Glenn Greenwald, (geb. 1967 in New York City) ist Jurist und Verfassungsrechtler. Er war Kolumnist beim Guardian und ist einer der einflussreichsten politischen Kommentatoren in den USA. 2014 gründete Greenwald sein eigenes Internetmagazin The Intercept. Er lebt in Brasilien.
Preisträger 2014
Glenn Greenwald
Die globale Überwachung
Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen
Droemer Verlag
München 2014
ISBN 978-3-426-27635-8
Autor
Begründung der Jury
Der Geschwister-Scholl-Preis wird Glenn Greenwald für sein Buch „Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“ verliehen.
Glenn Greenwald hat einer breiten internationalen Öffentlichkeit vor Augen geführt, in welchem Ausmaß der amerikanische Geheimdienst NSA weltweit die elektronische Kommunikation überwacht, erfasst und speichert. Greenwald hat erheblichen Mut bewiesen, als er sich entschloss, mit Edward Snowden, dem abtrünnigen NSA-Mitarbeiter und bedeutendsten „Whistleblower“ aller Zeiten, zusammenzuarbeiten, um mittels zahlreicher Enthüllungen zu zeigen, dass die totale Überwachung nicht nur eine technische Möglichkeit, sondern eine reale politische Gefahr geworden ist.
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Als engagierter Jurist und leidenschaftlicher Journalist warnt Glenn Greenwald vor einem mächtigen Überwachungsapparat, der unsere Privatsphäre zu zerstören und die Grundlagen der Demokratie zu untergraben droht. Er verkörpert damit das überzeugende zeitgenössische Beispiel eines couragierten Bürgers, der sich gemeinsam mit anderen und ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile für das Recht auf ungehinderte Berichterstattung, freie Meinungsäußerung, individuelle Freiheit und die notwendige Kontrolle staatlicher Macht einsetzt. Glenn Greenwald hat mit seinen Artikeln und nun auch mit seinem Buch „Die globale Überwachung" exemplarisch demonstriert, was eine freie, unabhängige Publizistik leisten kann und was sie leisten sollte.
Erst durch die aufklärerische Arbeit von Glenn Greenwald und anderen, durch die Auswertung zahlloser von Edward Snowden zur Verfügung gestellter Dokumente und das Aufzeigen geheimdienstlicher Tätigkeiten, die im Namen der Sicherheit grundlegende Freiheitsrechte beschädigen, haben wir genauere Einsicht in die Gefährdungen unserer Zeit gewonnen. Und damit die Chance erhalten, Fehlentwicklungen zu korrigieren und Machtmissbrauch zu verhindern.
Damit zeugt das Wirken Glenn Greenwald von geistiger Unabhängigkeit. Es ist geeignet, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und gibt dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse.
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Ansprache von Michael Lemling
Sehr geehrter Herr Präsident Professor Huber,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter,
sehr geehrter Herr Prantl,
dear Mr. Greenwald,
verehrte Angehörige und Hinterbliebene der Weißen Rose,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
der von der Landeshauptstadt München und dem Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels verliehene Geschwister-Scholl-Preis ist ein Friedenspreis, der an das Vermächtnis von Hans und Sophie Scholl und die Mitglieder der Widerstandsgruppe Weiße Rose erinnern soll. Mitten im Terror des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, inmitten der Barbarei des von der NS-Gewaltherrschaft entfesselten Vernichtungskrieges haben sie mit ihren Flugblattaktionen die Verbrechen ihres Staates und seiner Organisationen benannt und zum Widerstand aufgerufen
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Mit ihrem Eintreten für die Menschenwürde, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie haben sie moralische und politische Wertmaßstäbe verteidigt, die vielen - vielleicht den meisten – Deutschen abhandengekommen waren. Diesen Mut haben sie 1943 mit ihrem Leben bezahlt. Die Unabhängigkeit ihres Denkens, ihre intellektuelle und moralische Unbestechlichkeit und die Konsequenz mit der sie ihren Gewissensentscheidungen folgten bis hin zum aktiven Widerstand – das ist ihr Vermächtnis.
Der Geschwister-Scholl-Preis soll nicht nur an das leuchtende Beispiel, das uns die Weiße Rose in Zeiten des Terrors und des Krieges gegeben hat, erinnern. Es ist ein Preis, der sich in jedem Jahr erneut an uns Zeitgenossen richtet und der Richtschnur für die Gegenwart sein soll. Mitten im Frieden spürt er den offenen wie den subtilen Formen von Gewalt und Unrecht, den scheinbar nur kleinen und den großen Bedrohungen der Freiheit und der Menschenwürde nach. Auch in demokratischen Staaten. Deshalb zeichnet der Geschwister-Scholl-Preis nicht allein und nicht einmal vorrangig Persönlichkeiten aus, die in totalitären Staaten gewaltfreien Widerstand organisieren.
Die Lyrikerin Ingeborg Bachmann hat uns in ihrem 1957 veröffentlichten Gedicht Alle Tage einen Begriff davon gegeben, vor welchen Herausforderungen wir gegenwärtig und zukünftig stehen. Ihr Gedicht ist heute so aktuell wie einst und es benennt – deshalb ist es mir heute Abend wichtig – Kriterien für die Vergabe des Geschwister-Scholl-Preises:
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.
Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.
Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.
Ein Antikriegsgedicht mitten im scheinbaren Frieden benennt die Herausforderungen, vor denen wir täglich stehen. Die Zivilcourage, die heute gefordert ist, heißt in der Sprache des Militärischen Fahnenflucht, heißt Geheimnisverrat und Befehlsverweigerung.
Geheimnisverrat? Das ist in der hergebrachten militärischen Logik das Verbrechen, dessen sich der Journalist Glenn Greenwald und der Whistleblower Edward Snowden schuldig gemacht haben. Mit Ingeborg Bachmann können wir genauer hinschauen: Der „Verrat unwürdiger Geheimnisse“ ist der notwendige und auszeichnungswürdige zivile Ungehorsam unserer Zeit. In seinem Buch Die globale Überwachung gibt uns Glenn Greenwald einen erschreckenden Einblick in die Strukturen und Strategien des amerikanischen Geheimdienstes, der mit atemberaubenden und eklatanten Rechtsverstößen ein weltweites Überwachungssystem errichtet hat. Die Mitarbeiter nicht nur des amerikanischen Geheimdienstes benötigen für ihre Machenschaften keine Kriegserklärung mehr. „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt.“ Die NSA hat ein gigantisches repressives Überwachungssystem errichtet, das nicht einmal ansatzweise das bietet, was es angeblich gewährleisten soll: Sicherheit. In ihrem Namen wurden und werden Freiheitsrechte entsorgt und die Privatsphäre der Bürger abgeschafft. Wer aber mit den Mitteln staatlicher Massenüberwachung alles und jeden ausspäht, setzt auch im demokratischen Verfassungsstaat seine freiheitlichen Wurzeln aufs Spiel. Er wird eine solche Belastung auf Dauer nicht aushalten. Es kann keinen demokratischen Überwachungsstaat geben. Das ist eine der wesentlichen Botschaften, die uns Glenn Greenwalds Buch so beeindruckend wie erschreckend vor Augen führt.
