, denken, lehren, gründen konnte, was ich wollte? Aber damals habe ich das nicht gewusst. Und so gehörte eben, denke ich, zu diesem Erwachsenwerden auch das Erkennen dessen, dass einem nicht alle Güter des Lebens zu allen Zeiten in die Hand fallen. Und dass man, wenn man so viele Jahrzehnte fern der Freiheit gelebt hat, dass man eigentlich, wenn man sich selber lieb hat, doch auch traurig darüber sein darf, dass man in diesen langen Lebensjahren, als man jung und stark und voller Dynamik war, all das nicht hatte, was unsere Gesellschaft so ausmacht.
Und da bin ich dann angekommen und da wusste ich endlich, was ich gefürchtet hatte. Dann aber konnte ich Hilfe annehmen bei der Gestaltung des Buches und des Stoffes. Es ist nicht immer einfach, wenn man zu zweit ein Buch macht. Wenn die Co-Autorin auch noch so frech ist, einem so wunderschöne Stücke wegzunehmen und in die Tonne zu tun, weil sie sagt, das sei viel zu lyrisch und man könne es mit anderen Stückem nicht verbinden. Dann ist Zoff angesagt, das ist doch klar. Aber das ist egal. Ich hatte eine Helferin gefunden und gleichzeitig durfte ich das als Symbol erkennen für uns alle, die ja nie alles können. Und manchmal sehen wir einfach nicht, dass neben uns einer ist, der aus unserem Unvermögen mit seinem Vermögen etwas Großartiges machen kann. Dies war die nächste Lehre. Und deshalb erzähle ich oft, wenn ich in Lesungen durchs Land gehe, davon, wie ein älter gewordener, anerkannter Mann mit einigen Verdiensten sich plötzlich zu Hause vorkommt wie ein Kind im Dreck und dann doch wieder auf geheimnisvolle Weise zweierlei bemerkt: dass da in seiner Seele noch eine Ecke ist, die nicht angeschaut war und dass neben uns Menschen sind, die uns Brücken bauen dorthin, wo wir wieder stark sein können und wieder wirken können.
Ich wollte Ihnen heute, weil Sie mich angerührt haben, ein bisschen aus dieser Seelenlandschaft erzählen, denn ich glaube, dass ganz besonders im Osten Deutschlands in ganz vielen Menschenseelen noch so ein Meer von Traurigkeit liegt, oft zubetoniert. Es ist wirklich ganz tief unten und das ist nicht gut. Es ist gut, wenn hoch kommt, was uns klein gemacht hat, wenn diese Gefühle, die zu diesem „Klein-gemacht-werden“ gehören, leben dürfen. Wir wissen aus therapeutischen Prozessen, dass so ein Wieder-Hochkommen zwar mit jahrzehntelanger Verspätung existieren kann, aber doch eine unglaublich befreiende Wirkung haben kann.
Ich habe mich darüber gefreut, wie Sie Ihre Jury-Entscheidung begründet haben und es hat mich besonders bewegt, dass mein Bekenntnis zur Freiheit, dass im Schlusskapitel meines Buches ausgeführt ist, von Ihnen entdeckt worden ist. Gleichzeitig gehört zu dieser Freude über die Freiheit die Tatsache, dass wir sie uns immer wieder bewusst machen müssen. Erich Fromm hat nach dem Krieg ein ganzes Buch geschrieben darüber, dass unsere Freude an der Freiheit immer begleitet ist von einem Geschwisterkind, der Furcht vor der Freiheit. Und dass aus dieser Furcht vor der Freiheit etwas entstehen kann, was sich in einer peinlichen Flucht in Konformität oder in Destruktivität ausdrücken kann. Und wenn hier ein Vertreter einer Generation eben die Laudatio gesprochen hat, die einmal aufgebrochen ist, um weder in einer Destruktivität zu landen, noch in einer Konformität zu ersticken, wenn er mir heute diese Laudatio gehalten hat und mit einer ganz anders konnotierten Freiheitsliebe meine Freiheitsliebe begleitet und aufgesucht hat, dann ist das eine besondere Freude für mich. Es freut mich auch, nebenbei gesagt, Peter, dass du nicht zu denen gehört hast, die in eine der sieben völlig überflüssigen neuen kommunistischen Parteien eingetreten bist, damals, das war ja nicht unbedingt nötig.
