Und dann kam alles anders - ich glaube mit dieser Feststellung muß man beginnen, wenn man über das Leben und die Bücher von Liao Yiwu spricht. Denn immer wieder kam alles anders.
„Ich hatte das alles schon immer verachtet,“ schreibt er, „den Staat, die Massen, die Parteien, die Bewegungen, aber ich hatte trotzdem Angst, von all dem verschlungen oder vergessen zu werden.“
Wenn man flüchtig liest, könnte man „verschlungen UND vergessen“ lesen. Das wäre gewöhnlich. Hier steht aber: „verschlungen ODER vergessen,” ein Gegensatz. „Verschlungen werden“ meint ins Staatsgetriebe hineingerissen, instrumentalisiert werden. Und „vergessen werden“ meint, nicht mitmachen und nichts aus seinem Leben machen können, also für nichts mehr in Frage kommen, nicht einmal für sein eigenes Leben. Denn die Partei ist bis heute überall. Sie will „über den Körper die Seele erreichen“ wie es die chinesische KP wortwörtlich formuliert hat. Liao Yiwu hat sich anfangs als Pop-Literat und Bohémien begriffen und das Abseitsstehen probiert. Es ging nicht lange.
Denn 1989, am 4.Juni, erstickte die Partei auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Revolte ihrer Bevölkerung durch ein Massaker – und in der Nacht davor kam für Liao Yiwu alles anders: das Schreiben wurde in die Wirklichkeit gezwungen.
„Die Zeit verschwamm, schweißgebadet brachte ich das Massaker auf dem Papier zu Ende, das reale Massaker sollte in acht Stunden geschehen,“ schreibt Liao Yiwu. Das Acht-Seiten-Gedicht MASSAKER entstand in einem einzigen Schwung, im Wahn der Vernunft. Ohnmacht und Entsetzen, grelle Sprachbilder aus innerer Not. Acht Seiten wie eine Kaskade. In direkter Anrede der Täter und der Toten krallen sich die Sätze aneinander. Hier wird der Befehlston zum Bettelton, es räsoniert der Imperativ der Verzweiflung – Liao Yiwu zwingt die Sätze auf dem Papier um ihr Leben zu ringen:
„Knallt sie ab! Knallt sie ab! Stillt eure Sucht! Schießt in den Kopf!(... )Macht noch ein Loch in die Seele! Macht noch ein Loch in den Stern! Die Seele im roten Rock! Die Seele mit dem weißen Gürtel! (...) Das Massaker geschieht in drei Welten. In den Flügeln der Vögel, in den Schuppen der Fische, im feinsten Staub, in zahllosen biologischen Uhren. (...) Kind, Kind, du bist kalt. Du mit dem Stein in der Hand. Komm, wir gehn heim. Mädchen deine Lippen sind blass, komm wir gehn heim. Brüder, Schwester, euer Hirn auf dem Boden verschmiert, wir gehn heim. Wir gehn leise. Wir gehn drei Fuß über dem Boden.“
Was für eine Koinzidenz: Die Geschwister Scholl beendeten jedes ihrer Flugblätter mit dem Satz: „Wir bitten, diese Schrift mit möglichst vielen Durchschlägen abzuschreiben und weiterzuverteilen.“ Genau das geschah mit dem Gedicht MASSAKER. Es wurde zum Flugblatt. In ganz China verbreitet, galt es nun für Tausende als DAS Totengebet zum Massaker.
Und dann kam alles anders.