Der Geschwister-Scholl-Preis 2014 an Greenwald ist eine Anerkennung für den Mut und die Risikobereitschaft, mit der er für die Pressefreiheit, die freie Meinungsäußerung und die Kontrolle staatlicher Macht eintritt. Seine Auszeichnung heute Abend ist zugleich eine drängende Frage an uns alle: Warum sind wir mit so großer Naivität und Willfährigkeit und Widerstandslosigkeit bis heute bereit, unsere Daten und Gedanken staatlichen Mächten und internationalen Konzernen auszuliefern, die uns zu Objekten ihrer Interessen degradieren? Warum kommunizieren wir weiterhin über Telefongesellschaften und soziale Netzwerke, deren Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten bewiesen ist? Warum nutzen wir immer noch Suchmaschinen im weltweiten Netz, die jede unserer Regungen auf der Tastatur aufzeichnen?
Vor etwa einem Jahr, am 10. Dezember 2013, haben über eintausend namhafte Schriftsteller aus der ganzen Welt, darunter fünf Literaturnobelpreisträger, einen Appell in mehr als 30 internationalen Tageszeitungen veröffentlicht, mit dem sie gegen die systematische staatliche Massenüberwachung protestierten und zur „Verteidigung der Demokratie im digitalen Zeitalter“ aufriefen. Dieser Appell ist eine direkte Reaktion auf die Enthüllungen Edward Snowdens und Glenn Greenwalds. Zu den Unterzeichnern gehören mit Liao Yiwu (2011) und David Grossmann (2008) zwei Geschwister-Scholl-Preisträger der letzten Jahre. Dieser Appell hat bis heute nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die er verdient hat. Darum zitiere ich hier zum Schluss aus ihm:
„Ein Mensch unter Beobachtung ist niemals frei; und eine Gesellschaft unter ständiger Beobachtung ist keine Demokratie mehr. Deshalb müssen unsere demokratischen Grundrechte in der virtuellen Welt ebenso durchgesetzt werden wie in der realen.
Überwachung verletzt die Privatsphäre sowie die Gedanken- und Meinungsfreiheit. (…)
Überwachung durchleuchtet den Einzelnen, während die Staaten und Konzerne im Geheimen operieren. Wie wir gesehen haben, wird diese Macht systematisch missbraucht.
Überwachung ist Diebstahl. Denn diese Daten sind kein öffentliches Eigentum: Sie gehören uns. Wenn sie benutzt werden, um unser Verhalten vorherzusagen, wird uns noch etwas anderes gestohlen: der freie Wille, der unabdingbar ist für die Freiheit in der Demokratie.
Wir fordern daher, dass jeder Bürger das Recht haben muss mitzuentscheiden, in welchem Ausmaß seine persönlichen Daten gesammelt, gespeichert und verarbeitet werden und von wem; (…)
Sehr geehrter Glenn Greenwald, wir zeichnen sie heute für den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Tapferkeit vor dem Freund mit dem Geschwister-Scholl-Preis aus. Sie haben uns die Augen dafür geöffnet, dass wir unser Recht auf digitale Selbstbestimmung in die Hand nehmen und unsere Privatsphäre verteidigen müssen.
© Michael Lemling, Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl im Münchner Stadtteil Schwabing, ist seit Januar 2014 der 1. Vorsitzende des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V.
Es gilt das gesprochene Wort.
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Ansprache von Dieter Reiter
Es klingt zugegebenermaßen nicht besonders originell, einem Grußwort zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises die Formel „Ich freue mich“ voranzustellen. Sie werden es mir trotzdem abnehmen, dass meine Freude, zum ersten Mal als Münchner Oberbürgermeister an dieser Preisverleihung teilnehmen zu können, tatsächlich von Herzen kommt. Zum einen, weil wir heute mit Glenn Greenwald einen Autoren ehren, der den hohen Anspruch des Geschwister-Scholl-Preises in geradezu idealtypischer Weise erfüllt. Und zum anderen, weil dieser Preis, der ja zu den renommiertesten literarischen Auszeichnungen in Deutschland gehört, neben den Preisträgerinnen und Preisträgern auch der Kultur- und Literaturstadt München zur Ehre gereicht.
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Zum 35. Mal bereits prämieren der Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und die Landeshauptstadt München damit ein Buch, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“. Und das dabei im weitesten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert. Der Ort der Preisverleihung bekräftigt das noch. Hier im Gebäude der Ludwig-Maximilians-Universität wurden Hans und Sophie Scholl entdeckt und festgenommen, als sie am 18. Februar 1943 ihre letzten Flugblätter, ein eindringliches Manifest freier Selbstbestimmung und des Widerstands gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, in den Lichthof warfen. Nur vier Tage später wurden sie von Hitlers „Blutrichter“ Roland Freisler zum Tode verurteilt und nur vier Stunden nach der Urteilsverkündung hingerichtet.
Nun stand bei der Mehrzahl der Werke, die in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wurden, naheliegender Weise die Auseinandersetzung mit den Verbrechen, den Ursachen und Folgen des NS-Terrors im Mittelpunkt. Eine Reihe von Büchern haben den Blick aber auch auf hochaktuelle Brennpunkte gelenkt. So z. B. die Streitschrift „Deutschland – leicht entflammbar“ von Heribert Prantl, dem Preisträger von 1994, der heute die Laudatio auf Glenn Greenwalds aufklärerische Arbeit hält. Oder das „Russische Tagebuch“ von Anna Politkowskaja, die dafür 2007, leider nur posthum, mit dem Geschwister-Scholl- Preis geehrt worden ist. Schon da also ging der Preis an zwei herausragende Protagonisten eines couragierten und kritischen Journalismus, und so ist es auch diesmal.
Auch die heutige, 35. Verleihung des Geschwister-Scholl- Preises an Glenn Greenwald für das Buch „Die globale Überwachung“ macht deutlich, dass es selbst in westlichen Demokratien außerordentliche Standfestigkeit erfordern kann, um Missstände aufzudecken, dagegen anzuschreiben und die Mächtigen damit herauszufordern – zumal dann, wenn es sich um die Veröffentlichung streng gehüteter Staatsgeheimnisse handelt. „Heroisch“ hat Glenn Greenwalds journalistische Weggefährtin, die Dokumentarfilmerin Laura Poitras den abtrünnigen NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden genannt, weil er das Leben, das er hatte, für seine Enthüllungen vollständig aufgab. Und wie es in der Jurybegründung zur diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis- Verleihung heißt: Erheblichen Mut hat auch Glenn Greenwald bewiesen, als er sich entschloss, mit Edward Snowden zusammenzuarbeiten, um zu zeigen, dass die totale Überwachung nicht nur eine technische Möglichkeit, sondern eine reale politische Gefahr geworden ist.