Es freut mich und so ist mein Leben in diesem Herbst geprägt von einer Erfahrung, die ich als Pfarrer in jedem Herbst hatte. Die Christen in meiner Gegend – ach, das tun wir glaube ich im ganzen Land – feierten im Herbst das Erntedankfest. Mir ist zuteil geworden, dass ich in diesem Herbst meines Lebens eine beständige Freude hatte. Zufuhr und Geschenke sind in meine Hand gekommen und haben meine Seele ausgefüllt, die mich glücklich und stolz machen. Ich gehöre nun inzwischen einer Generation an, die auch schon mal gerne sagt, dass sie glücklich, stolz und dankbar ist. Ich weiß, dass wenn man so spricht, in manchen intellektuellen Zirkeln nicht wohl gelitten ist, denn wir lieben die Unkultur des Verdrusses und haben es in ihr zu einer gewissen deutschen Perfektion gebracht. Und deshalb ist mir als ein besonderes Geschenk dieses Jahres widerfahren, dass mein altmodisches Reden von Freiheit und Verantwortung plötzlich nicht nur die erwachsene und ältere Generation erreicht hat, sondern erstaunlich viele junge Leute. Wir wissen schon aus den Shell-Studien und anderen, dass unsere Jugend nicht so verkommen und stockdämlich ist, wie die Älteren es oft denken. Wir haben plötzlich Jugendliche und junge Studierende aus allen möglichen Teilen Deutschlands gefunden, die begierig zuhören, wenn ein alter Knacker über Freiheit und Freiheit als Verantwortung spricht. Sie haben etwas gespürt, sie haben etwas gewittert, sie haben auch etwas vermisst in unserer Gesellschaft. Sie wollten, indem sie damals im Juni mir so an die Seite gesprungen sind, doch zeigen: Mensch, uns interessiert das, was hier passiert. Uns interessiert, wer in diesem Land oben ist und wem wir glauben können. Wir wollen nämlich glauben, dass unsere Politiker und unsere Demokratie und unser Land gut sind. Wir wollen uns in diesem Land beheimaten. Genau das haben sie immerfort gesagt mit ihren Aktivitäten. Und es war ein besonderes Geschenk, das mir in die Hände gefallen ist, dass ich daran mitwirken konnte, dass sie das gespürt haben.
Auch weil dieser Preis den Namen von Menschen trägt, die für ihre Art, Freiheit zu definieren und Verantwortung zu übernehmen, mit dem Leben bezahlt haben – will ich Sie aufrufen zu Zeugen dafür, dass das Leben eben nicht verloren ist, wenn wir es verlieren, sondern dass das Leben in seiner ganzen Kraft und Schönheit vor uns entsteht, wenn wir Menschen erkennen, die plötzlich einfach so leben, als wäre es das Selbstverständliche, dass man letztlich sogar für seine Werte alles, was man hat, geben kann, das eigene Leben. Ich habe niemals jungen Leuten davon erzählt. Ich habe, wenn ich über Widerstand gesprochen habe, nur selten über die Märtyrer erzählt. Ich habe auch selten über Maximilian Kolbe und Graf Stauffenberg gesprochen, irgendwann kamen die auch vor, aber ich habe häufiger über die gesprochen, die die ersten kleinen Schritte machen, wenn Widerstand noch gar kein Widerstand ist, sondern einfach nur Abständigkeit, Distanz zu denen, die Unrecht organisieren und exekutieren.
Ich habe dann versucht, nachzubuchstabieren, dass bevor Widerstand Widerstand ist, anders gelebt werden muss. Die Fähigkeit, zu einer Minderheit zu gehören, ohne gleich zu denken, dann sei alles zu spät, jetzt kann ich wohl nur sterben. Wir sind nämlich unter anderem auch minderheitenfähig. Das macht uns gar nicht kaputt, sondern das leben wir einfach. Man muss auch erstmal merken: Du kannst es aushalten, die Mehrheit gegen dich zu haben. Und dann gibt es Menschen, die sind nicht im Stande, auch nur Oppositionelle zu sein, geschweige denn Widerständler, aber sie haben vielleicht schon die geheimnisvolle Gabe, Zeuge zu sein und wahrzunehmen, was geschieht und das aufzubewahren und ihren Kindern und allen, die es hören wollen oder auch nicht hören wollen, zu sagen: Das habe ich gesehen. Sie hatten noch nicht die Kraft zu Opposition und Widerstand, aber schon die Fähigkeit zur Wahrnehmung. Und wenn wir dieses alles so sehen, diese mühsamen Wachstumsprozesse bis hin zur Widerständigkeit, dann erinnern wir uns dankbar der Leute, die uns das glauben gemacht haben, dass wir das können, dass wir Menschen sind, Bürger, nicht nur Konsumenten.