Liao Yiwu war nun ein Staatsfeind. Er wurde für 4 Jahre ins Umerziehungslager und ins Gefängnis gesperrt. Offizielle Folter durchs Gefängnispersonal und privater Sadismus in der Zelle zwischen den Gefangenen waren Alltag. Vor beidem gab es kein Entkommen: „In einem Anfall völliger Verblödung verteidigte ich mich“, schreibt Liao Yiwu in seinem Gefängnisbuch FÜR EIN LIED UND HUNDERT LIEDER. Denn Argumente zählten weder beim Verhör noch in der Zelle, bei den „16 gekleideten Bestien“. Zwischen sadistischer Euphorie und nervlichem Zusammenbruch versuchen die Gefangenen die Tage auszuhalten. Liao Yiwu schreibt: „Daß im Untersuchungsgefängnis jemand totgemacht wird, das war so alltäglich wie Reis zum Essen.“ Und übers Essen schreibt er: „Mittagessen in der Hölle – mit langsamen Bewegungen kneteten sie die Reisklumpen in den Händen, die Hälse je nach oben gereckt wie Hähne beim Krähen.“
Dennoch stiehlt sich hie und da unerwartet ein Stückchen Mitleid, Anteilnahme und sogar Hilfe aus der Verwahrlosung. Die Dialoge, die das Gefängnisbuch durchziehen, zeigen genau so fiebrig wie das MASSAKER-Gedicht, wie Stimmungen kippen können, wie ein Mensch, der so kaputt ist, daß er nichts mehr zum Schein macht, aus wirklicher Gemeinheit und wirklichem Hass plötzlich in wirkliche Zärtlichkeit findet. Die Dialoge sind erfunden, aber erfundene Wahrheit, dermaßen intensiv, daß man beim Lesen Gesichter sieht und Stimmen hört. Man hört die matte Stimme mit der einer, auf seine Hinrichtung wartend, sagt: „Das einzige, das ich verspielen kann, bin ich selbst.“ Oder: „Die Ratte schließt ihr Nest und fühlt auch was dabei, geschweige denn der Mensch.“ Und man hört alle Zwischentöne der Anbiederung und Überheblichkeit des Untersuchungsbeamten Zhuo nach der Entlassung, wenn erLiao Yiwu mahnt:
„Bleib ein bißchen auf dem Boden der Realität, schau, daß du ein bißchen Geld machst, ist das nicht besser, als so ein Heißsporn zu sein. Politik, nicht wahr, Politik spielt mit den Menschen.“
„Denken Sie das auch, wenn Sie im Dienst sind?“
„Das denke ich auch, wenn ich im Dienst bin, aber meine Leute fassen muß ich trotzdem.“
„Ein Witz.“
„Kleine Leute sind immer ein Witz, und du und ich, wir sind kleine Leute.“
„Dann bekommen Sie sicher eines Tages den Befehl, sich selbst zu verhaften, was dann?“
„Dann verhafte ich mich, gab Zhuo zurück, ohne zu überlegen.“
FÜR EIN LIED UND HUNDERT LIEDER ist nicht nur ein Protokoll über das Gulag-Muster der chinesischen Gefängnisse, sondern auch ein Protokoll über die chinesische „Freiheit“. Nach 4 Jahren Gefängnis kam die Entlassung. Sie hätte Freiheit sein können, aber es kam alles anders.
Die Entlassung wurde zur umzingelten Einsamkeit. Die Überwachung und Verhöre gingen weiter. Was aufhörte, das waren die Freundschaften. Liao Yiwus Buch ist auch ein Buch über Beziehungen. Die Beziehung zu seinem Land, das man Heimat nennen möchte, und nicht kann. Erst flieht der Staat in die Gewalt, dann spiegelt die Landschaft alles, was man weiß, und flieht in den Staat. Aus der Sippenhaft mit einem Häftling flieht die Ehefrau samt Kind in die Scheidung. Und die Freunde fliehen aus kläglicher Angst und bequemem Kalkül. Und jene, die 4 Jahre gewartet haben, erwarten jetzt den, der man vorher war. Aus der Haft kommt aber ein Ausgewechselter. Das macht man ihm zum Vorwurf. Indem er sich verteidigt, wird er aggressiv und tut denen am meisten weh, auf die er dringend angewiesen ist.
In der umzingelten Einsamkeit zerbricht immer auch das Private, weil man auch für sich selbst unerträglich ist. Dazu kommt noch die ungleiche Zeit: Im Gefängnis stand die Zeit still. Der Augenblick dehnte sich ins Monströse. Draußen hetzte das Leben durch die Tage. Man müßte jetzt nach der Entlassung geschäftstüchtig werden, um seinen Platz zu finden, „ein bißchen Geld machen“, wie der Untersuchungsbeamte sagt.
Geld und um jeden Preis. Vor wenigen Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, daß eine junge Neureiche auf das Fehlen aller Gefühle im Zusammenleben angesprochen, gesagt hat: „Lieber im Mercedes weinen, als auf dem Fahrrad glücklich sein.“ Dieser Satz klingt wie eine Moritat von der Raffgier und er könnte das Motto des heutigen China sein.
Und für Liao Yiwu kam wieder alles anders. Statt Getriebener im „Geld machen“ zu werden, wird er ein getriebener Wanderarbeiter und Straßenmusikant. Er lernt China von ganz unten kennen, den „Bodensatz“ der Gesellschaft. Diesem Stück Leben verdanken wir die Gespräche mit Dieben, Bettlern, Mördern, Prostituierten, „Abweichlern“ aller Art aus dem Buch FRÄULEIN HALLO UND DER BAUERNKAISER. Es entsteht ein Panoptikum an Lebensläufen, die eigentliche Kulturgeschichte Chinas von Mao bis zum heutigen Tag. Es zeigt sich, daß politische Verfolgung in jeder Familie ihre Spuren hinterlassen, durch Mord ihre Lücken gerissen hat. Seit Generationen regiert die eine, dieselbe kommunistische Partei. Sie ist vielfach mit Blut besudelt und sperrt bis heute alle ins Gefängnis, die darüber reden. Nicht nur Künstler, auch Menschenrechtler, die sich um ausgeraubte Bauern, um Behinderte, AIDS-Kranke, Hinterbliebene der Erdbebenopfer kümmern.
