Otto Dov Kulka wurde 1933 in der Tschechoslowakei geboren. Der emeritierte Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem hat sich zeitlebens mit dem Völkermord an den Juden beschäftigt.
Am 29. Januar 2021 ist Otto Dov Kulka verstorben.
Preisträger 2013
Otto Dov Kulka
Landschaften der Metropole des Todes
Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft
DVA
München 2013
ISBN 978-3-421-04593-5
Autor
Begründung der Jury
Otto Dov Kulka wurde 1933 in der Tschechoslowakei geboren, er lernte gleichzeitig die deutsche und die tschechische Sprache, seit 1949 lebt er in Israel, inzwischen ist er emeritierter Professor für die Geschichte der Juden an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Er hat über Jahrzehnte die Verbrechen der Nationalsozialisten erforscht und bemerkenswerte Studien dazu vorgelegt. Dass er als Kind nach Auschwitz deportiert worden war, machte er nie zum Thema seiner Arbeit.
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Nun, im Alter von achtzig Jahren, hat Kulka das erschütternde Buch "Landschaften der Metropole des Todes" veröffentlicht, in dem er seine Erinnerungen an Auschwitz nachgeht, zugleich aber klarstellt, dass eine zusammenhängende Rückschau auf seine Erfahrungen im Konzentrationslager für ihn nicht möglich ist. Kulka betrachtet wie von außen seine Kindheitstage in Auschwitz, ruft Szenen ab, fragt nach deren Bedeutung, legt sich aber nicht fest auf eine Deutung, sondern umkreist, hinterfragt seine eigenen Bilder und Analysen.
Mit dieser eindrucksvollen Erzählweise macht Kulka sichtbar, dass es für die monströsen Verbrechen von Auschwitz nicht die eine, fassbare Erklärung gibt, sondern dass es immer bei der Frage nach dem Warum bleiben wird. Die Frage nach dem Warum aber ist nötig, Erkenntnis ist möglich, auch dies macht Kulka deutlich, indem er seine Leser auf seine Suche nach Bildern und Deutungen mitnimmt und ihnen die Mechanismen von Gewalt und Ausgeliefertsein vor Augen führt.
"Landschaften der Metropole des Todes" ist somit kein klassisches Erinnerungsbuch, sondern eine Reflexion über die Chancen und Grenzen des Erfassens und Verstehens und eine schmerzliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Gedächtnis. In einer Zeit, in der sich die Frage nach der Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Ermordung der Juden Europas neu stellt, ehrt die Jury des Geschwister-Scholl-Preises mit Otto Dov Kulka einen herausragenden Forscher und einen Schriftsteller, der mit seinen "Landschaften der Metropole des Todes" zu einem mutigen Selbst-Erforscher und einem Erkunder der Abgründe des Menschlichen geworden ist.
Kulkas Buch wirkt beim Leser nach und schafft es mit seinen Erinnerungsbildern, die Wahrnehmung der Vergangenheit zu verändern und somit neue Impulse für die Gegenwart zu geben. Sein Buch ist ein ebenso unkonventionelles wie ergreifendes Zeugnis, das es niemandem leicht macht und dem viele Leser zu wünschen sind.
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Verleihung
Der 34. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 18. November 2013 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an Otto Dov Kulka für sein Buch "Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft" verliehen. Oberbürgermeister Christian Ude und Dr. Jörg Platiel, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Die Laudatio hielt Dr. Susanne Heim (Institut für Zeitgeschichte).
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Kulka formulierte in seiner Dankesrede in der Großen Aula der Münchner Ludwig- Maximilians-Universität: „Jahrzehntelang glaubte ich, dass es ausschließlich der wissenschaftliche Weg sein könne, auf dem ich diese Vergangenheit verstehen will und den ich auch weiterhin in meiner Arbeit verfolge. Sie könnten fragen: Wo war Auschwitz zu jener Zeit? Es war anwesend. Aber nur in meinen Tagebüchern und Träumen.“
Mit dem ausgezeichneten Buch bricht der 1933 geborene Kulka mit der strikten Trennung von wissenschaftlicher Arbeit und persönlichen Erinnerungen an seine Kindheit in Auschwitz.
In ihrer Laudatio auf den Preisträger hob Dr. Susanne Heim vom Institut für Zeitgeschichte deshalb auch die Sprache des Buches hervor: „Die metaphernreiche Sprache überlässt vieles der Vorstellungskraft des Lesers, statt es in grauenhafter Konkretion zu benennen. Vielleicht ist diese Sprache auch der Schwierigkeit der eigenen Wiederannäherung an den Ort geschuldet. Denn die schrittweise Erkundung der „Landschaften der Metropole des Todes“ führt zu der Erkenntnis, sie nie wirklich hinter sich gelassen zu haben.“
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Ansprache von Dr. Jörg Platiel
Sehr geehrter Vizepräsident Prof. Wirsing,
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Ude,
Sehr geehrte Frau Dr. Heim,
Lieber Herr Kulka,
Sehr geehrte Damen und Herren,
so absurd das zu diesem Anlass auch klingen mag, Otto Dov Kulkas Erinnerungs-buch zu den Todeslandschaften von Auschwitz ist ein Glücksfall.
In der schier unüberblickbaren Literatur zur Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist dieses Buch eine singuläre Erscheinung.
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Zeit seines Berufslebens hat sich Kulka als Historiker der wissenschaftlichen Er-forschung der Geschichte des Jüdischen Volkes gewidmet. Literatur über die „Nürnberger Rassengesetze“ beispielsweise, zum „Deutschen Judentum unter dem Nationalsozialismus“, ebenso wie zahlreiche weitere Veröffentlichungen zur modernen Jüdischen Geschichte.
Aber über eines hat Kulka nie gesprochen: über seine eigene Geschichte; über seine Leidensgeschichte im Nationalsozialismus.
Fast 70 Jahre nachdem er – ja man muss fast sagen – auf „wundersame Weise“ der nationalsozialistischen Todesmaschinerie entkommen ist, veröffentlicht Kulka ein Buch, das auf eine ganz andere Weise Zeugnis ablegt von den Gräueltaten der Nationalsozialisten.