„Ich will eine weltweite Debatte über Privatsphäre, Freiheit im Internet und die Gefahren staatlicher Überwachung anstoßen“, so zitiert Glenn Greenwald seinen Informanten Edward Snowden. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, wie Glenn Greenwald betont, die gezielte, legitime Überwachung von Menschen infrage zu stellen, von denen Gefahr droht. Worum es aber sehr wohl geht, sind die nicht hinnehmbaren Grundrechtsverletzungen durch ein anlassloses, unterschiedsloses, massenhaftes und unkontrolliertes Ausforschen von Millionen und Abermillionen Bürgerinnen und Bürgern, das selbst die Schreckensvisionen eines George Orwell noch weit übertrifft. Worum es geht, ist der rechtsstaatliche Anspruch, der gar nicht eigens geltend gemacht werden sollte, so selbstverständlich sollte es sein, dass Transparenz und Kontrolle des Big Data- Schattenreichs geheimdienstlicher Spähprogramme nicht erst dann zum justiziellen und erst recht auch zum politischen Thema werden dürfen, wenn etwa ein Lauschangriff auf das Handy der Bundeskanzlerin ans Licht der Öffentlichkeit kommt.
Die Öffentlichkeit selber, nicht ein kleiner elitärer Kreis, der hinter den Kulissen agiert – so resümiert Glenn Greenwald am Ende seines Buchs – muss darüber entscheiden können, in welcher Welt wir leben wollen. Ob es beispielsweise nach Mark Zuckerberg geht, den Glenn Greenwald mit den Worten zitiert, im digitalen Zeitalter sei Privatheit keine „gesellschaftliche Norm“ mehr. Oder ob der Mut von Glenn Greenwald und seines Informanten Edward Snowden die nachhaltige, mobilisierende Wirkung entfaltet, die es braucht, damit Privatheit auch im digitalen Zeitalter als das verstanden, geachtet und geschützt wird, was sie ist: nämlich unverzichtbare Grundbedingung, ein freier Mensch zu sein, wie Glenn Greenwald so zutreffend schreibt.
Gemessen an der breiten Protestbewegung, die sich im Frühjahr 2012 gegen das Acta-Abkommen formiert hat, sehe ich bei den Forderungen nach mehr Schutz der Privatsphäre – jedenfalls hierzulande – zwar durchaus noch Luft nach oben. Doch mit der Auswertung der von Edward Snowden zur Verfügung gestellten Dokumente, mit dem Buch über „Die globale Überwachung“ haben wir immerhin die Chance erhalten, Fehlentwicklungen zu korrigieren und Machtmissbrauch zu verhindern. Auch das steht in der Jury-Begründung. Und ich denke, es ist nicht nur eine Chance, es ist ein Weckruf.
Deshalb freue ich mich sehr, wie gesagt, dass wir den Autor Glenn Greenwald heute – ein halbes Jahr, nachdem er die deutschsprachige Ausgabe von „No Place to Hide“ im Münchner Literaturhaus vorgestellt hat – nun mit dem Geschwister-Scholl- Preis auszeichnen können. Dazu gratuliere ich Ihnen, sehr geehrter Glenn Greenwald, von Herzen, herzlichen Glückwunsch zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2014!
© Dieter Reiter, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München
Es gilt das gesprochene Wort.
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Laudatio von Heribert Prantl
Dank Snowden und dank Greenwald haben wir die Kürzel der Überwachung und aller nur erdenklichen Überwachungsprogramme gelernt: Prism und XKeyScore und Upstream und TAO. Solche Kürzel der Überwachung addieren sich zu einem Alphabet der Totalität. Sie buchstabieren die globale digitale Inquisition. Würde jede dieser Überwachungsaktivitäten einen Pfeifton produzieren, wir alle wären schon wahnsinng geworden. Aber man hört nichts, man spürt die Übergriffe der Geheimdienste nicht. Weil es bei den Überwachungsaktionen nicht pfeift, brauchen wir Leute die pfeifen, brauchen wir Whistleblower, brauchen wir Leute wie Glenn Greenwald. Sein Buch „Die globale Überwachung“, das wir hier auszeichnen, ist ein Pfeifbuch – es pfeift 366 Seiten lang, es schreckt uns auf, er zeigt uns den globalen Überwachungswahnsinn.
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Glenn Greenwald zitiert in seinem Buch das berühmte Urteil von Louis Brandeis, Richter am Obersten US-Gerichtshof, aus dem Jahr 1928: „Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden, ist das umfassendste aller Rechte und dasjenige, dem ein freies Volk den größten Wert beimisst.“ Weil Edward Snowden dieses Recht, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, verteidigt hat, hat ihn die US-Staatsmacht zur Ruhelosigkeit verdammt. (Auch Greenwald wird ja nicht vom Staat in Ruhe gelassen. Sein Lebenspartner David Miranda wurde im August 2013 von der Polizei neun Stunden lang auf dem Flughafen London-Heathrow festgehalten. Die Beamten durchsuchten sein Handgepäck, konfiszierten seinen Rechner, zwei USB-Sticks und eine externe Festplatte.)
Snowden hat eine globale Großinquisition aufgedeckt und musste fliehen vor dem Großinquisitor. Den Gewinn hat die Rechtsstaatlichkeit der westlichen Demokratien, genauer gesagt: Sie könnte ihn haben, wenn sie den globalen Skandal zum Anlass nähmen, ihren Geheimdiensten Grenzen zu setzen. Snowden ist also nicht nur Aufklärer, er ist auch Motivator. Seine Angaben über die weltweiten Überwachungsprogramme haben strafrechtliche Ermittlungen und parlamentarische Untersuchungsausschüsse in Gang gesetzt. Snowden hat daher Besseres verdient als ein wackeliges, zeitlich begrenztes Asyl in Russland. Glenn Greenwald und sein Buch erinnern uns fortwährend daran. Dafür danken wir ihm.
Snowden hat sich etwas getraut. Er ist aus der Verborgenheit der geheimdienstlichen Welt herausgetreten – und angetreten gegen die antischöpferische, geistlose Überwachungslogik. Er hat sie beschrieben, er hat sie entlarvt, er hat sie angeprangert. Er hat die Funktionsweisen und die Mechanismen der geheimdienstlichen Observation aufgedeckt, er hat ihre Totalität und ihren Ungeist benannt. Es ist dies ein Ungeist deswegen, weil die Überwachung es verhindert, schöpferisch zu sein. Kreativität verlangt, dass man sich abweichendes Verhalten erlauben kann, dass man Fehler machen darf. Überwachung verhindert das. Wer überwacht wird, verhält sich konform. Das ist die eigentliche Gefahr der Massenüberwachung. Sie erzieht zur Konformität. Sie kultiviert vorauseilenden Gehorsam. Sie züchtet Selbstzensur.
Die Dynamik der Selbstzensur entwickelt sich unabhängig davon, ob wirklich konkret im Einzelfall überwacht wird. Es reicht die abstrakt-konkrete Möglichkeit, überwacht zu werden. Damit verschwindet nämlich die Gewissheit, dass man in Ruhe und in Frieden gelassen wird. Und damit verschwindet die Privatheit; und mit ihr verschwindet die Unbefangenheit. Der Verlust der Unbefangenheit ist eine Form der Gefangenschaft; sie ist ein Verlust der Freiheit. Die Überwachungsmacht veranlasst die Menschen, sich selbst in Gefangenschaft zu nehmen.
Dies alles eindringlich und eindrücklich beschrieben zu haben - das ist das große Verdienst von Glenn Greenwalds Buch. Sein Buch besteht aus drei Teilen: Im ersten geht es um Snowden, im zweiten um die elektronische Überwachung, im dritten steht eine Anklage gegen das amerikanische Mediensystem. Es handelt sich um ein unglaubliches, ja um ein wahnsinniges Buch, weil es, meist mit großer Nüchternheit, einen globalen Wahnsinn beschreibt. Greenwald versucht sich in seinem Buch nicht in journalistischer Distanz – dafür ist er Snowden und seinen Entdeckungen viel zu nahe gekommen. Er skizziert (auch) die Lebensgeschichte eines Aufklärers von Weltrang, der ohne die kluge Auswertungs- und Publikationsstrategie von Greenwald wohl nicht dieser Aufklärer von Weltrang geworden wäre. Und Greenwald, auch das darf man an dieser Stelle sagen, hätte dies nicht geschafft ohne die Hilfe seiner Kollegin Laura Poitras.
Neue Sensationen enthält das Buch nicht – die Sensationen und Ungeheuerlichkeiten, die in den zwölf Monaten zuvor von Snowden mit Glenn Greenwalds Hilfe veröffentlicht wurden, waren ungeheuerlich genug. Gleichwohl ist das Buch ein Buch der Enthüllungen, weil es die Enthüllungen festhält, zusammenfasst, auswertet, in ihren Kontext stellt. Greenwald stellt diese Phase der Enthüllungen in ihren politischen Kontext. Snowden hatte, wie dies der Kollege Andrian Kreye in seiner SZ –Rezension des Buches schön nacherzählt hat, nicht nur die rohen Daten gesammelt und dem Journalisten Greenwald übergeben. Er hatte sie in ein System von digitalen Ordnern sortiert, hatte Material dazu gegeben, das für die Enthüllungen keine Rolle spielte, aber für das Verständnis sehr wohl. Und er hatte das alles so angelegt, dass Greenwald daraus eine Dramaturgie entwickeln konnte.
Darf ein Rechtsstaat Verbrechen begehen? Natürlich darf er das nicht. Ein Rechtsstaat darf nicht gegen Verfassung, Recht und Gesetz verstoßen. Und wenn er es trotzdem tut? Darf der Staat dann denjenigen bestrafen, der das aufdeckt und öffentlich macht? Muss man, zumindest dann, wenn man Staatsbediensteter ist, den Mund halten, wenn man von schweren Missständen erfährt? Und wann darf man wie den Mund aufmachen und wem gegenüber?
Das sind die rechtlichen Fragen, um die es im Fall Snowden geht: Gibt es ein Recht, rechtswidrige Zustände öffentlich zu machen? Edward Snowden hat mit Glenn Greenwalds effektiver Hilfe aufgedeckt, dass amerikanische und britische Geheimdienste die halbe oder auch die ganze Welt abhören, dass sie alle nur erdenklichen Spuren im Internet registrieren und auswerten, dass sie dazu auch ihre Botschaftsgebäude nutzen, dass sie für Spionagezwecke die internationalen Kommunikationsverbindungen unter ihre Kontrolle gebracht haben – dies alles unter Verstoß gegen internationales Recht, Pakte und Vereinbarungen.
Weil Snowden das öffentlich gemacht hat, wird er von der Staatsgewalt gejagt. Drei Delikte werden ihm vorgeworfen: Diebstahl von Regierungseigentum; widerrechtliche Weitergabe militärischer Informationen; Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen an Unbefugte. Er hätte unbedingt schweigen müssen, sagen die Behörden. Allenfalls hätte er sich an den Kongress wenden dürfen. Er habe Staatsgeheimnisse verraten. Sind aber illegale Geheimnisse wirklich Staatsgeheimnisse, die Strafrechts-Schutz verdienen und also denjenigen zum Straftäter machen, der diese Geheimnisse aufdeckt? Ist der Verbrecher der, der ein Verbrechen anzeigt – und nicht der, der sie verübt?
So sähen es Regierungen und Sicherheitsbehörden oft gern – und so wird das Strafrecht gern ausgelegt. Recht ist das nicht. Der Staat darf nicht alles, was er tut, mit der Firewall des Strafrechts umgeben. Dann werden auch illegale Geheimnisse zu geschützten Geheimnissen; Staatsschutz nennt man das dann. Es gibt aber im Strafrecht den Rechtfertigungsgrund der Notwehr und der Nothilfe. Snowden ein Nothelfer. Und unser Preisträger Glenn Greenwald hat ihm bei dieser Nothilfe geholfen. Greenwald hat dem Ur- und dem Kerngehalt der Pressefreiheit realisiert: Sagen was ist! Das hat Greenwald getan: Er hat gesagt was ist – und er sagt es immer wieder.
Nothilfe für das Recht. Nothilfe für die verletzten Menschenrechte. Das US-Militärgericht hat das nicht geprüft, als es den früheren Soldaten Bradley Manning, die jetzt Chelsea Manning heißt, zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt hat. Manning hatte Videos von der US-Kriegsführung an Wikileaks weitergegeben – unter anderem die 27 Minuten lange Szene, auf der man ein Kriegsverbrechen sieht: die Besatzung eines Apache -Kampfhubschraubers erschießt mittels Bordwaffen zwölf Zivilpersonen auf einer Straße in Neu-Bagdad. Manning büßte für die Aufdeckung mit folterartiger Untersuchungshaft, mit hoher Strafe und der unehrenhaften Entlassung aus der Armee. Von der unehrenhaften Entlassung der Todesschützen ist nichts bekannt.
Gibt es also kein Recht, das Recht zu verteidigen, wenn es von denen, die eigentlich dazu berufen sind, keiner tut? Hätten also auch die Informanten, die seinerzeit dem US-Journalisten Seymour Hersh vom Massaker in My Lai berichteten, bestraft werden müssen? Hätte auch der Journalist Seymour Hersh, der für die Aufdeckung den Pulitzerpreis erhielt, stattdessen eigentlich bestraft werden müssen? Im vietnamesischen Dorf My Lai hatten US-Soldaten Frauen vergewaltigt und fast alle Einwohner ermordet. Die öffentlichen Debatten darüber haben mit zum Ende des Vietnamkriegs beigetragen. War das falsch? Wäre My Lai eigentlich geschütztes Staatsgeheimnis gewesen?
Es gibt darauf eine klare Antwort: Schutzwürdig kann und darf in einem demokratischen Verfassungsstaat nur ein Dienst- oder ein Staatsgeheimnis sein, das mit dem geltenden Recht im Einklang steht. Das Recht darf nicht Unrecht schützen. Und das Recht muß denen die Hand reichen, die es schützen. Danke, Edward Snowden. Danke, Gleen Greenwald.
Christoph Martin Wieland, ein deutscher Dichter, Übersetzer und Herausgeber zur Zeit der Aufklärung, hat kurz vor seinem Tod prophezeit: „Wer sich erkühnen wird, Wahrheiten zu sagen, an deren Verheimlichung den Unterdrückern gelegen ist, wird Ketzer und Aufrührer heißen und als Verbrecher bestraft werden.“ Die Vorhersage stammt aus dem Jahr 1812. 2014 stimmt sie immer noch. Im demokratischen Rechtsstaat sollte es anders sein.