Auch über seine Haftzeit sollte Liao Yiwu nicht reden. Man hat ihm Gefängnis angedroht und hunderte Seiten Manuskript konfisziert. Und er schrieb sie wieder von Null auf. Und sie wurden wieder konfisziert. Und er schrieb sie zum dritten Mal von Null auf und ließ sie zum Verlag nach Deutschland schmuggeln. Dem Geheimdienst mußte er versprechen, daß er selbst die Veröffentlichung verbietet. Und er versprach es. Aber heimlich bat er den Verlag, das Gefängnisbuch sofort zu drucken. Er war des Taktierens überdrüssig und bereit für dieses Buch wieder ins Gefängnis zu gehen.
Woher nimmt ein Mensch die Kraft, ein Buch dreimal von Null auf zu schreiben und bei höchster literarischer Intensität zu bleiben?
Ich glaube, bei Liao Yiwu kam wieder alles anders. Auf den Straßen als „streunender Hund“, wie er sagt, war er in das Panoptikum des Lebens geraten. So wie er beim MASSAKER-Gedicht die Literatur in die Wirklichkeit gezwungen hatte, zwang er jetzt die Wirklichkeit in die Literatur. Es scheint umgekehrt zugegangen zu sein, aber der Impuls war der gleiche wie beim MASSAKER-Gedicht. Wahrscheinlich sogar derselbe. Liao Yiwu mußte aus innerer Not das Panoptikum des Lebens mit der Sprache vereinen. Woher diese Kraft? Vielleicht hat man keine andere Wahl, als die Sprache zu zwingen, das Erlebte herzugeben, wenn man wie Liao Yiwu den zum Tode Verurteilten den letzten Abschiedsbrief oder das Testament geschrieben hat. Wenn man dabei war, als einer zur Hinrichtung aus der Zelle geholt wurde. Wenn man dann ungeheuerlich hilflos den milden Gedanken hatte: „Er hat sich auf den Weg gemacht.“
Die Qualen der Erinnerung nennt Liao Yiwu „jenseitige Zärtlichkeiten“.
Kann es sein, daß das Erlebte umso unwirklicher wird, je länger und stärker es im Kopf tobt. Daß die Dunkelkammer im Kopf mit fortlaufender Zeit die Einzelheiten immer deutlicher entwickelt, daß man immer mehr Details immer nackter sieht. Daß man in der Überdeutlichkeit ankommt und Angst hat, den Überblick zu verlieren, weil das Gedächtnis die Einzelheiten nicht alle fassen kann. Daß die Erinnerung sich selbst vergessen, also unwirklich werden will. Daß Überdeutlichkeit und Jenseitigkeit gar kein Gegensatz sind. Ich glaube Liao Yiwu schreibt, weil er die „jenseitigen Zärtlichkeiten“ am Fliehen hindern muß. Erst beim Schreiben selbst, erfährt er, wie das Panoptikum des Lebens in die Sprache paßt. Das merkt man den Büchern an – kein Ton ist falsch, kein Bild verrutscht, kein Satz gestelzt. Liao Yiwus Sprache hat eine Natürlichkeit, die sich nicht verbiegen muß: Poesie und Zeitgeschichte in einem.
Denken wir an den Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo – für seinen Wunsch nach Demokratie sitzt er 11 Jahre im Gefängnis. Und seine Frau in der Isolation unter Hausarrest. Und Ai Wei Wei wird nach monatelanger Verschleppung weiter genarrt und kriminalisiert. Chinas Kommunistische Partei marschiert mit ihrem neuen Reichtum vom Machtrausch besoffen immer weiter zurück in Maos dunkle Zeit. Einen Fengshui-Meister zitierend schreibt Liao Yiwu: „Mit der Welt und ihren Sitten geht es mal so und mal so, verdammt, es ist, als ob man unter dem Bettuch Mäuse fängt, wenn hier Ruhe ist, tauchen sie dort wieder auf.“
Für Liao Yiwu kam wieder alles anders. Er konnte fliehen und ist bei uns im Exil. Exil ist vielleicht nur das zweitbeste Glück, aber dennoch das allergrößte, verglichen mit einer Heimat, in der man nicht leben darf.
Lieber Yiwu, statt Gefängnis für EIN LIED UND HUNDERT LIEDER kriegst du heute den Geschwister-Scholl-Preis für dieses Buch. Was für ein Glück.
© Herta Müller 2011, Literaturnobelpreisträgerin
Es gilt das gesprochene Wort.