Das Terrain, das Kulka mit seinen Aufzeichnungen hier betritt, ist seine ganz persönliche und subjektive Welt. Eine Welt, die sich konsequent jeglichem wissenschaftlichen Zugriff entzieht. Kulka hat seit Jahrzehnten Tagebuch geführt, Träume, die oft Alpträume waren, aufgezeichnet und Tonbandprotokolle verfasst. Er hat dabei Bilder seiner Kindheit in Auschwitz bewahrt, die sich dem damals 11-Jährigen unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt haben, damals als Dov Kulka zusammen mit seiner Mutter vom Ghetto Theresienstadt in das sogenannte „Familienlager“ von Auschwitz deportiert worden war. - Das „Familienlager“ von Auschwitz war eine Propagandalüge der Nazis, die damit beweisen wollten, dass die Berichte über die Vernichtung der Juden im Osten eine Unterstellung seien. -
Es sind Bilder aus dem Blickwinkel eines Kindes, an die sich Kulka erinnert. Bilder, die unversöhnbare Gegensätze scheinbar mühelos in sich vereinen. Bilder von kindlicher Unbeschwertheit wie die des sommerlich blauen Himmels über Auschwitz mit kleinen, fernen silbernen Flugzeugen als eine Art Gruß aus uner-reichbaren Welten. Ebenso wie Bilder von Stacheldrahtzäunen, dunklen Verbrennungsöfen und schwarzen Menschen-Kolonnen, die von den Krematorien des Konzentrationslagers „verschluckt“ werden. Es sind Erinnerungen an einen Alltag, in dem es in der trügerischen Normalität des Familienlagers Unterricht in griechischer Geschichte gab und sogar Musikstunden abgehalten wurden; während nur einige Steinwürfe entfernt die Krematorien lautlos und stetig brannten, meterhohe Flammen aus den roten Backsteinschornsteinen emporschossen und der dunkle Rauch sich in der Abenddämmerung auflöste.
Es ist kein chronologischer Erzählbericht, den Kulka hier verfasst hat. Es sind eher monologische Reflexionen, ein Herantasten an das Erlebte und ein Umkrei¬sen der Erinnerung. Diese Traumbilder, Erinnerungssplitter und Assoziationen haben sich für Dov Kulka zu einer „privaten Mythologie“ verdichtet. Man muss sich das als eine Art Erinnerungskokon vorstellen, der Aufbewahrungsort und Bewältigungsrefugium in einem wird. Ein Refugium, das - so erstaunlich das klingen mag - , für ihn ein „Zufluchtsort“ geworden ist, in aussichtslosen Situationen seines Lebens.
Kulkas Buch ist das späte Zeugnis eines Überlebenden an der Grenze des Ver-gessens. Wir ehren mit Dov Kulka nicht nur den Autor eines außergewöhnlichen Buches. Wir ehren mit ihm einen Zeitzeugen, der ein Wissen bewahrt hat, das ohne seine Verschriftlichung mit ihm und seiner Generation unwiederbringlich verschwunden wäre. Wir ehren mit ihm einen Zeitzeugen, der nach Jahrzehnten des Schweigens bereit ist, seine sehr persönlichen Erinnerungen der Nachwelt weiterzugeben und sein Wissen damit dem Vergessen zu entreißen.
„Man muss in der Vergangenheit blättern“, so heißt es bei dem Schriftsteller und Politiker Andrè Malraux, „wenn man die Zukunft lesen will“. Malraux verweist damit auf die Zukunftsdimension von Kulkas Veröffentlichung. Das Buch ist kein Dokument der Vergangenheit, sondern ein Manifest der Erinnerung für die Zukunft. Und das gilt vor allem für die Generation der Jüngeren, welche die Verbrechen der Nazis , bestenfalls aus dem Geschichtsunterricht kennen.
Es gibt in Nord-Rhein-Westfalen die Stiftung „Erinnern ermöglichen“, die sich zum Ziel gesetzt hat, vor allem Schülerinnen und Schülern Studienaufenthalte in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zu ermöglichen. „Wer ein menschenwürdiges Morgen will “, heißt es in einer Veröffentlichung der Stiftung, „muss um das Unwürdige im Gestern wissen. Wer möchte, dass Auschwitz nie wieder sei, der muss sich mit diesem Ort auseinandersetzen; vor Ort.“
Wir sind mit Kulkas Erinnerungen direkt „vor Ort“, unmittelbar und unvermittelt. Und wir sollten uns nicht täuschen lassen: diese Träume, Assoziationen und Erinnerungssplitter sind sehr nah und unmittelbar an dem Geschehenen. Mitunter ist das sehr viel näher als scheinbar realistische Schilderungen es je sein können.
Ein Glücksfall ist Otto Dov Kulka auch für den Preis, den er heute in Empfang nimmt. Mit dem Geschwister-Scholl-Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, das – ich zitiere aus den Statuten des Preises - von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist ... moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem ... Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“.
Mit seinen Aufzeichnungen hat Dov Kulka genau das in vorbildlicher Weise getan: Er hat durch seine ganz persönliche, fast intime Herangehensweise an die schmerzhafte Erinnerung „geistige Unabhängigkeit“ bewiesen und gibt dem Bewusstsein der Gegenwart damit einen entscheidenden Impuls.
Die Geschichte der Vernichtung der Juden in Europa ist ein Trauma, das noch lange nicht bewältigt ist. Wer das vergisst, der wird noch lange darunter leiden. Gerade deshalb ist das Buch „Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“ ein wichtiger Beitrag der Vergegenwärtigung und der Bewältigung.
Ein Glücksfall ist aber neben seinem Werk auch, dass Otto Dov Kulka heute hier in München ist. Es ist angereist aus Jerusalem, um hier vor Ort den Preis in Empfang zu nehmen. Er ist im Übrigen nicht das erste Mal in Deutschland.
Er hat auf Lesereisen Schulen besucht und sich dabei den Fragen der Schüler gestellt. Das ist etwas ganz Anderes als der übliche Geschichtsunterricht. Erzählte Geschichte von jemandem, der selbst Teil dieser Geschichte ist. Damit erhält das Erinnern, die Erinnerungsarbeit Kulkas noch eine andere Dimension: Menschen im Jahr 2013 die Möglichkeit zu geben, die Vergangenheit als Gegenwart zu erleben, ihnen noch einmal die Chance zu geben, aus dem Erinnern eine andere Zukunft zu gestalten, das ist wie wenn ein Tor aufgestoßen wird für eine bessere Zukunft.
Für das Alles - lieber Otto Dov Kulka, gebührt Ihnen nicht nur unser größter Dank, dafür gebührt Ihnen unser größter Respekt.