Und deshalb nennen wir immer wieder die Namen von Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Professor Huber, gerade weil in Häusern wie diesem immer, in jeder Diktatur, genug Professoren da sind, die alle Lehrstühle besetzen und genug Dekane und Regenten da sind, genau wie in den Gerichten und in den Kommunen, immer sind genügend da, auch in Zeiten des Unrechts. Aber wir erinnern uns auch an Dietrich Bonnhoefer. In mein Leben trat Bonnhoefer durch einen Pastor, Heinrich Rathe. Er kommt in meinem Buch vor. Er war später Landesbischof, hatte eine fränkische Frau, wollte eigentlich bleiben, ging aber in den 50er Jahren zurück in die DDR. Ein Zeuge Jesu Christi und ein Jünger Bonnhoefers. Er lebt noch. Wir Protestanten halten es ja nicht so mit den Heiligen und den Engeln, aber ich weiß in meinem Herzen, da ist ein lebendiger Engel, der da noch lebt in Schwerin und er ist in das Leben vieler Leute in Rostock und in Mecklenburg eingetreten mit seiner unglaublichen Lauterkeit und hat die Bonnhoefer-Worte nachgesprochen und hat dem, der nicht mehr lebte, eine Zunge gegeben und er ist dabei gar nicht, wie andere Bonnhoefer-Jünger in die Nähe des diktatorischen Sozialismus geraten, überhaupt nicht.
Oder ich denke an jene, die später da waren als diejenigen, die unserem Preis den Namen gegeben haben. An meiner Universität Rostock, eine kleine Universität am Rande unseres Landes, steht im Foyer der Name von Arno Esch, einem jungen Studenten, einem Liberalen. Liberale waren erlaubt in der DDR nach dem Krieg. Er verschwand wie mein Vater, aber er kam nicht zurück. 1950 verhaftet, 1951 getötet von der sowjetischen Geheimpolizei in Moskau. 23 Jahre. Sein Kommilitone, Karl Alfred Gedowski, ein Jahr später zum Tode gebracht, auch er ein Märtyrer. Aber wir rufen sie auf, weil sie uns diese kostbare Gabe, die wir in uns haben, immer wieder in Erinnerung rufen. Dass wir Freiheit bekommen haben, nicht nur für unsere Pubertät, dann ist Freiheitsdrang ja auch was Schönes, endlich darf man alles. Ich lebe auf und keiner kann mir mehr. Ich erlebe Freiheit als Befreiung. Mein Ich wird stark und groß und jeder braucht das, in der Pubertät. Aber erwachsen geworden nimmt die Freiheit für uns eben eine andere Farbe an. Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung und deshalb nenne ich diese Namen. Und deshalb bin ich beglückt über die Anwesenheit so vieler Menschen, die je an ihrem Ort die Freiheit als Verantwortung gelebt haben. Als Freiheit zu etwas und Freiheit für etwas. Das ist ein altes Programm. Es gibt sehr viele ethische und philosophische Arbeiten zu dieser Art von Freiheit. Aber offensichtlich braucht jede Generation die Wiederentdeckung dieser bekannten Orte des Denkens und des Verhaltens. Und deshalb lohnt es sich, dass wir, Peter, und gerade auch die, für die Freiheit ein altmodisches Wort ist, dass die sich neu auf das besinnen, was wirklich der Anspruch ist, der in dem Wort Freiheit steckt.
