Jürgen Dehmers ist das Alter Ego von Andreas Huckele, der als Schüler in den 80er Jahren die Odenwaldschule besuchte, dort eines der Opfer des Schulleiters Gerold Becker wurde und seit über einem Jahrzehnt Täter, Mitwisser, Schweiger und Vertuscher mit ihren Verbrechen konfrontiert. Jürgen Dehmers nutzt die Medien zur Anklage der Verantwortlichen, da durch das deutsche Rechtssystem wegen unzureichender Verjährungsfristen keine juristische Gerechtigkeit mehr geschaffen werden kann. Im Jahr 2010 gelang ihm die weitreichende Vernetzung der Betroffenen, und er wurde endlich von einer breiten Öffentlichkeit gehört.
Preisträger 2012
Jürgen Dehmers
Wie laut soll ich denn noch schreien?
Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch
Rowohlt Verlag
Reinbeck bei Hamburg
ISBN 978-3-498-01332-5
Autor
Begründung der Jury
Jürgen Dehmers schildert in seinem 2011 erschienenen Bericht „Wie laut soll ich denn noch schreien. Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch“ (Rowohlt-Verlag) präzise, was ihm und anderen Schüler angetan wurde, er beschreibt auch die Folgen einer Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch – Gefühle der Ohnmacht, Angst, Wut, Ekel, Störungen der Persönlichkeitsentwicklung, bis hin zu Suchtkrankheiten und Suizidgefahr.
Mehr…
Opfer sexueller Gewalt äußern sich selten öffentlich. Was ihnen widerfahren ist, beschämt sie zu sehr. Dies machen sich Täter zu nutze. Dass Jürgen Dehmers es gewagt hat, das Schweigen zu durchbrechen und zu benennen, was geschah, würdigt die Jury des Geschwister-Scholl-Preises als ein seltenes Beispiel von Mut. Dehmers Buch beschreibt die Vorgänge an der Odenwaldschule als ein kriminelles weit verzweigtes System mit Tätern und Mitwissern, von Macht und Gewalt. Er deckt die Mechanismen auf von Vertuschung, Verschweigen, Abhängigkeit, Bedrohung, die einen fortgesetzten Missbrauch erst möglich machen. Auch darin liegt eine große Leistung dieses Buches: dass es hinweist auf das Versagen von Zivilgesellschaft und Rechtsstaat, von Bürgern, Pädagogen, bis hin zu Presse und Justiz, die darin scheitern, die Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen sicherzustellen, wie es die UN-Charta für die Rechte der Kinder verlangt.
Jürgen Dehmers ist ein Pseudonym. Der Autor besuchte in den achtziger Jahren die hessische Odenwaldschule und wurde dort über Jahre von seinem Schulleiter missbraucht. Als Erwachsener versuchte er zusammen mit mehreren Schülern, die auch Opfer von sexueller Gewalt an der Odenwaldschule wurden, immer wieder vergeblich, die Öffentlichkeit auf das Geschehen aufmerksam zu machen, das sich über einen Zeitraum von 20 Jahren hinzog und über hundert Kinder und Jugendliche betraf. Erst im Jahre 2010 begann eine breite öffentliche Diskussion. Schnell stellte sich heraus, dass nicht nur an der Odenwaldschule, sondern auch an anderen Schulen oder Institutionen in Deutschland viele Kinder von Lehrern, von Priestern, von Sportpädagogen belästigt, gequält und vergewaltigt worden waren. Die Täter wurden gedeckt, von Kollegen und anderen Mitwissern, auch offenbar von Leuten, die bislang einer deutschen Elite zugerechnet wurden.
Dehmers Buch ist ein notwendiger Appell, an Einzelne sowie an die Institutionen unserer Gesellschaft, solchen Missbrauch zu unterbinden sowie geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die es erlauben, den Opfern zu helfen, die Täter zu stellen und zu bestrafen. Es fordert dazu auf, Zivilcourage zu zeigen sowie Verantwortung zu übernehmen und ist damit geeignet, dem Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.
…Weniger
Verleihung
Der 33. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 26. November 2012 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an Andreas Huckele verliehen, der sein Buch unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers veröffentlicht hat. Oberbürgermeister Christian Ude und Dr. Jörg Platiel, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Die Laudatio hielt Dr. Tanjev Schultz (Süddeutsche Zeitung).
Mehr…
Das Thema „sexualisierte Gewalt“ stand im Mittelpunkt der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises: „In welcher Welt wollen wir leben?“, fragte Andreas Huckele das Publikum, und weiter: „Wollen wir es weiter hinnehmen, dass die Rechtslage und die Strukturen in unseren pädagogischen Einrichtungen die Täter schützen und nicht die Kinder? Oder wollen wir etwas anderes? Und was sind wir bereit dafür zu tun?“ Auch Tanjev Schultz von der Süddeutschen Zeitung, der die Laudatio auf den Preisträger hielt, appellierte sowohl an die Zivilgesellschaft, als auch an den Rechtsstaat: „Politiker drücken sich gerne um eine Antwort herum, wie die Justiz, das Bildungs- und das Gesundheitssystem mit Pädokriminellen umgehen sollen. Es gibt diese Menschen, es bringt nichts, die Augen davor zu verschließen.“ Davor, dass die Neonazi-Szene das Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder instrumentalisiere, warnte er eindringlich: „Die Stärke des Rechtsstaats zeigt sich darin, wie gut er Kinder schützen kann, ohne dabei seine Prinzipien zu verraten.“
…Weniger
Ansprache von Dr. Jörg Platiel
Sehr geehrter Damen und Herren,
lieber Preisträger,
Ich falle hier gleich mit der Tür ins Haus: der Mann, den wir heute mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnen, hat einen Skandal erzeugt. Er hat sich nicht rücksichtsvoll verhalten, wie es von ihm erwartet wurde, er hat Übereinkünfte durchbrochen, sich von Scham und Schande nicht beherrschen lassen und er hat prominente Bürger unseres Landes an den Pranger gestellt. Für einen solchen Typus gibt es hier zu Lande einschlägige Bezeichnungen: Störenfried, Außenseiter und Anstifter zum Beispiel, auch Provokateur oder bestenfalls, literarisch durch Heinrich von Kleist legitimiert: ein Michael Kohlhaas.