© Dr. Jörg Platiel 2013
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Ansprache von Christian Ude
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
der Stiftung dieses Preises, der heute zum 34. Mal verliehen wird, liegt auch das Motto zugrunde „es darf keinen Schlussstrich geben“, keinen Schlussstrich unter nationalsozialistisches Verbrechen und die kritische Auseinandersetzung mit allem, was damals in deutschem Namen geschah und von Deutschen begangen wurde, niemals einen Schlussstrich in der Auseinandersetzung mit totalitärer Ideologie und Menschenverachtung.
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Man kann das Motto „es darf keinen Schlussstrich geben“ aber auch auf die Themen beziehen. Es darf nicht so sein, dass nur Themen bis 1945 Gegenstand couragierter und kritischer Auseinandersetzung sind – und das ist im letzten Jahrzehnt bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises in erfreulicher Weise deutlich geworden. Ich möchte, da ich heute zum letzten Mal zu Ihnen in diesem Rahmen sprechen kann, auch auf diese Tradition verweisen.
Der Geschwister-Scholl-Preis will die kritische Auseinandersetzung, den aufrechten Gang, die Zivilcourage stärken, aber nicht ausschließlich bei den Themen vor 1945. Da hat es ja spektakuläre Ausnahmen gegeben, als „Die Neue Übersichtlichkeit“ von Jürgen Habermas 1985 ausgezeichnet wurde oder 1994 das Buch „Deutschland leicht entflammbar“ von Heribert Prantl, das sich damit auseinandergesetzt hat, wie Ausländerfeindlichkeit, wie Rechtsextremismus und Gewaltbereitschaft zu Beginn der 90er Jahre wieder entflammt wurden. Und tatsächlich gab es im letzten Jahrzehnt eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit Gegenwartsthemen auseinandersetzen, zum Beispiel Necla Kelek, die untersucht hat, wie Unterdrückung von Mädchen und Frauen in archaischen Gesellschaftsstrukturen aussieht und praktiziert wird, oder leider postum Anna Politkovskaja, die in ihrem russischen Tagebuch geschildert hat, was in sowjetischer und postsowjetischer Diktatur Menschen angetan wird. Am überraschendsten und verstörendsten die Ehrung von Roberto Saviano, der hier mit Polizeischutz erschien, weil er sich mit der Mafia auseinandersetzt, so dass die ihn bis zum Tag und Ort der Preisverleihung im Ausland mit Gewalt bedroht und verfolgt. Oder ein Jahr später Joachim Gauck, der hier für sein Buch „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ ausgezeichnet wurde. Und die nächsten zwei Jahre blieb man dabei, der chinesische Dissident Liao Yiwu erhielt den Preis für sein Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“, in dem er die Verfolgung und die Schikanen schildert, denen ein Dissident in einer Diktatur ausgesetzt ist, und zuletzt wohl die selbstkritischste Preisverleihung: Jürgen Dehmers, der den sexuellen Missbrauch an einer Reformschule schilderte und den seelischen Folgeschäden längere Zeit ausgeliefert war.
Ich glaube, dass der Geschwister-Scholl-Preis auch in Zukunft diesen Spannungsbogen aufrechterhalten muss: Niemals aufhören mit der Auseinandersetzung mit dem Unrecht des Dritten Reiches, aber gleichzeitig immer auch Auseinandersetzung mit dem, was in unserer Zeit geschieht, im In- und Ausland. Das gehört unauflöslich zum Apell, Zivilcourage zu zeigen und gegen den Strom zu schwimmen, dazu und das macht die besondere Bedeutung dieses Preises aus.
Meine Damen und Herren, heute wird ein Buch geehrt, das sich mit einem so noch nie dagewesenen Blick den Landschaften der Metropole des Todes nähert, den Landschaften von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern, die der Autor als Kind erlitten hat. Was er dort schildert, ist auf zweierlei Weise unfassbar, einmal wegen der Geschehnisse, wenn er etwa aus kindlicher Sicht die Situation vor der Selektionsrampe schildert oder wenn er ganz nüchtern, fast distanziert, schildert, wie Tötungsrituale oder Strafaktionen grausam durchgeführt werden vor den Mithäftlingen, die zum Zuschauen gezwungen werden. Das sind unfassbare Erlebnisse und Erfahrungen, die so unter die Haut gehen, weil sie nicht aufgelistet werden, wie in sozialwissenschaftlichen Büchern über nationalsozialistisches Unrecht, sondern weil sie seelisch widerspiegeln, was dem kindlichen Beobachter passiert ist. Und auf diese Weise bekommen wir besonders intensiv mit, was das unfassbare Unrecht, die unbegreifliche Grausamkeit in der Seele eines Betroffenen, eines Opfers, eines gerade noch Überlebenden angerichtet hat. Und gerade weil der Autor es mit nüchternen Worten, mit Reflexionen über sein Erinnerungsvermögen verbindet und nicht als Anklage schildert oder als Rekonstruktion der Ereignisse, geht es dem Leser so unter die Haut.
Ich denke, dass die Jury ein literarisch ganz bedeutsames Werk ausfindig gemacht hat und mit dem Geschwister-Scholl-Preis fördert und unterstützt. Ich denke, dass die Entscheidung für das Buch „Landschaften der Metropole des Todes“ von Otto Dov Kulka eine richtige Entscheidung ist, um uns vor Augen zu führen, in einer Zeit, in der immer mehr Zeitzeugen sterben oder nicht mehr Bericht erstatten können, was in den Seelen der Zeitzeugen angerichtet wurde.
Ein herzlicher Glückwunsch für Otto Dov Kulka zum Geschwister-Scholl-Preis 2013!
© Christian Ude 2013
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Laudatio von Dr. Susanne Heim
Sehr verehrter Herr Professor Kulka, lieber Dov!
Sehr geehrte Damen und Herren!
Wer in Jerusalem nach Professor Kulka sucht, findet ihn in der Regel in der Hebräischen Universität. Dort hat er viele Jahre die Geschichte des jüdischen Volkes, insbesondere des deutschsprachigen Judentums, erforscht und gelehrt. Noch heute hat er einen Arbeitsraum an der Uni, der bis unter die Decke vollgestopft ist mit Büchern und in dem die Manuskriptstapel langsam von den Wänden her in die Raummitte wachsen. Ein Computer mit wohlgeordneter Festplatte gewährleistet den Überblick. In diesem Raum verbringt Kulka in der Regel 10 bis 12 Stunden täglich, arbeitet mit Akribie und Ausdauer an seinen diversen Publikationsprojekten und korrespondiert mit Kollegen in aller Welt.