Seit eineinhalb Jahren ist nun die globale digitale Inquisition bekannt. In dieser Zeit bestand die deutsche Politik der Aufklärung dieses Datenspionage-Skandals vor allem im Streit darüber, wie mit dem Aufklärer Snowden verfahren werden soll: Asyl? Aufenthalt? Freies Geleit? Vernehmung in Moskau? Oder gar nichts von alledem? Der Streit darüber ersetzte die Maßnahmen zur Abwehr der Grundrechtseingriffe. Bisweilen konnte man den Eindruck haben, die offizielle Politik betrachte die Angelegenheit nicht als aufzuklärenden Großskandal, sondern als lästige Entdeckung, die besser nie gemacht worden wäre, weil sie die numinosen Beziehungen zu den USA stört. Bisweilen schien es so, als gelte den deutschen Staatsgewalten nicht die US-Spionage, sondern deren Aufdeckung als der eigentliche Skandal – und als könne man die Grundrechtsgefährdung dadurch beseitigen, dass man sie herunterspielt.
Erst leugnete die Bundesregierung (es war die schwarz-gelbe) den Großzugriff auf Daten und Grundrechte. Dann räumte sie ihn ein wenig ein, erklärte ihn aber für beendet. Die nächste Bundesregierung, die schwarz-rote, räumt ihn zwar ein und lamentiert, tut aber nichts dagegen. Gegen die Stationierung von Abhöranlagen in Botschaften hätte sie, zum Beispiel, vor dem Internationalen Gerichtshof klagen können; man wagt es nicht. Mit langer Verspätung hat die Kanzlerin im Sommer den Geheimdienst-Residenten der USA in der Bundesrepublik aus dem Land komplimentiert. Aber auch dies war keine Reaktion auf die Ausspähung der Bürger, sondern eine Reaktion darauf, dass sich die USA einen Spion beim deutschen Geheimdienst hielten. Offenbar ist der BND schutzwürdiger als die deutschen Bürger.
Die Bürger sind datenschutzlos. Die Datenschutzgesetze sind zwar in Kraft, haben aber nicht die Kraft, die laufenden US-Zugriffe abzuwehren. Es gibt die Strafgesetze, die vor digitaler Inquisition schützen sollen. Aber sie werden nicht eingesetzt, weil sie angeblich gegen den US-Geheimdienst nicht richtig greifen. Der Generalbundesanwalt ermittelt peripher, nur wegen des Abhörens des Handys der Kanzlerin. Dieses wird, das hat der US-Präsident zugesichert, nicht mehr abgehört. Weitere Zusicherungen gibt es nicht. Weitere Ermittlungen auch nicht. Die Vorschläge von Experten zum Aufbau eines sicheren EU-Internets gelten der Regierungspolitik offenbar als wirres Zeug. Kurzum: Die staatlichen Handlungs- und Schutzpflichten für die Kommunikationsgrundrechte werden missachtet, die Garantie des Grundgesetzes für „angemessene und ausreichende Telekommunikation“ wird nicht eingelöst. Es wächst nicht der Schutz der Bürger. Stattdessen wächst das Phlegma. Es wächst aber nicht nur Phlegma der Bundesregierung, sondern auch er Bürger. Es gibt ja nicht nur den US-Orwell. Es gibt auch eine deutsche und eine internationale Orwellness. Diese Orwellness, eine Entblößungsgesellschaft, nutzt das Internet als Entblößungsmedium. Und es gibt auch viele Phlegmatiker, die glauben, dass sie die ganze Überwacherei nichts angehe, weil sie eh nichts zu verbergen hätten. Manche dieser Leute halten die US-Spionage für Montezumas Rache an der Internet-Generation.
Die Aktivitäten der Bundesregierung gegen die Kommunikationsspionage gehen über ein Lamento nicht hinaus. Die Untätigkeit ist verstörend. Sie hat vielleicht damit zu tun, dass der BND im Ausland bei der Datenspionage so agiert, wie es der US-Geheimdienst in Deutschland tut. Das führt wohl zum Ringtausch von Daten. Der BND lässt sich Daten, die er in Deutschland nicht erheben darf, von den Amerikanern geben und gibt dafür seine Erkenntnisse weiter, die er unkontrolliert im Ausland gewonnen hat. Miteinander verspeist man die Früchte des jeweils unrechtmäßigen Tuns. Ein solches Gelage ist ein Frevel wider den Rechtsstaat.
Wo aber Gefahr ist, sagt Hölderlin, wächst das Rettende auch. Es wäre schön, wenn es so wäre. Edward Snowden wartet darauf vergeblich. Für ihn wächst nur die Gefahr. Der Mann, der die globale Überwachung durch US-Geheimdienste aufgedeckt und sich um die Grundrechte verdient gemacht hat, sitzt im immer wackeligeren Asyl in Moskau. Es ist ein bitterer Witz, es ist eine Schande, dass ein Aufklärer Schutz dort suchen muss, wo derzeit alles Mögliche zu Hause ist, nur nicht die Werte der Aufklärung. Die EU, die sich „Raum des Rechts, der Sicherheit und der Freiheit“ nennt, ist auch ein Raum der Feigheit; sie traut sich nicht, Snowden irgendeinen Schutz angedeihen zu lassen.
Der Journalistenkollege Jacob Appelbaum hat von Snowdens Mut gesprochen, der ansteckend sei. Demokratie ist auf solchen Mut angewiesen, immer wieder. Im Grundgesetz gibt es einen Artikel über den Widerstand. Viele Staatsrechtler halten den Widerstands-Artikel für pathetisches Larifari, für ein verfassungsrechtliches Alien: Wenn der Widerstand erfolgreich sei, so sagen diese Staatsrechtler, dann brauche man doch hinterher keine große Rechtfertigung durch ein ausdrückliches Recht; und wenn der Widerstand scheitere, dann helfe so ein Recht auch nichts mehr. Eine solche Bewertung ist falsch; sie ist Frucht akademischer Überheblichkeit; sie verkennt die Kraft des Symbols. In diesem Artikel stecken auch die Forderung und die Erkenntnis, dass in der Demokratie der kleine Widerstand beständig geleistet werden muss, auf dass der große Widerstand nie mehr notwendig wird.
Widerstand in der Demokratie heißt anders: Er heißt Widerspruch, er heißt Snowden und Glenn Greenwald, er heißt Zivilcourage, er heißt aufrechter Gang, er heißt Cap Anamur, Amnesty, Greenpeace, Pro Asyl und Kirchenasyl. Er besteht in der Demaskierung von Übelständen. Dieser kleine Widerstand hat die Namen all derer, die nicht wegschauen, wenn sie meinen, dass in Staat und Gesellschaft etwas ganz falsch läuft. Dieser kleine Widerstand hat die Namen all derer, die wachrütteln, Unrecht aufdecken, Missstände benennen und dafür persönlich geradestehen. Und dieser kleine Widerstand hat die Namen all derer, die gegen Unrecht nicht nur im Eigeninteresse ankämpfen und dabei Niederlagen vor Gericht erleiden, die den langen Instanzenzug durchwandern und dann, vielleicht, mit ihrem Anprangern verfassungswidriger Zustände vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Erfolg haben.
Auf diese Erfolgskraft hoffen und bauen auch die Menschen, die sich gegen den Machtwechsel von den Staaten hin zu den Konzernen wehren – in den Protesten gegen das Freihandelsabkommen TTIP und gegen Tisa, das geplante Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen. Sie warnen davor, dass den Staaten und der Demokratie die Macht aus den Händen rinnt und sich in der Wirtschaft zusammenballt. Der kleine Widerstand kostet nicht Kopf und Kragen wie der Widerstand in der Diktatur; aber ganz billig ist er auch nicht, wie vor allem Whistleblower wissen – das gilt nicht nur für Leute wie Edward Snowden und Chelsea Manning.
So ganz klein ist nämlich dieser kleine Widerstand nicht immer. Man muss es aushalten, als Nestbeschmutzer oder Vaterlandsverräter zu gelten. Manchmal kostet der kleine Widerstand die berufliche Existenz. Manchmal ist er strafbar, manchmal führt er gar ins Gefängnis. Man nennt ihn dann zivilen Ungehorsam.
Aber bisweilen hat dieser strafbare zivile Ungehorsam sogar die Kraft, seine Bestrafung zu beenden. So war es einst beim Widerstand gegen die atomare Nachrüstung in Deutschland: Ein Jahrzehnt lang wurden die Friedensdemonstranten als Gewalttäter bestraft, weil sie sich vor die Depots gesetzt hatten, in denen die mit atomaren Sprengköpfen bestückten US-Pershing-Raketen lagerten. Aber dann beschlossen die Richter des Bundesverfassungsgerichts 1995, dass solche Sitzblockaden nicht automatisch als Nötigung bestraft werden können; viele Friedensdemonstranten mussten von den Gerichten rehabilitiert und freigesprochen werden. Der Staat hatte geirrt, als er verurteilte. Die Demonstranten hatten den Irrtum ertragen, erduldet und im Gefängnis abgesessen. In diesem Erdulden lag die Kraft zur Veränderung. Es ist die Kraft des langen Atems.
Diese Kraft des langen Atems wünsche ich unserem Preisträger Glenn Greenwald. Ich wün-sche sie uns allen. Und ich wünsche sie unserer Demokratie.
© Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter des Ressorts Innenpolitik
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Glenn Greenwald
Guten Abend Ihnen allen und vielen Dank für den sehr herzlichen Empfang. Mein Dank gilt der Stadt München, dem Börsenverein des deutschen Buchhandels und der Jury für diesen höchst bedeutenden Preis. Ich fühle mich geehrt und empfinde tiefe Demut, ihn zu erhalten.
Als ich erfuhr, dass ich für den Preis ausgewählt worden war, freute ich mich natürlich sehr und war sehr dankbar. Ich kannte die Geschichte von Sophie und Hans Scholl und mir war auch der Preis ein Begriff, aber mein erster Gedanke war, dass ich am Tag der Preisverleihung wegen anderer Termine wahrscheinlich nicht nach Deutschland würde reisen können.
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Am Tag, an dem die Preisverleihung dann bekannt gegeben wurde, rief mich ein Freund aus Deutschland an und war sehr aufgeregt. Er sagte: „Herzlichen Glückwunsch, ich kann es kaum erwarten, bei der Preisverleihung dabei zu sein!“ Ich erwiderte, dass ich die Möglichkeit in Erwägung zog, nicht teilzunehmen, obwohl ich das wirklich gern täte, ich wusste einfach nicht, ob es klappen würde. Er war schockiert, ja empört angesichts der Tatsache, dass ich überlegte, nicht teilzunehmen. Ich sagte: „Ich weiß, dass das ein sehr prestigeträchtiger Preis ist und ich würde wirklich gern hinfliegen, es ist einfach nur aus Zeitgründen.“ Er erwiderte: „Nein, das verstehst du nicht, es geht hier nicht um das Prestige des Preises, es gibt viele prestigeträchtige Preise überall auf der Welt und man kann natürlich nicht an allen Zeremonien teilnehmen. Aber darum geht es hier nicht. Nimm dir nur eine Stunde Zeit und lies online etwas über die Ziele dieses Preises und in welchem Geist er verliehen wird, und du wirst sehen, dass es der perfekte Preis für das ist, was du, Laura Poitras und Edward Snowden versucht habt, mit eurer Arbeit zu erreichen.“
Ich habe dann fünfzehn Minuten lang über die Geschichte des Preises gelesen, die Hintergründe und den Zweck der Preisvergabe. Ich wusste sofort, dass ich überhaupt keine Wahl hatte, dass es Pflicht war, dass ich komme.
Der Veröffentlichung dieser Dokumente ist viel Aufmerksamkeit zuteil geworden, und das war auch richtig so. Wir wollten, dass der Fokus auf den Themen Überwachung und Privatsphäre im Internetzeitalter lag. Aber ich denke, dass ein genauso wichtiger Teil der Geschichte, wenn nicht sogar der wichtigere Teil, die menschliche Lehre ist, die man aus den Ereignissen der vergangenen 18 Monaten ziehen kann.
Als ich im Juni des letzten Jahres nach Hongkong flog, um Edward Snowden zu treffen, hatte ich schon einige Wochen damit verbracht, mich über das Internet mithilfe von Verschlüsselungsprogrammen mit ihm auszutauschen, so dass niemand überwachen konnte, was wir sagten. Und abgesehen von der Tatsache, dass ich wusste, dass er mir eine riesige Anzahl von Dokumenten geben wollte, von denen er sagte, dass sie belegten, dass die US-Regierung illegal die Welt ausspionierte, wusste ich nichts über ihn. Ich kannte nicht seinen Namen, ich wusste nicht, wo er arbeitete, welches Geschlecht oder Alter er hatte. Ich flog nach Hongkong und hatte eine Vorstellung von der Person, mit der ich mich treffen sollte, die sich als komplett falsch erwies. Ich hatte dieses mentale Bild von ihm. Ich nahm an, dass er recht alt sein müsste. Teils deshalb, weil ich annahm, wenn jemand bereit war, sein gesamtes Leben zu riskieren, um diese Ungerechtigkeit aufzudecken, musste das sein, weil er sie jahrein, jahraus beobachtet hatte und nun an einem Punkt angekommen war, an dem er sie nicht mehr einfach ignorieren konnte. Ich wusste auch, dass er das Risiko einging, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen, und ohne es mir bewusst vorzustellen, ging ich davon aus, dass es wahrscheinlich einfacher ist, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen, wenn man 75 ist als 25. Das erschien mir einfach natürlich.
Als ich dann in Hongkong Edward Snowden zum ersten Mal sah, war das ohne Übertreibung das wohl verwirrendste und desorientierendste Erlebnis in meinem ganzen Leben. Vor mir stand kein hartgesottener Veteran des amerikanischen nationalen Sicherheitsapparats, sondern ein Kind. Er war zwar 29 Jahre alt, sah aber mindestens fünf oder sechs Jahre jünger aus. Er trug ein weißes T-Shirt und Jeans und war sehr dünn. Er hatte das Hotelzimmer seit mindestens drei Wochen nicht verlassen, deshalb war er sehr blass. Er sah wie der durchschnittliche Nerd aus, den man in einem Einkaufszentrum oder auf dem Campus einer Universität sieht. Und als ich mich mit ihm hinsetzte und ihm Fragen zu seinem Leben stellte, wurde es noch verblüffender. Es lag nicht nur daran, dass er so jung war, es lag daran, dass er so normal war. Er war eigentlich in armen Verhältnissen aufgewachsen, verfügte über keinerlei Macht oder Ansehen, er kam nicht aus einer gut vernetzten oder wohlhabenden Familie mit Einfluss. Ganz das Gegenteil war der Fall – er war völlig normal in jederlei Hinsicht. Er hatte nicht einmal die Highschool abgeschlossen. Und doch saß da eine Person, absolut normal in jeder Hinsicht, die bereit war, etwas so Außergewöhnliches zu tun. In Hongkong gingen wir davon aus und waren uns darin fast sicher, dass Edward Snowden seine Zukunft in einem Käfig in einem amerikanischen Gefängnis verbringen würde, allein, für den Rest seines Lebens. Kein Gefängnis ist ein Ort, an dem man sein will. Aber ein amerikanisches Gefängnis ist einer der schlimmsten Orte, wenn man als Bedrohung für die nationale Sicherheit eingestuft wird. Das war die Annahme, auf Grundlage derer wir arbeiteten.
Es war schon außergewöhnlich genug, dass er bereit war, mit 29 für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu gehen. Aber noch erstaunlicher war es für mich, und es hat mich bei allem, was seither geschehen ist, beeinflusst und wird das bis an mein Lebensende tun – es gab nie einen einzigen Augenblick, keinen einzigen Moment, in dem Edward Snowden auch nur ein wenig Angst, Zögern oder Reue empfand angesichts dessen, was er getan hatte. Sogar als wir dachten, dass es in nur wenigen Stunden an dem Hotelzimmer, in dem wir arbeiteten, klopfen und man ihn abführen würde, sogar als die US-Regierung ihn zum Flüchtigen Nummer Eins vor der mächtigsten Regierung der Welt erklärt hatte. Sie war so wild entschlossen, ihn zu finden, dass sie sogar ein Flugzeug mit dem bolivianischen Präsidenten an Bord zwang, in Österreich zu landen – so verrückt war die US-Regierung in ihrem Bemühen, ihn zu finden. Sogar in dieser Situation gab es keinen Augenblick, in dem er sich dachte oder uns zeigte, dass er vielleicht etwas getan hatte, was er nicht hätte tun sollen.
Ich habe die ersten vier oder fünf Tage in Hongkong wenig getan außer versucht zu verstehen, was jemanden im Alter von 29 mit einem scheinbar glücklichen und erfüllten Leben – er hatte eine sehr gute Arbeit, er verdiente viel Geld, er hatte eine Freundin, die ihn liebte, und eine Familie, die ihn unterstützte – dazu bringt, all dies wegzuwerfen, nur um ein politisches Ideal zu verteidigen. Er war bereit, das Risiko einzugehen, die nächsten 40 oder 50 Jahre in einem Käfig zu sitzen, um diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Ich wollte verstehen, warum das so war.
Letzten Endes erklärte er mir etwas, das ich lange nicht verstanden habe. Er sagte, dass gemäß seinem Bild von sich selbst, gemäß Ethik und Moral und seinen Pflichten als Mensch, der Schmerz, mit diesem Wissen zu leben, die Last auf seinem Gewissen, den Rest seines Lebens damit zu verbringen, zu wissen, dass er diese extreme Ungerechtigkeit erlebt und die Möglichkeit gehabt hätte, gegen sie vorzugehen, aber aufgrund von Angst entschieden hatte, nichts zu tun, weitaus schlimmer wäre,als alles, was ihm die amerikanische Regierung antun könne. Und deshalb tat er es.
Ich habe in den vergangenen 18 Monaten viel darüber nachgedacht, dass mir all das damals zwar außergewöhnlich erschien, es in der Tat aber relativ oft genau so ist. Wenn man sich damit befasst, wie sich Menschen im Laufe der Geschichte Ungerechtigkeit entgegengestellt haben, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in nahezu jedem Teil der Welt, fällt auf, dass es hauptsächlich Menschen wie Edward Snowden sind, normale Menschen, die über keine besondere Macht oder Stellung oder Ansehen verfügen, die es auf sich nehmen, alles zu riskieren, um die Tyrannei oder Ungerechtigkeit zu bekämpfen, die sie erleben.
Menschen wie Rosa Parks, die einfache afroamerikanische Frau, die sich weigerte, im Bus hinten zu sitzen, oder der Straßenverkäufer in Tunesien, der sich selbst anzündete und eine außergewöhnliche Revolution gegen die schlimmsten Gewaltherrschaften in der arabischen Welt entfachte, oder junge Menschen wie Sophie und Hans Scholl, die aus welchem Grund auch immer wissentlich ihr Leben aufs Spiel setzten, um sich einer der schlimmsten Ungerechtigkeiten in den Weg zu stellen, die es in der Menschheitsgeschichte jemals gab. Ich habe in den vergangenen 18 Monaten viel darüber nachgedacht, dass wir das alle in uns tragen. Es gibt einen Grund dafür, warum normale Menschen in der Lage und bereit dazu sind, solch außergewöhnliche Dinge zu tun, es kommt nur darauf an, wie lange man darüber nachdenkt, worauf es im Leben wirklich ankommt. Was uns wirklich glücklich macht, der Wert eines reinen Gewissens wenn man weiß, das Richtige getan zu haben.
Ich fühle mich so geehrt, genau diesen Preis zu erhalten, weil es ein Preis ist, der uns dazu anhält, über genau diese Fragen nachzudenken. Und je mehr Menschen sich mit diesen Fragen befassen, desto mehr Rosa Parks, Edward Snowdens und Sophie Scholls wird es geben. Das war wohl die wichtigste Lehre, die ich aus dieser Arbeit gezogen habe. Die Lehre, dass Mut ansteckend ist.
Immer wenn ich mit Laura [Poitras] über das spreche, was wir schlussendlich getan haben, erinnern wir uns an diese Zeit in Hongkong, die sehr intensiv war und so viele verschiedene Entscheidungen nach sich zog. Letztendlich glaube ich, dass wir heute erkannt haben, dass wir eigentlich fast keine Wahl hatten. Als wir diesen 29-Jährigen in vollständiger Anonymität trafen, der bereit war, die größten Risiken einzugehen, die man als Mensch eingehen kann, wussten wir, dass wir die Pflicht hatten, unsere Arbeit in demselben Geist zu verrichten, der ihn antrieb. Wir wussten, dass uns die US-Regierung mit strafrechtlicher Verfolgung drohen würde, wir wussten, dass es sein könnte, dass wir sehr lange oder gar nicht mehr in die Vereinigten Staaten würden zurückkehren können, wir wussten, dass Dinge passieren würden, wie etwa dass unsere Internetkommunikation überwacht wird und die Menschen, die uns nahe stehen, wie beispielsweise mein Lebensgefährte, festgehalten und zur Zielscheibe werden würden, und dennoch hatten wir keine Wahl. Der Geist des Muts, den Edward Snowden zeigte, infizierte uns. Und das infizierte wiederum Journalisten beim Guardian und beim Spiegel und Journalisten überall auf der Welt, die sich ohne Angst mit diesem Material auseinandergesetzt haben. Für mich ist das die größte Lektion.
Ich schreibe jetzt seit 10 Jahren über Politik. Es ist einfach, sich angesichts einer von einer Regierung wie der der Vereinigten Staaten verübten Ungerechtigkeit zu sagen: Es gibt nichts, was ich tun kann. Ich habe dafür nicht genug Macht. Ich kann mich dem nicht in den Weg stellen. Ich glaube, das Handeln von Menschen wie Edward Snowden und Sophie und Hans Scholl und vielen anderen Menschen zeigt, wie falsch das ist. Die Geschichte lehrt uns, dass Menschen sich jeder Art von durch andere Menschen verursachten Ungerechtigkeit, jeder Institution, entgegenstellen, widersetzen und sie einreißen und zerstören können, wenn sie ihren ganzen Willen und ihre Zivilcourage zusammennehmen. Diese Lektion sollten wir alle nie vergessen.
Ich möchte zum Schluss noch auf das eingehen, was wir vom unglaublichen Mut der Geschwister Scholl lernen können. Es herrscht eine gewissen Zurückhaltung, wenn es darum geht, Lehren vom Heldenmut oder dem Widerstand während des Nationalsozialismus zu ziehen und auf die gegenwärtige Gesellschaft zu übertragen. Es gibt die Tendenz anzunehmen, dass das ein einzigartiges Übel war, mit dem man nichts vergleichen sollte. Und vielleicht ist das auch in gewisser Hinsicht richtig. Aber solche Taten haben nur eine Bedeutung, wenn wir eine Lehre aus ihnen ziehen. Ich glaube, dass es auch als unangemessen gilt, Widerstand gegen ein Regime wie das des Nationalsozialismus mit Widerstand zu vergleichen, der im Kontext der westlichen Demokratien geleistet wird. Ich muss sagen, dass ich diese Auffassung, dass es unangemessen ist, diese beiden Dinge zu vergleichen, wirklich falsch finde. Zunächst müssen wir anerkennen, dass Demokratien zu allen möglichen schrecklichen Taten fähig sind. Das Regime, dem sich die Geschwister Scholl entgegengestellt haben, wurde anfangs durch eine demokratische Wahl eingeleitet. Wir müssen uns fragen, was wir meinen, wenn wir von Demokratie sprechen. Bedeutet Demokratie wirklich nur, dass die Bürger alle drei bis vier Jahre in eine Kabine gehen, einen Knopf drücken und damit die Person auswählen können, der sie politische Macht übertragen wollen? Ich bin der Meinung, dass Demokratie weitaus mehr beinhaltet. Die Menschen in Ägypten konnten vor drei Monaten zum ersten Mal einen Knopf für die Person drücken, der sie politische Macht übertragen wollten. Die Menschen im Gazastreifen konnten das tun und wählten die Hamas. Die Menschen in Afghanistan haben es gerade erst getan, als sie eine neue Regierung wählten. Ich denke, niemand von uns würde sagen, dass es sich bei diesen Beispielen wirklich um Demokratien handelt. Demokratie erfordert mehr als das.
Allermindestens erfordert Demokratie, wenn sie mehr sein soll als ein Symbol oder ein Wort, dass wir als Bürger über die wichtigsten Dinge informiert sind, die die Menschen mit politischer Macht tun. Es muss eine fundierte Entscheidung sein, wenn sie etwas bedeuten soll. Eines der Dinge, die in meinem Land, den Vereinigten Staaten von Amerika, passiert ist, aber auch in den Ländern ihrer engsten Verbündeten, Großbritannien, Kanada, Australien und ich glaube auch in anderen EU-Ländern, ist, dass die Angst vor dem Terrorismus dazu missbraucht wurde, eine Aufgabe dieser Prinzipien zu rechtfertigen. Als ich die Snowden-Dokumente zum ersten Mal durchgesehen habe, hat mich nicht am meisten erstaunt, wie riesig und umfassend das Ausmaß des Ausspähens war, die Tatsache, dass jeden einzelnen Tag Milliarden und Abermilliarden von E-Mails und Telefonaten erfasst und gespeichert wurden – das war für mich nicht das Verblüffendste. Noch verblüffender fand ich, dass meine Regierung, die britische Regierung und die Regierungen von Neuseeland, Australien und Kanada, die sich Demokratien nennen, all das getan hatten ohne jegliche Form von Offenlegung, jegliche Information ihrer Bürger. Man kann sich darüber streiten, welche Details geheim bleiben oder welche technischen Bedingungen verschwiegen werden sollten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden gibt, der sagen würde, dass eine Regierung das Recht hat, etwas so Grundlegendes zu tun – das Internet in einen Raum beispielloser Überwachung und Kontrolle zu verwandeln – ohne jegliche demokratische Auseinandersetzung, jegliche Bekanntgabe, jegliche Information an die Bürger, die sich eigentlich damit einverstanden erklären müssten.
Der Grund, warum Edward Snowden an die Öffentlichkeit ging, und der Grund, warum wir unsere Arbeit in dieser Form taten, auf so aggressive Weise, war, dass wir wussten, dass dieses System nicht nur eine Bedrohung für die Privatsphäre darstellte, sondern eine Bedrohung für die Demokratie selbst. Wir wollten das tun, worum es meiner Meinung nach im Journalismus gehen sollte: Ein riesiges Loch in die Mauer der Geheimhaltung zu sprengen, hinter der die mächtigsten Regierungen der Welt agieren. Ich bin begeistert und hoch erfreut, genauso wie Edward Snowden, dass unsere Arbeit eine globale Debatte entfacht hat. Eine Debatte nicht nur über Überwachung und Privatsphäre, sondern über Geheimhaltung, Machtmissbrauch durch Regierungen und die richtige Rolle des Journalismus.
Zum ersten Mal im digitalen Zeitalter machen Menschen sich über die Kraft des Internets und darüber Gedanken, was es sein kann, wenn es frei ist, und es mit der Waffe der Unterdrückung und Kontrolle vergleichen, die es werden kann, wenn es nicht frei ist. Ich kenne das Ergebnis dieser Diskussion nicht. Ich weiß nicht, wie das Internet sein wird. Aber ich weiß, dass als Folge der Arbeit, die wir in den vergangen 18 Monaten tun konnten, diese Entscheidung von uns allen im Freien getroffen werden wird. Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der der Meinung ist, das sollte anders sein.
Ich danke Ihnen sehr für Ihr Kommen. Vielen Dank für den Preis und danke an die Jury, die ihn mir verliehen hat.
© Glenn Greenwald
Übersetzung: Martina Bögl
Es gilt das gesprochene Wort.
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