Mehr…
Wir zeichnen ihn genau für das aus, was hinter seiner beharrlichen Widerständigkeit, seiner Unverzagtheit und seiner Leidenschaft für ungeschönte Darstellung steht:
Wir zeichnen ihn aus für sein nicht ablenkbares Rechtsempfinden und für seine Zivilcourage. Wir ehren ihn für seine Verletzung der Spielregeln, nämlich dafür, dass er es gewagt hat fadenscheinige Übereinkünfte zu brechen; ohne Rücksicht zu nehmen auf Autoritäten, anerkannte Institutionen und auf eingeschliffene gesellschaftliche Konventionen.
Jürgen Dehmers hat sich dazu entschlossen ein Stück Sicherheit aufzugeben: Zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises tritt er zum ersten Mal mit seinem bürgerlichen Namen an die Öffentlichkeit. Das ist für Andreas Huckele ein couragierter Schritt, weil das Pseudonym für ihn eine Art Überlebensstrategie war. Ein Name, der ihm vielleicht einen kleinen Schutz gewährt hat. Der ihm aber auf jeden Fall eine Hilfe war in bedrohlichen Zeiten. „Wenn man sich mit Kriminellen anlegt, ist es besser zu zweit zu sein“, so schreibt er dazu lakonisch in seinem Bericht.
Andreas Huckele hat eines der größten Tabus gebrochen, das sich vor einem Opfer auftun kann: er berichtet von dem über Jahre andauernden sexuellen Mißbrauch, dem er als Schüler der Odenwaldschule ausgeliefert war. Er berichtet von seinem Kampf um die Wahrnehmung und öffentliche Anerkennung des Geschehenen sowie von der Rettung seiner beschädigten Seele.
Er wurde, bis er sich mit sechzehn Jahren endlich wehren konnte, drei Jahre lang von einem Kinderschänder missbraucht. Wie in fast allen vergleichbaren Fällen, machte sich der Täter auch hier bestimmte eingespielte Verhaltensmuster zu Nutze: die sexuelle Konfrontation eines erfahrenen Erwachsenen mit einem unmündigen Jugendlichen beruht auf dem einseitigen Machtverhältnis zu Gunsten des Täters. Aus den Scham- und Schuldgefühlen der Opfer entsteht eine Ohnmacht, die es den Betroffenen beinahe unmöglich macht, die Gewalt, die ihnen angetan wurde, zur Sprache zu bringen und die Vorgänge zu beschreiben. Darüber hinaus haben Opfer Angst vor Repressalien und Sanktionen. Zudem leben die Täter nur zu oft in der Sicherheit, dass man im Zweifelsfall ihnen mehr glaubt als den jugendlichen Opfern. Diese fatalen Mechanismen musste auch Andreas Huckele in ihrer ganzen Brutalität und erniedrigenden Wirkung erdulden, bevor er den Mut und die Kraft fand, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Als im Juli 2010 an der Odenwaldschule – nach über einem Jahrzehnt des Wegsehens, des Nicht-wahr-haben-Wollens und des Todschweigens – ein öffentliches Hearing über die begangenen Untaten nach dem Muster der südafrikanischen „Wahrheitskommission“ stattfindet, wird den Opfern zum ersten Mal wirklich zugehört. Das Verdienst daran hat in aller ersten Linie Andreas Huckele.
Sein Buch will nichts anderes sein als eine unmissverständliche und unüberhörbare Aufforderung zum Zuhören. „Hört auf, euch etwas vorzustellen, hört uns endlich zu“ und „ wie laut soll ich denn noch schreien?“, ruft uns der Autor unmissverständlich zu.
Von allen Betroffenen, die im letzten Jahrzehnt aus Internaten, Kollegien, Pfarrhäusern und Sportheimen als Brutstätten von Kindesmissbrauch und der Vergewaltigung Jugendlicher berichteten, hat er den größten Anteil an der Aufdeckung dieser üblicherweise im Dunkeln liegenden Straftaten. Er ist einer der wenigen, die aufs Ganze gegangen sind.
Andreas Huckele erzählt auf eindringliche, in manchen Passagen geradezu schmerzhafte Weise von seinem schwierigen Weg aus der existentiellen Krise, in die ihn die Untaten gestürzt haben. Dieses Buch führt mitten hinein in das Herz der Betroffenheit selbst.
1999 brachte er seine Geschichte in die „Frankfurter Rundschau“, doch erst 2010 kann er das eiserne Schweigen von Vorstand, Leitung und Trägerverein der Odenwaldschule durchbrechen. Erst zu diesem Zeitpunkt findet seine Darstellung endlich ein überwältigendes Medienecho.
Auch in der Kasuistik der Verwilderung an dieser Schule, die auch gemeinsamen Alkohol- und Drogenmissbrauch unter Lehrern und Schülern mit einschließt, ist an oberster Stelle das Schweigen zu nennen. Es hält das Ich in Gefangenschaft. Eine Mauer entsteht mitten im Selbst, zwischen jenem Teil, der das Geschehene herausschreien möchte, weil es sich, unbearbeitet, wie es ist, im Lauf der Jahre vergrößert, und jenem Teil, der vor Scham und Bestürzung, Angst und Seelenpein stumm bleiben will.
Scham und Wortlosigkeit sind übrigens der beste Schutz für die Täter. Und andererseits sind Beschönigung, Ablenkung, Gleichgültigkeit und Schweigen die Furien der Verachtung für die Opfer.
Das Buch mit der bezeichnenden Frage „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ hat Andreas Huckele noch einmal mit all seiner Seelenpein konfrontiert. Welche Herausforderung es an jene stellt, die sich mit solchen Geschehnissen auseinandersetzen wollen, geht aus der Tatsache hervor, dass an die zwanzig Verlage die Publikation ablehnten. Bis Rowohlt im Herbst 2011 das Buch herausbrachte.
Jürgen Dehmers lässt keinen Zweifel daran, dass ihm der Weg in die Öffentlichkeit, den er wählte, geholfen hat. Doch ebenso klar ist, dass der Albtraum der vergangenen, aber nicht vergessenen Ereignisse ihn niemals ganz verlassen wird. Seine Bilanz ist vor allem in einfachen, lakonischen Aussagesätzen wie diesem zu finden: „Manchmal sind die Phantomschmerzen nahezu unerträglich.“
Andreas Huckele fordert von uns eines mit großer Klarheit: die Geduld des inständigen Zuhörens. Es fallen klare Worte: über das Versagen der überregionalen Presse nach Veröffentlichung seines Falls in der „Frankfurter Rundschau“. Fast ein Jahrzehnt lang haben sich die großen Blätter um die Vorkommnisse an der Odenwaldschule nicht oder nur unzulänglich gekümmert.
Er fordert die eindeutige Benennung der Täter und unser Engagement bei der Abschaffung der juristischen Verjährungsfristen für Verbrechen dieser Art. Er wirft einen drastischen Blick auf die Odenwaldschule, diese UNESCO-Modellschule der Reformpädagogik, die mit der Distanzlosigkeit zwischen Lehrern und Schülern auch die sexuellen Grenzen aufweichte. Er wirft einen durchdringenden Blick auf den hessischen Zauberberg, den er als das „Totenschiff“ der Pädagogik bezeichnet. Die Tatsachen, die ans Licht kamen, als sie an die Öffentlichkeit drangen, sind erschreckend: 18 Pädagogen verübten über Jahrzehnte hinweg sexualisierte Gewalt an über 100 Schülern. Die Dunkelziffer dürfte diese Zahlen noch übersteigen.
Er ist der Protokollführer des Unrechts, das ihm und anderen von Triebtätern zugefügt wurde. Zu dieser Aufdeckungsarbeit gehört eine nicht groß genug zu bewertende Leistung der Selbstentdeckung und das kompromisslose Bekenntnis zur Wahrheit. Wer dieses Zeugnis der Beharrlichkeit, des Schmerzes und der Wut liest, wird erfahren, wie lange dieser Weg zur Veröffentlichung war, den Andreas Huckele seit 1998 gegangen ist: Ein fortgesetzter Kampf, den nur wenige dank ihres außerordentlichen Mutes und letztlich durch ihr Vertrauen auf die eigene Kraft bestehen können. Man muss bereit sein, tief in die eigenen Traumata hinabzusteigen, welche die unabweisbaren Folgen des Erlittenen sind. Und man muss bereit sein, auch vor der Kältezone der gesellschaftlichen Ächtung und Vereinsamung nicht zurückzuschrecken. Dass Andreas Huckele dazu bereit war, ist ein ungewöhnliches und herausragendes Zeugnis der Selbstüberwindung und des Mutes.
Von Andreas Huckeles Mut und von der Eindeutigkeit seines Berichts geht eine unmissverständliche Aufforderung an uns alle aus: die Opfer dieser und anderer herabwürdigender Praktiken, die inmitten unserer Gesellschaft existieren, nicht allein zu lassen, bereit zu sein, hinzusehen, wenn es notwendig ist, ihre Qualen wahrzunehmen und sie als Menschen ernst zu nehmen. Denn das ist der erste und wichtigste Schritt.
Denn nur so kann die Kluft, die zwischen den Opfern und uns liegt, zumindest ein Stück weit verkleinert werden.
© Dr. Jörg Platiel 2012
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger
Ansprache von Christian Ude
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
dies ist bereits die 33. Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises und zum 25. Mal schon findet sie hier in der Aula der Ludwig-Maximilians-Universität statt. Und da es eine treue Gemeinde ist, die zu dieser Verleihung kommt, werden Sie sich alle daran erinnern, dass in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle, die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich mit bisher verdrängten Aspekten des Nazi-Regimes bei den ausgezeichneten Werken im Vordergrund stand. Aber einzelne Werke haben sich auch Erscheinungen der Unterdrückung, des Missbrauchs, der Verfolgung, der Gefährdung in gegenwärtigen Gesellschaften zum Thema gemacht: Sei es das Treiben der italienischen Mafia, seien es politische Morde und Staatsversagen im gegenwärtigen Russland, sei es auch die Unterdrückung von Frauen durch archaische Menschenbilder im gesamten verwandtschaftlichen Umfeld - und heute haben wir wieder ein Gegenwartsereignis.
Mehr…
Das wirft immer eine Frage auf: Kann denn Kritik an heutigen Missständen, auf die angeblich alle Medien geradezu begierig warten, ein Akt der Zivilcourage sein? Heute droht einem doch nichts im freiheitlichen Rechtsstaat, wenn man Missstände aufdeckt. Ja, im Gegenteil die Mediendemokratie wartet auf Stofflieferanten – so das weitverbreitete Vorurteil. Und dann kommt so eine Mitteilung, wie sie Herr Platiel gerade eben gemacht hat, die ich nicht kannte, dass dieses erschütternde –ich möchte sogar sagen, wenn es niemand falsch verstehen wird – schwer zu ertragende Buch, dieses auf jeden Fall schmerzhafte Buch…von 20 Verlagen abgelehnt worden ist, ehe einer zugegriffen hat. Da fällt mir eine entsetzliche Parallele auf, weil Sie offensichtlich ein Jahrzehnt lang versucht haben, Augen zu öffnen, Fakten mitzuteilen und Reaktionen auszulösen, dass wir vor zwei Tagen am anderen Ende der Ludwigsstraße, auf dem Odeonsplatz, der Opfer des rechtsextremistischen Terrors gedacht haben, die über ein Jahrzehnt lang nicht als Opfer des rechtsextremistischen Terrors erkannt wurden, weil die Sicherheitsbehörden diese Möglichkeit schnell verworfen und stattdessen alle möglichen Verdächtigungen über die Opfer unter so flotten Namen wie „Dönermorde“ oder „Bosporus- Kommission“ in Umlauf gebracht haben. Vor zwei Tagen haben wir uns noch gedacht: Was für ein entsetzliches Staatsversagen, dass Straftaten, Morde ein Jahrzehnt lang nicht aufgeklärt werden mitten in diesem Rechtsstaat – das wäre der Zivilgesellschaft nicht passiert.