Als ich anfing, über Freiheit zu reden, war ich noch 20 Jahre jünger. Ich hatte gerade eine veritable Revolution hinter mich gebracht, in meiner Heimatstadt Rostock. Ich kam in unsere Partnerstadt Bremen und sprach noch glühend von der Befreiung. Und ich war so getragen, wir sind fast geflogen damals, wir Macher, weil es so unglaublich war, dass wir so lange, 56 Jahre lang, Staatsinsassen und Knechte waren und plötzlich Bürger sein durften. Das „Wir sind das Volk!“, das hat uns doch wirklich erhoben. Es hat uns ermächtigt, Bürger zu sein. Und ich kam nach Bremen, mein erster Vortrag im Westen und ich schwärme denen dort von der Freiheit vor und mein grüner Freund, wirklich ein Super-Intellektueller, fern jedes Verdachts, sagte „Joachim, das war prima, nur eines muss ich dir sagen. Das mit der Freiheit, das kommt hier nicht so gut, das macht hier bei uns mehr die CSU.“ Der Typ meinte natürlich eine ganz bestimmte Freiheits-Rhetorik, die in ganz bestimmten Etappen der alten Bundesrepublik das konservative Lager gehabt hat. Das finde ich übrigens auch gut, dass das konservative Lager das gehabt hat, das finde ich sehr gut. Und wenn das liberale Lager das auch hat, finde ich es auch sehr gut. Aber ich konnte nun überhaupt nicht verstehen, dass ein engagierter grüner Intellektueller mit linken Wurzeln mit dem Begriff der Freiheit nichts anfangen konnte. Ich konnte es nicht verstehen.
Wir brauchen die Wiederbesetzung dieser Begriffe, die so abgenutzt sind, Peter, du hast da ein wunderbares Bonmot erfunden, das muss ich mir nachher sofort aufschreiben. Dass wenn man die Freiheit nicht wirklich schätzen kann, das ein sicheres Indiz sei, dass man sie habe. Das werde ich immer wieder zitieren und vielleicht hilft das denen, denen ich nicht helfen kann.
Lassen Sie mich noch einmal sagen, dass sich das manchmal natürlich ein bisschen pastörlich anhört, als wollte ich zu den Leuten von der besseren Moral sprechen. Kann ja alles sein. Ich gebe Ihnen aber mal folgendes zu bedenken: Es ist nicht schlecht, wenn eine Bevölkerung sich dieser Tatsache bewusst wird, dass Politik ohne Moral nicht funktioniert. Abseits von Forderungen, die von Religion, Staat, von Autoritäten auf uns kommen, gibt es eine einfache Menschenwahrheit und die geht so: wenn du nicht das aus dir herausholst, was in dir steckt, wenn du deine Fähigkeiten in Beziehung und Bezug auf etwas außer dir selbst zu leben, wenn du das nicht lebst, wirst du wohl nicht glücklich werden. Dann wirst du zu jenen gehören, die immerfort auf das Glück warten in Form eines Schlaraffenlandes. Aber geheimnisvollerweise gibt es eine innere Instanz, die uns belohnt dafür, dass wir das, was in uns ruht, als Potenz, als Fähigkeit, als Kraft, aus uns herausholen. Jeder kann es merken. Unsere Seelen belohnen uns nicht dafür, wenn wir uns den bequemen Lenz machen und unser Leben auf der Fernsehcouch verbringen. Sondern unsere Seelen belohnen uns dafür, dass wir an die Grenzen unserer Möglichkeiten gehen, wenn wir rausholen, was in uns verborgen ist, wenn wir darauf vertrauen, dass in uns etwas liegt, was andere nicht haben, aber was wir mit anderen teilen können. Immer dann, wenn wir für etwas leben, für einen Wert, für eine Arbeit, für Gott, für ein Kunstwerk, für einen Menschen, für diese Gesellschaft, immer dann kriegen wir so viel Belohnung von unserer eigenen Psyche, dass wir eigentlich auf die Anerkennung unserer Mitmenschen verzichten könnten. Aber die gibt es noch oben drauf.
Lassen Sie mich also das Wort, das Ihnen von Peter Schneider in der Laudatio nahe gebracht wurde, die Wahlfreiheit, aufnehmen. Zu einer der zentralen Botschaften, von der ich in den letzten 20 Jahren gesprochen habe, gehört, mich selber und andere daran erinnern, dass Menschen immer eine Wahl haben. Es mag ja sein, dass sie durch bestimmte genetische Dispositionen eingeschränkt ist. Sagen wir es mal so, da wir keine Hirnforscher sind, Peter, wir gehen davon aus, dass wir die hinlängliche Freiheit haben, anständige Menschen zu werden, die hinlängliche. Wir haben vielleicht nicht alle Möglichkeiten, aber es reicht. Unsere Entscheidungsfähigkeit für oder gegen etwas, unsere Differenzierungsfähigkeit ist uns in einem Maße gegeben, das eben die von dir beschriebenen Gegensätze in einer Gesellschaft hervorbringt, stabilisiert, veränderbar oder unveränderbar macht. Und wir alle sind Spieler in diesem Spiel. Und wenn wir dies beides nicht glauben, erstens dass in uns eine immerwährende Sehnsucht nach einer Art Menschlichkeit ist, die sich nicht durch sich selbst und aus sich selbst heraus versteht, sondern erst in der Bezogenheit die Dimension des Humanen wirklich erreicht. Und wenn wir erkennen, dass wir eine Wahl haben, wie viel davon wir umsetzen wollen in unserem eigenen Leben. Dann sind wir auf einem Pfad, der wirklich lohnenswert ist. Und dann muss man sich auch nicht davor fürchten, dass dieser Pfad einmal zu Ende ist.