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Als wir uns Mitte der 1990er Jahre kennenlernten, arbeitete er u.a. an seinem Buch über die Reichsvertretung der deutschen Juden. Die darin publizierten Dokumente hat er über viele Jahre hinweg in verschiedenen Archiven gesammelt – darunter auch lange vor dem Fall der Mauer in der DDR.
Bevor ich auf seine „Landschaften der Metropole des Todes“ eingehe, ein paar Worte zum Historiker Dov Kulka: Was war und ist ihm wichtig an der Geschichte der deutschen Juden?
Die Reichsvertretung unter Vorsitz des Rabbiners Leo Baeck, fungierte 1933-1938 als Interessensvertretung der deutschen Juden. Landläufig galt sie als eine „Instanz der Ohnmacht“, um einen Ausdruck von Doron Rabinovici zu verwen¬den. Sie wurde ähnlich wie die Judenräte im besetzten Polen meist als irgendwo zwischen Hilf- und Machtlosigkeit und verordneter Kollaboration angesiedelt. Kulka hat dieses Bild gründlich revidiert. Seine Dokumente zeigen die Reichsvertretung als die einzige – trotz aller Schwierigkeiten noch funktionierende – demokratische Institution im gleichgeschalteten Deutschland. Wie andere jüdische Organisationen versuchte sie, so schreibt er im Aufsatz, der im Anhang seines hier vorzustellenden Buchs veröffentlicht ist, „den Zerfall der jüdischen Gesellschaft zu verhindern, sich aber gleichzeitig den neuen Lebensbedingungen anzupassen und einen Umgang mit ihnen zu finden, so schwer sie auch gewesen sein mögen“. Es geht ihm dabei nicht um das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen, gar eine vermeintliche Symbiose zwischen beiden, sondern um die innerjüdische Auseinandersetzung.
Sein zweites großes Thema ist die Haltung der deutschen Bevölkerung zur Verfolgung der Juden. Zusammen mit Eberhard Jäckel hat er auch dazu eine monumentale Quellenedition vorgelegt, die längst zum Grundlagenwerk avanciert ist: Eine Sammlung sogenannter Stimmungsberichte verschiedener Partei- und Staatsinstitutionen über die Reaktionen der Deutschen auf die antijüdische Politik.
Um dieses zweite Thema vor allem ging es in unseren Diskussionen, die wir bei jedem meiner Besuche in Jerusalem fortgesetzt haben, als hätten wir gerade gestern zuletzt darüber gesprochen: Wie ist das Schweigen der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung über die Judenverfolgung insbesondere nach Beginn der systematischen Deportationen zu deuten? Als innere Distanz, als Gleichgültigkeit oder doch eher als stillschweigendes Einverständnis?
Diese Gespräche waren für mich nicht nur ein anregender Gedankenaustausch, bei dem Dov Kulka stets ebenso freundlich wie hartnäckig manche meiner vielleicht zu sehr von deutschen Historikerdebatten geprägten Ansichten hinterfragt hat. Vielmehr habe ich kaum je einen Kollegen erlebt, der sein Wissen und seine angesammelten „Schätze“ so großzügig mit anderen geteilt hat wie er. Immer war für ihn die Verbreitung seiner Erkenntnisse und der sie untermauernden Dokumente wichtiger als die Gewissheit, dass sie nur in Verbindung mit seinem Namen das Licht der wissenschaftlichen Welt erblicken würden.
In all den Jahren wusste ich zwar, - von anderen - dass Dov Kulka als Kind in Auschwitz war. Aber gesprochen haben wir erst sehr viel später darüber. Er hat immer großen Wert darauf gelegt, dass er sich der nationalsozialistischen Judenverfolgung ausschließlich mit dem Instrumentarium des Historikers näherte. Seine – wie er selbst es ausdrückt – „außerwissenschaftliche“ Auseinander¬setzung mit dieser Erfahrung, blieb den meisten, die ihn kannten, verborgen. Auch im engsten Familienkreis wusste niemand von seinen Tagebuchnotizen. Nur mit einigen engen Freunden, die ähnliches durchgemacht hatten, sprach Dov Kulka über seine Erfahrungen. Von diesen Gesprächen sind - auf Umwegen und nach anfänglicher Weigerung Kulkas - Tonbandaufzeichnungen entstanden, die er zusammen mit den schriftlichen Notizen viel später zu dem Buch verarbeitet hat, für das er heute mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wird.
Anfangs wollte er die Aufzeichnungen nur abtippen lassen, um sie seinem Nachlass beizufügen, nicht aber um sie zu veröffentlichen. Erst allmählich hat er diese Haltung revidiert. Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt die Krebsdiagnose, die ihm die Ärzte Ende der 1990er-Jahre stellten. Sie nahmen an, dass er noch zwei oder drei Jahre leben werde.
Nicht Erinnerungen im klassischen Sinne hat Kulka geschrieben. Das hat auch die Jury in ihrer Begründung hervorgehoben. Es sind eher Aufzeichnungen von einer Spurensuche – vor Ort in Auschwitz und Stutthof – und im übertragenen Sinne: Spuren in seinem Gedächtnis.
Dov Kulka ist 1933 in der Tschechoslowakei geboren. Als Kind jüdischer Eltern wurde er nach der deutschen Zerschlagung und Besetzung des Landes zunächst im Ghetto Theresienstadt inhaftiert und von dort im September 1943 zusammen mit seiner Mutter nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft war er zehn Jahre alt. Ein Kind dieses Alters hatte in der Regel keine Chance, die Selektionen an der Rampe zu überstehen. Doch die Juden, die im September 1943 aus Theresienstadt eintrafen, so schreibt Kulka „durchliefen keinen Selektionsprozess, dem die Liquidierung der [sogenannten] ‚Arbeitsuntauglichen’ gefolgt wäre, sondern wurden in einem separaten Lager in Auschwitz-Birkenau untergebracht, in dem es – abermals im Unterschied zum üblichen Ablauf in anderen Auschwitz-Lagern – Männern, Frauen und Kindern erlaubt war, in einem einzigen Lager zusammenzubleiben. Sie unterschieden sich vom Rest der Häftlinge durch ihre Kleidung und den Umstand, dass man ihnen nicht die Köpfe schor.“
Das Familienlager sollte der Welt vortäuschen, dass die Juden in Auschwitz nicht ermordet würden. Anfangs glaubten auch die schon seit längerem im Lager befindlichen Häftlinge, die die Wahrheit kannten, dass die Deportierten aus Theresienstadt aus irgendeinem Grund eine Ausnahme bildeten. Doch dann wurden alle, die im September 1943 ins Familienlager gekommen waren, ohne Selektion am 7. März 1944, ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet. Kulka: „Einige Tage vor ihrer Hinrichtung wurde ihnen befohlen, Postkarten ins Ghetto Theresienstadt und an Bekannte in Deutschland, in den besetzten Gebieten und in neutralen Ländern zu schreiben. Diese Postkarten mussten auf den 25. März vordatiert werden, also auf ein Datum, das mehr als zwei Wochen nach ihrer Ermordung lag.“
Dov Kulka hat als einer der wenigen diese Vernichtungsaktion vom 7. März 1944 gemeinsam mit seiner Mutter überlebt, weil sie sich im Krankenbau befanden. „Jene Nacht im März“, so schreibt er in den „Landschaften der Metropole des Todes“, „in der all meine Kindheitsfreunde – und fast meine ganze Familie, wie ich am nächsten Morgen feststellte – ausgelöscht wurden, kommt in Bildern zurück, die ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, die ich aber ständig wieder-erfahre: Wie sie die Gaskammern betreten und ich mit ihnen, weil ich zu ihnen gehöre.“
Das ist das große Thema des Buches: Das Entkommen-sein, obwohl dies eigentlich nicht vorgesehen war. Mehrfach entgeht der Zehn/-Elfjährige dem Tod, den er vom Tag der Ankunft im Lager an als absolute Gewissheit vor Augen hat. Sein Vater Erich Kulka war bereits seit 1942 in Auschwitz und ihm gelang es, gleich nachdem der Transport aus Theresienstadt angekommen war, Kontakt zu Frau und Sohn aufzunehmen. Er erzählte ihnen ohne Umschweife, was sie – und alle anderen Häftlinge – erwartete: das „unausweichliche Gesetz des großen Todes“. Dov Kulka lebte mit diesem „Gesetz“ anderthalb Kindheitsjahre lang. In einem Alter, in dem Kinder nach Orientierung und Normen suchen, sich die Welt erklären wollen, steht diese Welt für ihn völlig im Zeichen dieses „unabänderlichen Gesetzes“.
Kulka beschreibt das Grauen des Lagers nur schemenhaft. Anders als den Überlebenden der unmittelbaren Nachkriegszeit geht es ihm in diesem Buch nicht darum, Zeugnis über die Verbrechen abzulegen. Das hat er früher getan. Er ist mehrfach als Zeuge in Kriegsverbrecherprozessen aufgetreten, darunter auch im Frankfurter Auschwitzprozess. Seine Schilderungen einer Kindheit in Auschwitz sind bisweilen fast lakonisch formuliert. Das Grauen tritt erst dadurch hervor, dass der Leser um die Verbrechen und die Brutalität des Lagers weiß. In der Spannung zwischen diesem Wissen und den Schilderungen des blauen Sommerhimmels über dem Lager als Inbegriff der Schönheit, wird die „Urerfahrung des lauernden Grauens“ spürbar.
So auch, wenn Kulka von den „ungeplanten Vergnügungen“ berichtet: „Als Kinder wollten wir unbedingt wissen, ob der Stacheldraht des elektrischen Zauns wirklich unter Strom stand, eine Frage, die uns keine Ruhe ließ. Wir schlichen uns an ihn heran, tagsüber, nicht nachts, und wetteten, wer es wagen würde, den Draht zu berühren, und am Leben bliebe. […] Das Besiegen der Angst durch den Mut und die bewusste Selbstgefährdung der Kinder, um dieses untergeordnete System des Todes – einen Zaun, der nicht beziehungsweise nur in bestimmten Fällen dazu diente zu töten – zu prüfen, war für sich genommen schon eine große Sache.“ Weniger amüsant, heißt es dann im nächsten Absatz, war der Leichenhaufen, der auf seinem Weg zum Kinderblock lag und an dem er immer möglichst schnell vorüberging. Es ist eine Wegmarke in seiner „Landschaft“ wie für andere Kinder in anderen Zeiten irgendeine unheimliche Erscheinung, ein altes Haus oder ein dunkles Waldstück, das sie auf dem Schulweg passieren.
Mehrfach entkommt der Junge Dov Kulka dem Tod, der schon sicher scheint: er wird für die Ermordung im Gas selektiert und dann doch zu irgendeiner Arbeit abkommandiert. Er wird zusammen mit anderen Jugendlichen in Richtung auf die Krematorien geführt und entgeht doch der als sicher angenommenen „Auslöschung“. Aber das „unabänderliche Gesetz des großen Todes“ ist dadurch nicht aufgehoben. Die Ausnahme bestätigt die Regel: es gibt kein Entkommen.
Und dann ist da der „kleine Tod“, der individuelle: Nach der Auflösung des Familienlagers und der Ermordung der Insassen lebt der Junge zusammen mit seinem Vater im Männerlager und hat die Aufgabe, jeden Tag seinem Onkel einen kleinen Metallbehälter mit Suppe durch den Stacheldraht zu reichen. An jenem Oktobertag 1944 jedoch, als die Häftlinge des Sonderkommandos in Auschwitz rebellierten und zu fliehen versuchten, wurde der Stacheldraht unter Strom gesetzt.
„Ich fühlte die Schläge durch meinen ganzen Körper rasen, ich klebte am Zaun fest. Ich war erstarrt, aber fühlte mich einige Zentimeter über dem Boden schweben. […] ich hing im elektrischen Zaun. Gefangen. In diesem Moment war mir klar, dass ich tot war, denn es war bekannt, dass jeder, der sich im Zaun verfängt, auf der Stelle stirbt. […] Der einzige Gedanke, der die ganze Zeit in meinem Kopf hämmert, war: Ich bin tot, und die Welt, wie ich sie sehe, hat sich nicht verändert! So also sieht die Welt nach dem Tod aus?“
Die Frage, wie es ist, tot zu sein, die ihn - wie die meisten Kinder - seit seinem fünften oder sechsten Lebensjahr beschäftigt, dieses Rätsel ist für den Elfjährigen gelöst: „Tod ist gar nicht Tod, die Welt hat sich für mich nicht verändert, ich sehe die Welt und nehme sie wahr.“ Das heißt aber auch: Tod ist keine Erlösung! Schließlich nahm einer der Häftlinge einen Stock und stieß dem am Elektrozaun klebenden Jungen damit gegen die Brust, bis er schwer verletzt zu Boden fiel. So war er dem kleinen Tod entkommen, um in den großen Tod zurückgestoßen zu werden – nur noch ein Stückchen näher dran, denn die Wunden an seinen Händen machten ihn arbeitsunfähig. Und die Arbeitsunfähigen wurden selektiert.
Der Text schildert Auschwitz aus der Perspektive des staunenden Kindes, das Dov Kulka damals war. Seine Sprache erzeugt eine Atmosphäre der Unwirklichkeit. Darin wandelt das Kind wie im Traum durch die Metropole des Todes, ohne jede Illusion, aber doch staunend über die Welt der Erwachsenen, über die „frische Nacht mit den lebendigen Lichtern“ bei der Ankunft in Auschwitz oder über die roten Flecken auf dem blassen Schädel des Häftlings, der in einer Strafzeremonie, „einer Art Spiel“ von SS-Männern verprügelt wird „als wäre es ein Zeitvertreib“.
Und doch nimmt Kulka nicht durchgängig die Perspektive des Kindes ein. Er macht gar nicht den Versuch, eine Unmittelbarkeit vorzutäuschen. Immer wieder thematisiert er die Retrospektion, reflektiert und hinterfragt seine Erinnerung. Schon am Anfang des Buches, bei der Schilderung der ersten Rückkehr nach Auschwitz im Jahre 1978, als er glaubte, die Orte, durch die ihn ein geschwätziger Taxifahrer chauffierte, zu erkennen: „Ich erkannte sie gleichsam wie im Traum. Vielleicht habe ich sie auch gar nicht erkannt und nur gemeint, ich würde sie erkennen, aber das ist hier nicht von Belang.“
Er berichtet von den künstlerischen Auftritten, die in der Kinderbaracke einstu-diert wurden und fährt dann fort: „Noch stärker sind mir die satirischen Darbietungen in Erinnerung geblieben, an denen ich mitwirkte: Jede Gruppe sollte eine fiktive zukünftige Situation vorstellen, die in der Wirklichkeit von Auschwitz verankert war. An viele Aufführungen kann ich mich nicht im Einzelnen erinnern, aber ich erinnere mich an einen Sarkasmus, den die Kinder und die Jugendleiter sehr gut verstanden. Unsere Gruppe führte ‚Das himmlische Auschwitz – das irdische Auschwitz’ auf: Als Neuankömmlinge im Himmel entdeckten wir zu unserer Verwunderung, dass es in der oberen Welt Selektionen und Krematorien gab.“
Für die Kinder, die alles über die Industrie des Todes wissen, ist das Nicht-Entkommen so selbstverständlich, dass sie damit ironisch umgehen: Es gibt kein Jenseits, in dem das „unabänderliche Gesetz“ nicht gelten würde.
Der Text wechselt manchmal mitten im Satz zwischen Erinnerung, Reflexion der Erinnerung und der eigenen Arbeit als Geschichts-Forscher, zwischen Traum und Flashback. Ein Detail, das im Gedächtnis aufblitzt, versetzt ihn für Sekunden in die Kindheit in Auschwitz zurück: Im Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin begegnen ihm viele Jahre nach Kriegsende die gleichen langen Wasserleitungen mit eingebohrten Löchern wieder, mit denen auch die Häftlingswaschräume in Auschwitz ausgestattet waren. Eben dort probte wegen der guten Akustik der Kinderchor des Familienlagers Schillers „Ode an die Freude“.
Es gibt weder eine gewöhnliche Rahmenhandlung noch eine stringente Chronologie. Viele Episoden werden nur gestreift und nicht von Anfang bis Ende erzählt. Dadurch wird das Tastende der Erinnerung noch unterstrichen.
Dov Kulka hat überlebt; die vielen kleinen Tode und den großen Tod. Ebenso sein Vater. Die Mutter wurde aus Auschwitz nach Stutthof weiterdeportiert. Dort brachte sie einen Sohn zur Welt, der in Auschwitz gezeugt worden war. In Stutthof töteten ihn die Pflegerinnen im Krankenbau, die fürchteten, dass der schreiende Säugling, den es nicht geben durfte, Exzesse der SS-Männer provozieren würde. Zusammen mit drei anderen Frauen konnte die Mutter fliehen. Doch sie starb, versteckt auf einem Bauernhof in der Nähe des Lagers, am 25. Januar 1945 an Typhus.
Dov Kulka hat überlebt, aber ob er der Metropole des Todes entkommen ist, wage ich nicht zu sagen. Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, bis er zum ersten mal wieder an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt ist; und noch viel länger, bis er das Schweigen über diese Kindheit gebrochen hat. Die metaphernreiche Sprache überlässt vieles der Vorstellungskraft des Lesers, statt es in grauenhafter Konkre-tion zu benennen. Vielleicht ist diese Sprache auch der Schwierigkeit der eigenen Wiederannäherung an den Ort geschuldet. Denn die schrittweise Erkundung der „Landschaften der Metropole des Todes“ führt zu der Erkenntnis, sie nie wirklich hinter sich gelassen zu haben. Und schließlich nimmt Kulka sie an, statt davor zu fliehen. Sie sind zu seinem Rückzugsort geworden. Es sind die Landschaften seiner Kindheit hat er einer Journalistin der israelischen Zeitung Ha’aretz gesagt. „Ich besuche sie in meinen Träumen, sowohl wachend als auch im Schlaf. Ich finde meine Freiheit in ihnen, weil ich in dieser Landschaft allein bin. Ich schneide mich von allem anderen ab, auch in Stressphasen.“
Im Wechsel zwischen den verschiedenen Erinnerungs- und Reflexionsebenen kommt die Suche nach einer Sprache zum Ausdruck, in der sich vermitteln lässt, was Kulka selbst lange Zeit nicht mitteilen wollte. Aber es geht nicht nur um seine eigene Erfahrung in Auschwitz sondern, so schreibt er, „um Metaphern für das, was sich damals in eine Weltordnung auszubreiten schien, die den Lauf der Menschheitsgeschichte verändern würde“.
Ich möchte mit einem zweifachen Dank schließen: zum einen an die Jury, dass sie gerade dieses Buch für den diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis ausgewählt hat. Zum anderen und vor allem aber danke ich Dov Kulka dafür, dass er bei seiner persönlichen Erkundung der „Metropole des Todes“ eine Sprache gesucht und gewählt hat, die auch uns, die Nachgeborenen, an dieser Erkundung teilhaben lässt – auch wenn wir seine Landschaften nicht betreten.
© Susanne Heim 2013
Es gilt das gesprochene Wort.
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…Weniger
Dankesrede von Otto Dov Kulka
Sehr verehrter Prof. Martin Wirsing,
Sehr verehrter Herr Christian Ude,
Sehr verehrter Dr. Jörg Platiel,
Sehr verehrte Dr. Susanne Heim,
Verehrtes Publikum,
Ein Besuch in München bedeutet mir viel. Nämlich eine Rückkehr in die Jahre, in denen ich in deutschen Archiven und Bibliotheken für meine Dissertation forschte. Es waren vor allem das Münchner Institut für Zeitgeschichte, das Bayerische Hauptstaatsarchiv und selbstverständlich die Bayerische Staatsbibliothek, wo ich meine Zeit verbrachte. Aber der Preis geht an das Buch, das ich, nicht ganz zu Recht, mein „Außerwissenschaftliches“ nannte.
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Zu Beginn möchte ich aber hervorheben welche Bedeutung die humanistischen Werte für mich haben, die dem Geschwister-Scholl-Preis zu Grunde liegen. Darunter „geistige Unabhängigkeit, die Förderung moralischen und intellektuellen Muts sowie eines verantwortliches Gegenwartsbewusstsein.“
Vor allem aber möchte ich meine große Bewunderung für Sophie und Hans Scholl aussprechen, zu deren Andenken dieser Preis benannt ist. Sie sind sowohl mit meiner historischen Forschung als auch mit den Landschaften des Erinnerns verbunden. Der Aufruf der Geschwister Scholl und ihrer Gruppe war in meinen Augen nicht nur eine Auflehnung gegen das Regime und seine Vernichtungspolitik, sondern auch ein Aufruf gegen die Gleichgültigkeit und die Judenfeindschaft, welche die deutsche Gesellschaft zu jener Zeit ausmachte. Ich erlaube mir, hier aus einem ihrer Flugblätter zu zitieren:
„Nicht über die Judenfrage wollen wir in diesem Blatte schreiben, keine Verteidigungsrede verfassen, nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, die Tatsache, daß seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann.“
In ihrem Aufruf sind sie sich jedoch der radikalen Judenfeindschaft jener Gesellschaft, zu der sie hier sprechen bewusst. Ich lese weiter: „Vielleicht wird man ihnen sagen, die Juden hätten ein solches Schicksal verdient.“ Gegen diese Judenfeindschaft und die Nazi-Vernichtungspolitik scheint ihnen vielleicht nur ein indirektes Argument, in dem die Juden nicht erwähnt sind, Gehör zu finden.
Ich lese weiter aus dem Flugblatt:
„Wie stellt man sich dann zu der Tatsache, daß die gesamte polnische adelige Jugend vernichtet worden ist. […] Wozu wir dies Ihnen alles erzählen, da Sie es schon selber wissen […]? Weil hier eine Frage berührt wird, die uns alle zutiefst angeht und allen zu denken geben muss. [...] Und nicht nur Mitleid, muss das deutsche Volk empfinden, nein, noch viel mehr: Mitschuld. … Ein jeder ist schuldig, schuldig, schuldig!“
Dies ist ein erschütterndes Zeugnis der Vergeblichkeit ihres Protests und ihres Mutes, trotzdem nicht aufzugeben, auch wenn sie mit ihrem eigenen Leben dafür zahlen müssen.
Nun aber einige Worte über mich und die Entstehung des Buches, das ich, ausgehend von meinen Tagebüchern, die Landschaften der Metropole des Todes genannt habe.
Meine eigene Beschäftigung mit der Zeit, in die ich 1933 hinein geboren wurde, verlief in zwei Dimensionen: zum einen widmete ich mich der historischen Forschung, und zum anderen, wie der Untertitel des Buches sagt: „Auschwitz und den Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“. Jedoch reicht diese zweite Dimension weit über das physische Auschwitz hinaus. Ich kam zu der Erforschung der deutschen Geschichte unter dem Nationalsozialismus und des Schicksals der Juden in dieser Zeit nicht aus Auschwitz, sondern aus der Geschichte. Ich begann meine Studien an einem wesentlich entfernteren Ende, nämlich bei der Philosophie und der Frühgeschichte, und gelangte erst später zu der Entscheidung, mich der Erforschung und der Lehre der modernen jüdischen Geschichte zu widmen, die die NS-Zeit mit einschloss.
Jahrzehntelang glaubte ich, dass es ausschließlich der wissenschaftliche Weg sein könne, auf dem ich diese Vergangenheit verstehen will und den ich auch weiterhin in meiner Arbeit verfolge. Sie könnten fragen: Wo war Auschwitz zu jener Zeit? Es war anwesend. Aber nur in meinen Tagebüchern und Träumen. An einem bestimmten Punkt, etwa vor 20 Jahren, hatte ich entschieden, oder besser, ich hatte zugestimmt, eine Reihe von Interviews aufzuzeichnen, die eigentlich eher Monologe über meine autobiographischen Reflexionen über diese „Metropole des Todes“ sind. Jedoch hielt ich es für unzulässig, die Erforschung meiner eigenen Vergangenheit mit meiner historischen Forschung zu vermischen und dies galt auch für die Veröffentlichung der privaten Betrachtungen meiner Erinnerung und Vorstellungskraft.
Erst nachdem ich die letzten drei Forschungs- und Dokumentationsprojekte in den Jahren 1997 bis 2010 abgeschlossen hatte, beschloss ich, meine sozusagen außerwissenschaftlichen privaten Betrachtungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Was Sie wohl als etwas ungewöhnlich, aber charakteristisch bei der Lektüre dieses Buches wahrnehmen könnten, ist seine metaphorische Sprache mit ihren wiederkehrenden Motiven, wie etwa »das unabänderliche Gesetz des Todes«, »der Große Tod«, »die Metropole des Todes«, die in ihrer Deutung über die Erfahrung der Welt von Auschwitz hinausreicht. Diese Motive sind Metaphern für das, was sich damals in eine Weltordnung auszubreiten schien, die die Ausrichtung der Menschheitsgeschichte verändern würde, und als solche sind sie in meiner reflektierenden Erinnerung verblieben. Ich bin mir auch bewusst, dass diese Texte, obgleich im konkreten historischen Geschehen verankert, über die Sphäre der Geschichte hinausweisen.
Ich möchte hier die zwei Betrachtungsweisen in meiner sogenannten privaten Mythologie erklären: zum einen die unmittelbare, direkte Erfahrung der Welt von Auschwitz, die der Verstand des Kindes nicht in vollem Umfange erfassen konnte; und gleichzeitig die zweite Dimension, betrachtet durch das Prisma meines reflektierenden historischen Denkens, die in der Abstraktion der Realität - der letzten Phase der „Endlösung“ besteht.
„Die Metropole des Todes“ und das „unabänderliche Gesetz“ sind Metaphern für das, was sich in Auschwitz als die Quintessenz der nationalsozialistischen Ideologie realisierte, die sich zu jener Zeit in ganz Europa und noch weiter auszudehnen drohte. Dies war ein Versuch, dem Kern dieser Ideologie – dem sogenannten Erlösungsantisemitismus, seinem teleologischen Ziel der „Endlösung der Judenfrage“ und der Vernichtung des „jüdischen Geistes“ – folgend den Lauf der Menschheitsgeschichte zu verändern: Die Grundgedanken des Judentums, nämlich die Einheit der Welt und die Gleichheit der Menschen, die sich dann in der judeo-christlichen Zivilisation verbreiteten und in säkularer Form als universalistische Ideen der Demokratie, des Liberalismus und des Sozialismus manifestiert haben, waren der nationalsozialistischen Weltanschauung diametral entgegengesetzt: ihrem Glauben an die Ungleichheit der Rassen und ihrer Hierarchie sowie dem ewigen Überlebens- und Vernichtungskampf der Völker. Das Ziel der Vernichtung des sogenannten jüdischen Geistes und seiner Träger, der Juden, fand in der Metropole des Reiches des großen Todes – Auschwitz in der Zeit ihres Bestehens – seinen historischen Höhepunkt.
Dies war die Schlussfolgerung meiner Forschungen über die NS-Ideologie und Wirklichkeit, deren Anfang, wie schon erwähnt, in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre liegt. Ich war damals - kaum 15 Jahre nach dem Ende Nazi-Deutschlands - ein junger Historiker und einer der ersten israelischen Forscher, der den ungewöhnlichen Schritt wagte, her zu kommen. Ich arbeitete in vielen Archiven und Bibliotheken, in beiden Teilen des damaligen Deutschland und begann einen Dialog mit einigen jungen Historikern der ersten Generation von Nachkriegsabsolventen westdeutscher Universitäten. Dazu gehörte auf deutscher Seite: Martin Broszat, Hans Mommsen und etwas später Eberhard Jäckel. Von der israelischen Seite schlossen sich Shlomo Aronson und Saul Friedländer an und wir alle arbeiteten eng mit dem britischen Historiker Ian Kershaw zusammen. Durch unsere gemeinsame Zusammenarbeit sowie unabhängig voneinander legten wir die Grundlagen für die wissenschaftliche Erforschung der NS-Zeit und des Schicksals der Juden Europas. Allerdings blieb die deutsche Geschichtsschreibung für lange Zeit eindimensional auf die Verfolgung und die Vernichtung der Juden ausgerichtet. Wir, die Israelis, verfolgten einen mehrdimensionalen Ansatz. Neben der Erforschung der Ideologie und der Politik des Regimes erforschten wir auch die Einstellungen der deutschen Bevölkerung gegenüber der sogenannten Judenpolitik des Regimes und den Juden selbst. Darüber hinaus bezogen wir das Leben und das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinschaft und ihrer Gesamtvertretungen unter dem NS-Regime in unsere Forschung mit ein.
Im Laufe der Jahre kam es zum Austausch in dem auch deutsche Historiker, darunter Eberhard Jäckel, Hans Mommsen, Wolfgang Schieder, Ulrich Herbert und Susanne Heim, an israelischen Universitäten lehrten und in der Gedenkstätte Yad Vashem mit forschten. Die Zusammenarbeit mit Eberhard Jäckel und unseren beiden Assitententeams an den Universitäten von Jerusalem und Stuttgart brachte im Jahr 2004 die umfangreiche wissenschaftliche Quellenedition „Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945“ hervor. Als jüngstes Ergebnis dieses Dialoges verstehe ich das monumentale Werk „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutsch¬land 1933-1945“, das von Ulrich Herbert, Susanne Heim und ihrem Mitarbeiter-Team herausgegeben wird. In diesem für 16 Bände vorgesehenen Dokumentationsprojekt werden alle oben erwähnten Dimensionen berücksichtigt und auf die Erforschung der Geschichte aller europäischen Länder angewendet. Ich darf hier bemerken, dass Susanne Heim sich in unserer langjährigen Korrespondenz stets auf unsere Gespräche während des gemeinsamen Forschungssemesters in Yad Vashem bezieht, in denen wir über den sich erweiternden Horizont der Geschichtsschreibung nachdachten. Die Anfänge, die bis in die 60er Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts zurückreichen, bestimmen offensichtlich auch unseren gemeinsamen Weg in der Gegenwart mit.
Zum Abschluss kehre ich zu dem Buch zurück, dass ich öfters mein „Außerwissenschaftliches“ nenne. Die in ihm enthaltenen Texte waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht. Vielmehr schrieb ich hier Betrachtungen nieder die zu meinem eigenen Selbstverständnis dienen sollten.
Das Buch wurde seit seiner Ersterscheinung im Januar dieses Jahres in zahlreiche europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt. Seine Auszeichnung durch den Geschwister-Scholl-Preis lässt der deutschen Ausgabe, unter allen anderen, eine besondere Bedeutung zukommen. Ich schätze diese Würdigung sehr. Mein aufrichtiger Dank geht an Sie alle!
© Otto Dov Kulka 2013
Es gilt das gesprochene Wort.
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