Aber heute haben wir es mit der Zivilgesellschaft zu tun: genau dasselbe Versagen, genau derselbe Zeitraum – über ein Jahrzehnt. Die Betroffenen tragen ihre Schmerzen, das erlittene Unrecht vor, aber es finden sich weder Zeitungsredaktionen, noch Verlage, noch Kollegen im Lehrerkollegium, noch Mitglieder des Kuratoriums, noch Begleiter der Reformpädagogik, die irgendetwas aufgreifen würden.
Das bringt mich zu der Bewertung, dass der Geschwister-Scholl-Preis keineswegs mit dem historischen Abstand zum Ende des Dritten Reiches immer nostalgischer, aber auch überflüssiger wird. Weil man angeblich heute doch keine Zivilcourage mehr brauche, um Unrecht aufzudecken oder für Opfer einzutreten oder Übeltätern das Handwerk zu legen. Das Gegenteil ist richtig. Wir stehen gerade in diesem Jahr vor dem Versagen erst der Staatsorgane bei einer Mordserie, die ein Jahrzehnt lang unentdeckt blieb, und dann vor dem Versagen gerade der aufgeklärten, reformbereiten Zivilgesellschaft, die Hinweise, selbst Buchmanuskripte nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Da steckt sicherlich kein subjektiv böser Wille dahinter, sondern der Wunschgedanke, man möge doch die Reformpädagogik nicht in Misskredit bringen. Viele konnten und wollten es auch wirklich nicht glauben. Manche haben es für eine Revanche gehalten, dass auf die Aufdeckung von Übergriffen und sexuellen Missbrauch im Bereich der katholischen Kirche plötzlich die Reformpädagogik, dieser Hort des Fortschritts, nun ins Visier geraten sollte.
Also, es gibt schon mehr Mechanismen der Unterdrückung als nur staatliche Apparate, die es mit Zwang und Gewalt durchsetzen. Es gibt auch gedankliche Tabus, Absichten der Schonung, vermeintlich für gute Zwecke. Um konsequent wegzuschauen, selbst wenn Opfer sich bereits melden und schon die Kraft gefunden haben, schriftlich Bericht zu erstatten. Wenn es also eigentlich überhaupt keine Möglichkeit der Verdrängung mehr gibt. Es fand trotzdem von der ersten Versendung der Manuskripte bis zum endgültigen Druck ein quälend langer Prozess der Verdrängung statt. Ich denke, dass dies uns alle betroffen machen muss. Dieses Jahr endet gewissermaßen mit der Scham über umfassendes Staatsversagen.
Was haben wir – ich eingeschlossen – bei der nachträglichen posthumen Ehrung eines Mordopfers in Russland gesagt: Es mag ja sein, dass das Putin-Regime nicht mit dem Finger am Abzug tätig war, aber ein moderner Staat, der jahrelang mörderisches Treiben nicht unterbindet, wird schuldig durch sein Staatsversagen. Man muss sich diese Worte mal im Angesicht der rechtsextremistischen Mordserie und ihres ein Jahrzehnt langen Unentdecktbleibens vergegenwärtigen, um zu erkennen, wie wenig Anlass wir haben, uns auf irgendein hohes Ross zu setzen. Ich glaube, die heutige Preisverleihung für ein großartiges, weil wirklich couragiertes und bitter notwendiges Buch macht deutlich, dass es offensichtlich heute notwendiger – ich will nicht sagen denn je, aber notwendiger als seit langem – ist, an die Pflichten von Staatsorganen, nicht auf den rechten Auge blind zu sein, und an die Pflichten der Zivilgesellschaft, sich für jeden einzusetzen, dem Unrecht geschieht, auch wenn es nicht in die bestehenden Vorurteile und Vorlieben sich nahtlos einfügt, zu erinnern. Auch nach 33 Jahren Geschwister-Scholl-Preis ist es nötig, Zivilcourage zu stärken und zu ermutigen.
Wobei ich eines noch, sozusagen in eigener Sache, hinzufügen will. Viele haben ja am Anfang der Missbrauchsdebatte geglaubt, es sei ein Problem der katholischen Kirche. Kein Wunder bei dem gestörten Verhältnis zur Sexualität. Das kommt halt heraus, wenn man lustvolle sexuelle Entfaltung verhindert oder verbietet. Aber dann kam der Schock: Die Reformpädagogik ist unter ganz anderen Vorzeichen zu ähnlich niederschmetternden Fähigkeiten und Entgleisungen fähig. Da sollten wir uns als Münchner Bürger, als Repräsentanten der Stadt nicht sicher vor Kritik fühlen. Die Debatte über kirchliche Missbrauchsfälle und sogar die Reformpädagogik löste natürlich auch Nachfragen aus: Wie war das denn bei der Stadt, bei städtischen Heimen? Das Resultat war zwar nicht statistisch so gewaltig, aber es war beschämend. Denn es gab nicht nur Übergriffe, Missbrauchsfälle, Abhängigkeiten, die schamlos ausgenutzt wurden und zwar jahrelang. Es waren sogar höchste Repräsentanten der Pädagogik der Stadt an den Heimen verwickelt. Auch die Stadt München hat sich der Frage zu stellen: Wie man schonungslos aufklärt – schonungslos nicht für die Opfer, sondern für die Täter – und wie man überhaupt über die Entschuldigungen hinaus, die wichtig sind, aber nicht wirklich heilen, Entschädigung leisten kann und in Zukunft für alle Zeiten derartige Machtmissbrauchsfälle unterbindet.
Ich will damit sagen: Das Buch beschreibt nicht Vorkommnisse in einem wunderschönem, aber einsam gelegenem Internatsgebäude, es beschreibt Vorkommnisse auch in unserer Stadt, in unseren städtischen Einrichtungen - und ich bin fest überzeugt, dass es überall viel zu entdecken gäbe, wenn man nur am Lack kratzen würde. Wir sind es den Opfern, die nicht alle die Kraft haben, ein Buch darüber zu schreiben, einfach schuldig, uns dieser Schicksale anzunehmen!
© Christian Ude 2012, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger
Laudatio von Tanjev Schultz
Sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Andreas Huckele,
was für einen Lauf haben Sie hinter sich, welche Kondition haben Sie bewiesen – und was für einen Sieg haben Sie errungen! Einen Sieg, den wir heute feiern wollen.
Andreas Huckele alias Jürgen Dehmers ist ja wirklich ein Sportler, ein Läufer und Triathlet. Und vielleicht liegt darin eine Erklärung dafür, warum Sie genügend Kraft und Ausdauer hatten, um die Wahrheit über die Odenwaldschule und die sexuelle Gewalt, die Lehrer dort jahrzehntelang ausübten, ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren – gegen alle Widerstände. Laufen ist Ihr Ding. Weglaufen nicht.
Mehr…
Im ersten Versuch kamen Sie noch nicht ans Ziel. Der Journalist Jörg Schindler veröffentlichte 1999 auf Ihr Betreiben hin einen Artikel in der „Frankfurter Rundschau“, der die Übergriffe an der Schule thematisierte. Der Beitrag blieb fast ohne Wirkung, das ganze Ausmaß der Verbrechen noch unerkannt.
Wo waren wir alle, die wir heute mit Ihnen feiern, damals? Was haben wir gehört? „Wie laut soll ich denn noch schreien?“, heißt Ihr Buch. Wir waren mit Taubheit geschlagen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, es gehe Ihnen auch darum, die Definitionsmacht über Ihr Leben zu behalten. Wer sexuelle Gewalt erfährt, erlebt das als einen Kontrollverlust, der sich in alle Lebensbereiche hineinfrisst. Wer zum Objekt und zum Opfer herabgewürdigt worden ist, muss alles daran setzen, sich wieder als Subjekt zu erleben.
Es gibt viele Wege, das Erlittene zu bewältigen. Wir wissen, dass schamvolles Schweigen die verständliche Reaktion vieler Betroffener ist. Dafür muss sich niemand rechtfertigen.
Andreas Huckele hat das Schweigen irgendwann nicht mehr ausgehalten.
Sie schreiben von der Hoffnung, dass das, was offen ausgesprochen wird, in der Tiefe der Seele nicht mehr weiterwuchern kann. Hoffentlich haben Sie recht. Ich wünsche es Ihnen von Herzen.
Es reicht Ihnen aber nicht, sich etwas von der Seele zu schreiben. Sie wollen gehört und verstanden werden. Wie Sie, glaube ich an die Kraft der Kommunikation, die den Menschen dazu befähigt, mehr zu sein als ein Machttier.
Sie haben mir, als wir uns kennenlernten, von Ihrer Begeisterung für das Werk des amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey erzählt. Das war ein schöner Zufall, weil ich diese Begeisterung seit Langem teile. Dewey hat einmal geschrieben, in seinem Buch „Erfahrung und Natur“: Kommunikation sei auf „einzigartige Weise sowohl Mittel wie Ziel. Sie ist Mittel, insofern sie uns von dem andernfalls überwältigenden Druck der Ereignisse befreit (...).“ Und sie ist Ziel – als Teilhabe an dem, was „für eine Gemeinschaft von Wert“ ist.
An anderer Stelle spricht Dewey vom Wunder der Kommunikation. Von der einzigen Form einer Verbindung, die wahrhaft menschlich ist – und nicht bloß ein Trick oder ein animalisches, herdenmäßiges Sammeln und Suchen nach Schutz und Wärme.
Ich glaube zutiefst an dieses Wunder.
In Ihrem Buch haben Sie vieles schonungslos offengelegt: nicht nur das unerträgliche Schweigen und die Ignoranz von Lehrern, Medien und Behörden. Auch die drastischen Sachen: Kinderpornos im Zimmer des Direktors. Eine Vaseline-Dose mit Kotspuren. Die täglichen Weckattacken mit dem Griff an den Penis. Der Suff, in den Sie sich in jungen Jahren geflüchtet haben.
Sie haben das alles in einem trockenen, manchmal ironischen oder sarkastischen Tonfall geschrieben, der nicht abrutscht in das, was man etwas arrogant Betroffenheitsliteratur nennt. Ihr Buch berührt auf besondere Weise: Es ist wie ein schneller Basslauf in einem Rocksong. Der Text wummert los und erfasst den Leser an Kopf und Körper.
Die Öffentlichkeit schwankt, wenn es um sexuelle Gewalt geht, zwischen betretenem Herumdrucksen und gierigem Voyeurismus. Im Fernsehen und im Internet sind wir Zeugen einer massenhaften Selbstentblößung. Kein Schicksal und kein privates Unglück sind mehr sicher vor einer öffentlichen Zurschaustellung. Die Tyrannei der Intimität, die uns beherrscht, steht in traurigem Kontrast zum Mangel an wahrer Aufklärung, den wir beklagen müssen.
Den Geschwister-Scholl-Preis verdienen Sie, Herr Huckele, nicht zuletzt deshalb, weil Sie sich mit Ihrem Buch, und Ihrem sonstigen Wirken auf die Seite der Aufklärung geschlagen haben.
Ihre persönlichen Erfahrungen haben Sie von Anfang an in einen größeren Kontext gestellt. Sie haben darauf verzichtet, dem Boulevard Zucker zu geben. Larmoyanz und die Eitelkeiten des öffentlichen Bekenntnisses sind Ihnen ohnehin fremd.
Ich werde nie unsere erste Begegnung vergessen, im März 2010. Wir liefen vier Stunden am Main-Ufer auf und ab, in höchster Konzentration. Sie erzählten, Sie analysierten, und ich nehme auch an, dass Sie mich prüften. Sie wussten ja, dass auch ich Sie prüfe. Misstrauen ist eine journalistische Pflicht. Diese Pflicht darf uns Medienschaffende, uns Journalisten, Lektoren und Verleger, nie vergessen lassen, dass wir es mit leibhaftigen Menschen zu tun haben, die nie nur Mittel für uns sein dürfen, sondern Zweck.
Was ich in diesen März-Tagen erfuhr, erschütterte vieles von dem, an das ich geglaubt hatte: den Glauben an die Reformpädagogik und ihre Gurus. An der Odenwaldschule konnten Propagandisten des „pädagogischen Eros“ ungestraft ihr Unwesen treiben, während sie sich zugleich als Humanisten gerierten und als große Kinderfreunde feiern ließen.
Bei einer Begrüßungsrede sagte damals der Direktor der Odenwaldschule: „Hier ist alles erlaubt.“
Jürgen Dehmers schildert das in seinem Buch so: Schüler konnten ihre Kameraden ungestraft drangsalieren. Mitschüler wurden in Spinde gesperrt, zum Essen eines Fresspakets gezwungen – „mir wurde ziemlich schnell klar“, schreibt Dehmers, „dass ich in einer archaischen Urgesellschaft gelandet war“.
Die abgeschiedene Schule im schönen Odenwald sah sich als Hort der Aufklärung. Aber das war sie nicht. Sie war in den 1970er und 80er Jahren ein nach außen weitgehend abgeschottetes, fast geschlossenes System, das dafür seine „Offenheit“ im Inneren bis ins Kriminelle steigerte: Lehrer duschten mit Schülern, jeder duzte jeden. Die Türen des Direktors standen offen, Schüler telefonierten in seinem Schlafzimmer; sie durften sich an seinem Kühlschrank bedienen – und der Direktor bediente sich an ihren Körpern.
So scheinbar einhellig der moralische Konsens ist, der sexuelle Gewalt verdammt, so mühsam bleibt auch heute noch der Kampf gegen diese Gewalt. Ein Grund dafür ist, dass uns trotz aller Offenheit das ehrliche Reden über diese Gewalt so schwer fällt.
Wer sind die Opfer? Sie sitzen unter uns. Sie sitzen vielleicht direkt neben uns. Statistisch betrachtet, sitzen sie in jeder Schulklasse, in jedem Sportverein, in jedem Büro. Wer sich offenbart, muss damit rechnen, dass ihm niemand glaubt.
Wer sich offenbart, muss damit rechnen, dass der Partner, die Freunde und Verwandte ihm mit Beklommenheit begegnen. Und dass Fremde ihn betrachten mit diesem seltsamen Blick: So also sieht ein Missbrauchter aus...
Auf Übergriffe gegen Kinder reagiert die Öffentlichkeit mit besonderer Bestürzung. Aber auch Erwachsene werden für ihr Leben traumatisiert, wenn sie sexuelle Gewalt erfahren. Kann nicht fast jede Frau eine Episode schildern, in der sie, wenn nicht begrapscht oder vergewaltigt, so doch bedrängt oder genötigt worden ist?
Wie viel Gewalt müssen Behinderte über sich ergehen lassen, wie viel die Alten?
Die mühsam errungene Zivilität unserer Gesellschaft ist in jeder Sekunde brüchig, der Alltag allen Fortschritten zum Trotz gewalthaltiger, als wir uns eingestehen mögen. Und blicken wir in andere Länder, in denen Kinder als Sklaven verkauft und Frauen rigoros unterworfen werden, müssen wir erst recht tief Luft holen für den langen, langen Lauf, den wir noch vor uns haben.
In Deutschland ist es noch immer nicht gelungen, ein dichtes Netz an Hilfsangeboten und Therapieplätzen zu knüpfen, das Betroffene schnell und unbürokratisch auffängt. Die Verjährungsfristen sind noch immer so gestaltet, dass viele keine Aussicht haben, vor Gericht zu ihrem Recht zu kommen.
Politiker drücken sich gerne um eine Antwort herum, wie die Justiz, das Bildungs- und das Gesundheitssystem mit Pädophilen und Pädokriminellen umgehen sollen. Es gibt diese Menschen, es bringt nichts, die Augen davor zu verschließen. Und die Stärke des Rechtsstaats zeigt sich darin, wie gut er Kinder vor ihnen schützen kann, ohne dabei seine Prinzipien zu verraten.
Deshalb erfüllt es mich mit Sorge und mit Zorn, dass Neonazis und die NPD in jüngster Zeit immer offensiver versuchen, das Thema „Kindesmissbrauch“ zu besetzen. Sie fordern die Todesstrafe für Kinderschänder. Es ist eine Kampagne, die die Ängste von Eltern und die Verzweiflung vieler Opfer ausnutzt.
Für den Kampf gegen sexuelle Gewalt sind Rechtsextremisten und Rassisten die Letzten, die wir gebrauchen können.
Wir brauchen sensible und entschlossene Menschen, wie Sie es sind, Herr Huckele. In Ihrem Buch sagen Sie, sie wollen kein Held sein. „Der Held ist eine Scheißrolle.“ Sie haben sich Ihre Rolle und den Kampf, den Sie führen, ja auch nicht ausgesucht. Sie wurden Ihnen aufgezwungen, und Sie machen nun das Beste daraus.
Zum Glück waren sie nicht ganz allein, es gab Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Auch sie verdienen Dank und großen Respekt. Lassen Sie sich nicht auseinanderbringen dadurch, dass die Öffentlichkeit Einzelne heraushebt!
Jahrelang haben Sie, Andreas Huckele, Ihren Kampf unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers geführt. Es war, auch weil Sie als Lehrer arbeiten, ein Schutz, den Sie und Ihre Familie gut gebrauchen konnten.
Ich habe mich so daran gewöhnt und das Pseudonym sogar in unserer nichtöffentlichen Korrespondenz stets benutzt, dass es mir nun fast ein bisschen schwerfällt, Sie als Andreas Huckele anzusprechen. Aber ich freue mich darüber, dass das nun möglich ist.
Und noch mehr freue ich mich darüber, dass Sie nicht mehr laut schreien müssen, wenn Sie nun zu uns sprechen. Wir werden Ihnen aufmerksam zuhören.
© Tanjev Schultz 2012, Redakteur der Süddeutschen Zeitung
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger
Dankesrede von Jürgen Dehmers (Andreas Huckele)
Die Mailbox blinkte, als ich vor einigen Wochen nach Hause kam, an der Stimme meines Lektors Uwe Naumann erkannte ich sofort: Es handelt sich um eine gute Nachricht: "Sie bekommen den Geschwister-Scholl-Preis verliehen." Das tolle an einer Mailbox ist, die Nachricht kann so oft abgehört werden, bis man die Mitteilung verstanden hat.
Ich hätte niemals im Traum daran gedacht, dass es im Zusammenhang mit der Odenwaldschule einmal ein Ereignis geben könnte, das bei mir das Gefühl ungetrübter Freude auslösen würde. Jetzt war es soweit!
Mehr…
Ich danke den Mitgliedern der Jury und den Stiftern für diesen Preis und für die Erfahrung, dass nicht nur der Horror größer ist als meine Vorstellungskraft. "Das müssen mutige Leute sein", habe ich gedacht, nachdem sich die wiederholt gehörten Worte einen Weg zu dem Teil meines Gehirns gebahnt hatten, in dem das Verstehen wohnt.
Mutig, weil das Thema sexualisierte Gewalt bisher in unserer Gesellschaft nicht den Platz hat, der angemessen wäre, bedenkt man, dass etwa jeder fünfte Mensch in Deutschland davon in irgendeiner Form betroffen ist. Betroffene sexualisierter Gewalt erfahren Widerstände und Hohn allerorten, der Staat schützt die Täter mit Verjährungsfristen, die unzureichend sind. Sobald jemand das 28. Lebensjahr erreicht hat, kann er oder sie in der Regel weder gegen den Täter oder die Täterin juristisch vorgehen, oder, was für viele ebenso schrecklich ist, noch nicht einmal laut sagen, was geschehen war, welche schrecklichen Ereignisse sie erfahren haben, was sich in der Black Box des Missbrauchs befindet, weil die Täter mit ihren Anwälten per einstweiliger Verfügung das Opfer sehr schnell zum Schweigen bringen können. Durch die Verjährungsfristen kann kein klärendes Gerichtsverfahren mehr stattfinden, ohne Gerichtsverfahren kein Urteil gefällt werden und ohne Urteil darf niemand beschuldigt werden, Kinder missbraucht zu haben. Ehrverletzende Äußerung heißt das bei den Juristen. Die Ehre des Täters, wohlgemerkt. Das Opfer wird zum zweiten Mal zum Opfer. Die Logik der Täter, die sich daraus ableitet, lautet: sie müssen ein Kind nur so schwer beschädigen, dass es garantiert nicht vor seinem 28. Geburtstag über das Verbrechen spricht. Das klingt zynisch? Das ist es auch!
Die Entscheidung der Jury finde ich aber auch mutig, weil es in dem Buch, das ich geschrieben habe, um eine Schule geht, die einmal zu den besten des Landes gehört haben soll und auf deren 75-jährigem Jubiläum der Bundespräsident Seite an Seite mit den Kriminellen über das Schulgelände flanierte. Es geht um eine Schule, die von einem pädokriminellen Schulleiter geführt wurde und vor den sich einer der führenden Pädagogen und Intellektuellen Deutschlands als sein Freund schützend stellte und die Hypothese vertrat, dass ja einer der Schüler mal Herrn Becker verführt hatte. Der sagte tatsächlich verführt. Fragt man die 10-jährigen Vergewaltigungsopfer des Schulleiters, klingt das ganz anders. Es geht um eine Schule, deren Versagen in einem Artikel der Frankfurter Rundschau im Jahr 1999 präzise beschrieben wurde und die das tat, was sie eigentlich schon immer tat, wenn es um misshandelte Kinder ging - nichts. Einige Jahre später zeichnete ein anderer Bundespräsident die Schule als einen "Ort der Ideen" aus. Ich hatte nie die Gelegenheit ihn zu fragen, wie er das denn meine.
Die über einhundert missbrauchten Kinder, die von mehr als einem Dutzend Täter und Täterinnen misshandelt wurden, konnten es mir auch nicht erklären.
Ich habe ein Buch geschrieben, das Menschen demaskiert, die sich zur Elite unseres Landes zählen und die auf die Ereignisse in der Odenwaldschule angesprochen sagen: "Ich habe nichts gewusst". "Ich habe nichts gewusst" ist zu wenig in einem Land mit unserer Geschichte, ausgesprochen von Leuten, die einmal angetreten waren, um das bessere Deutschland zu verwirklichen. "Ich habe nichts wissen wollen", "ich war feige", vielleicht sogar "ich war dumm" wäre da schon glaubwürdiger.
In der Bundesrepublik Deutschland ist es Menschen und Menschengruppen immer wieder gelungen, sich für ihre Interessen einzusetzen und Benachteiligungen und Diskriminierungen abzubauen, wenngleich der gegenwärtige Zustand der Republik noch viel Anlass zur Nachbesserung bietet.
Was ist das aber für ein Staat, der es zwar zulässt, dass Menschen für ihre Rechte streiten, sich aber nicht für diejenigen einsetzt, die in der Mehrzahl nicht streiten können, weil sie Kinder sind, weil sie Kinder waren, die nun schwer beschädigte Erwachsene sind?
Ist das ein Staat, der das Faustrecht durch das Wortrecht ersetzt hat? Ist das Zivilisation? Ist das ein Rechtsstaat? Oder ist das nur Sozialdarwinismus auf versetztem Niveau?
Zur Odenwaldschule habe ich nicht mehr viel zu sagen, außer: Sperrt den Laden endlich zu!
Wer nun denkt, der Dehmers, oder nun, der Huckele, der lebt in der Vergangenheit, den möchte ich wissen lassen: Ich habe in diesem Jahr mit gegenwärtigen Lehrkräften und mit gegenwärtigen Schülerinnen und Schülern gesprochen und ich war vor Ort und habe dem Alltag in Ober-Hambach zugeschaut. Im Großen und Ganzen ist dort alles beim Alten, der Geschäftsführer Meto Salijevic zum Beispiel, der Ende der neunziger Jahre, als die Frankfurter Rundschau die Verbrechen an der Odenwaldschule publik machte, bereits im Amt war, ist es heute immer noch. Bekanntlich stinkt ja der Fisch vom Kopf her. Die Odenwaldschule füllt in einem so irrsinnigen Tempo den alten Wein in neue Schläuche, dass ich mir die vielen Etiketten kaum noch merken kann, beim häufigen Wechsel des Personals des Trägervereins will man die ständig neuen Namen schon gar nicht mehr hören.
Blicke ich zurück auf diesen 15-jährigen Prozess der Aufklärung, bei dem immer mehr Menschen mitgewirkt haben, immer mehr Menschen ihre Puzzle-Teilchen zum großen Bild beigesteuert haben, könnte ich jetzt Name um Name nennen. Es sind viele. Blicke ich zurück auf den Anfang, als noch niemand ahnte, dass der Versuch, diese Verbrechen an der Menschlichkeit aufzuklären, irgendwann einmal erfolgreich sein würde, sind es lediglich zwei Menschen, die entschlossen und unbeirrbar mit mir gemeinsam die Betonmauer des Wahnsinns der Täter und ihrer Helfer durchbrochen haben. Ich danke meinen Freunden Thorsten Wiest und Kathrin Heres.
Sexualisierte Gewalt ist zum massenmedial kommunizierten Thema geworden und springt uns mit plakativen Wortklecksen ins Auge, denen ich etwas hinzufügen möchte.
"Brecht euer Schweigen", wurde uns zugerufen, und damit haben die Betroffenen sexualisierter Gewalt wieder die Verantwortung für die Situation, in der sie sich befinden. Würden sie sich äußern, wäre alles anders, suggeriert dieses Statement. "Schafft einen Rahmen, in dem es möglich ist zu sprechen", entgegne ich. Sobald die Diskriminierung der Betroffenen beendet ist, sobald die Verjährungsfristen abgeschafft sind, werden mehr von uns sprechen. Ohne Zweifel.
Wir müssen eine "Kultur des Hinschauens" entwickeln, höre und lese ich seit einiger Zeit. Spreche ich mich mit Menschen zum Thema, frage ich sie: "Und, wo schauen Sie nun hin?" Statt einer Antwort ernte ich fragende Blicke. Solange die Kriterien, an denen ich misshandelte Kinder erkennen kann, nicht Allgemeinwissen sind, solange ich Strukturen in Einrichtungen, in denen sich Kinder aufhalten, nicht beurteilen kann, solange ist "Hinschauen" zwar gut gemeint, aber nicht wirkungsvoll. Ich muss schon wissen, wohin ich schauen soll. Im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal der britischen BBC hörte ich eine Metapher, die ich schon so oft gehört habe. Es handelt sich bei den Vorfällen in Großbritannien um die "Spitze des Eisbergs". Wenn ich mir die verschiedenen Spitzen der Eisberge ins Gedächtnis rufe, die mir in den letzten 15 Jahren begegnet sind, komme ich mir vor wie der Kapitän eines sehr kleinen Schiffes, der sich durch die Eisbergspitzen navigiert, und frage mich: Wäre es nicht einmal interessant, den ganzen Eisberg zu sehen?
In welcher Welt wollen wir leben? Wollen wir es weiter hinnehmen, dass die Rechtslage und die Strukturen in unseren pädagogischen Einrichtungen die Täter schützen und nicht die Kinder? Oder wollen wir etwas anderes? Und was sind wir bereit dafür zu tun?
Ich werde immer wieder gefragt, woher ich den Mut nehme, die Entschlossenheit und die Kraft, das zu tun, was ich tue. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und immer wieder leicht veränderte Antworten gegeben. In diesen Tagen verdichten sich die Fragen und es verdichtet sich auch meine Antwort, die sich nun endlich stimmig anfühlt. Sie lautet: Ich weiß es nicht! Was ich weiß ist, dass es mich mehr Kraft gekostet hätte, nichts zu tun, nicht den ersten Brief zu schreiben, indem wir lediglich die nächste Schülergeneration vor einem der Haupttäter schützen wollten und dachten, die Odenwaldschule freut sich über unseren Hinweis.
Die Geschwister Scholl haben durch ihren Mut ihr Leben verloren, ich habe durch das, was ich getan habe, mein Leben gewonnen.
© Andreas Huckele 2012
Es gilt das gesprochene Wort.
…Weniger