Jetzt kommt aber wirklich noch einmal der Theologe zu Wort. Ich darf ja nicht mehr Pastor sein, weil ich seit 20 Jahren laisiert bin, aber ab und zu, Peter, natürlich bei deinem Bekenntnis zum Atheismus, muss es ja nun noch mal raus. Raus muss natürlich, dass ich nicht allein gelassen worden bin, sondern dass mir Menschen mit der Kraft ihres Glaubens und mit der Entschlossenheit ihrer Verantwortung geholfen haben und Wege gezeigt haben und meistens waren das glaubende Menschen. Ich durfte annehmen, dass ich in ihrer Nähe beschützter sei, bewahrter und kräftiger. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier noch mal als Pastor auftreten möchte, sondern ich habe vor einigen Jahren entdeckt, dass ich plötzlich, am Abend meines Lebens, eine Bibelstelle liebe und schätze, die ich früher immer gemieden habe. Sie steht in dem Teil der Bibel, den die Christen das Alte Testament nennen. Juden und Christen sind tief mit dieser Geschichte vertraut, denn sie ist die Schöpfungsgeschichte. Und dort, am Anfang unserer Bibel gibt es einen Satz, der heißt, als die Schöpfung beschrieben wird, „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde. Zu Gottes Bilde schuf er ihn.“ So steht es im Luther-Text. Ich studierte nach Auschwitz Theologie und wollte weder an dieses Land, noch an diese Kultur, noch an diesen Gott, noch an irgendetwas glauben und ohne diese Menschen, die ich eben erwähnt habe, die mir begegnet sind, wäre mir das vielleicht auch nicht gelungen. In dieser Zeit kriegst du dann Aufgaben. Du musst Texte interpretieren als junger Vikar. Ich hatte mir so ein bisschen Glaubensgut angesammelt, welches es mir erlaubte, unter die Menschen zu treten. Ich habe immer wieder an diesem Satz gestanden und gesagt: Nein, ich kann mir einen solchen Gott nicht denken, dem wir ähnlich sein sollen, denn wir sind so zerstört, das geht nicht. Was soll dieser Satz? Es ist doch ganz einfach. Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, das heißt, er hat in uns, in dieses Menschengeschlecht, die Fähigkeit gegeben, verantwortlich zu sein für uns selber und für all das, was um uns herum ist. Und das darfst du als Bürger in den politischen Text kleiden und du wirst Fülle beschreiben. Du darfst es als Mitmensch in einen sehr persönlichen Text kleiden und du wirst Glück beschreiben. Und indem wir dies entdecken, diese geheimnisvolle Gabe, dass wir verantwortungsfähig sind, glauben wir eben nicht, dass wir nur beschwören, was wir wünschen, sondern wir bezeugen, was wir gesehen und gelebt haben. Wir reden nicht nur von Phantasmagorien oder Visionen, sondern wir reden von Menschen, die diese Erde verwandelt haben dadurch, dass sie diese Freiheit als Verantwortung gelebt haben. Und ich rede konkret von einem Land, in dem es seit über 60 Jahren Bürgerrechte gibt: Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Versammlungsfreiheit, Forschungs- und Veröffentlichungsfreiheit, in dem 60 Jahre die „rule of law“ zu Hause ist und in dem meine Landsleute es nicht nötig hatten, in diesem Zeitraum andere Länder zu überfallen und andere Menschen zu morden.
Ich rede nicht nur von etwas, was wir wünschen dürften, sondern ich rede von dem, was wir gestaltet haben und ich möchte, dass wir daran erinnert werden. Und Sie ermutigen und erinnern mich, indem Sie mich auszeichnen. Und ich ermutige und erinnere Sie, indem ich Sie an Ihre Leistungen und das, was Sie schon vermocht haben, erinnere. Wir müssen glauben, was wir vermögen.
Joachim Gauck, München 29.11.2010
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger