Achille Mbembe, geboren 1957, ist ein kamerunischer Historiker und politischer Philosoph. Er zählt zu den Vordenkern des Postkolonialismus. Mbembe lehrt nach Stationen an der Columbia University, der University of California in Berkeley, der Yale University und der Duke University heute an der University of the Witwatersrand in Johannesburg.
Preisträger 2015
Achille Mbembe
Kritik der schwarzen Vernunft
Suhrkamp
Berlin 2014
ISBN: 978-3-518-58614-3
Autor
Begründung der Jury
Der aus Kamerun stammende, in den Vereinigten Staaten ausgebildete, heute in Südafrika lebende Historiker und Philosoph hat mit seiner Kritik der schwarzen Vernunft nicht weniger vorgelegt als eine Neuvermessung der Geschichte des Kapitalismus und der Globalisierung. Seine Hauptthese in diesem kraftvoll geschriebenen Buch lautet, dass die globalen Waren- und Kapitalströme ohne die Etablierung einer Asymmetrie zwischen den Weltteilen nicht möglich gewesen wäre. Diese Asymmetrie freilich wurde nicht abstrakt hergestellt, sondern durch eine „schwarze Vernunft“, durch die Erfindung des Schwarzen, des „Negers“ als einer pejorativen, ja schwarzen Figur, die die Augenhöhe einer Idee der Menschheit in toto unmöglich macht. Mbembe zeigt, dass der Rassismus keine normative Abweichung von der europäischen Aufklärung darstellt, sondern eines ihrer konstitutiven Momente darstellt.
Mehr…
Die Lektüre von Mbembes Buch ist bisweilen verstörend – verstörend in der Konsequenz, die der Autor in seine Argumentation bringt. Es wird dem westlichen Leser mit seinen eigenen Mitteln vorgeführt, wie die konstitutive Hierarchie zwischen dem Schwarzen und dem Menschen das letztlich europäische Konzept des Menschen ad absurdum führt.
Mbembes Hinweise auf die „Afrikanisierung“ unterschiedlicher Weltteile könnte aktueller nicht sein. Das Buch kommt genau zur rechten Zeit: Es schärft den Blick auf eine globalisierte Weltgesellschaft, die nicht nur Waren und Kapital verschiebt, sondern auch Menschen und Arbeitskraft. Vielleicht ist dieser Hinweis auf die „Afrikanisierung“ der Welt auch ein Hinweis an Europa, mit seinen eigenen Versprechungen gegen die eigenen Praktiken ernst zu machen.
Somit gelingt es Achille Mbembe ein Werk vorzulegen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.
…Weniger
Verleihung
Der 36. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 30. November 2015 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an Achille Mbembe verliehen. Oberbürgermeister Dieter Reiter (rechts) und Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde (Foto: Yves Krier). Die Laudatio hielt Prof. Dr. Paul Gilroy (King's Collage London)
Mehr…
Zu Beginn seiner Laudatio stellt Paul Gilroy Achille Mbembes Buchauf eine Stufe mit den Werken von W.E.B. Du Bois "Die Seelen der Schwarzen" und Aimeé Césaire "Zurück ins Land der Geburt"."Ich bin überzeugt," so Paul Gilroy "dass Professor Mbembe ein außerordentliches Werk verfasst hat, das ihn in genau diese Richtung befördert. Sein gehaltreiches und nützliches Buch wird ihm zweifellos viele Gelegenheiten bieten, eine Führungsrolle zu übernehmen. Bereits lange vor seinem Erscheinen in englischer Sprache hat es die an ihn gestellten Erwartungen erhöht, nicht nur für das schwarze Leben in mehreren Teilen der Welt zu sprechen, sondern ihn auch mit der schwierigeren Aufgabe konfrontiert, der schwächer werdenden Solidarität zwischen diesen Orten und Menschen in einer Zeit Ausdruck zu verleihen, in der ihre unterschiedlichen Schicksale – innerhalb und außerhalb der Festungen der Überentwicklung – sich auseinanderzubewegen scheinen. [...] Aber, was am wichtigsten ist heute Abend, die treffenden Worte von Mbembe sind auch an Europa gerichtet worden, wo die Legitimität der Beiträge der Anti-Rassismus-Bewegung zur Verteidigung und Erneuerung der abklingenden Demokratie in der jüngsten Vergangenheit aus verschiedenen Quartieren angegriffen wurde und wo die Figur des Muslim auf katastrophale Weise rassifiziert worden ist, überwacht von einem in Entstehung begriffenen und oft fremdenfeindlichen Sicherheitsapparat."
Paul Gilroy schließt seine Rede mit folgenden Sätzen: "Die bedrückenden Auswirkungen der kolonialen Geschichte Europas wurden nie detaillierter oder katastrophaler auf seine post- und neokoloniale Gegenwart nach dem Kalten Krieg angewandt als heute. Die Nachwirkungen dieser vergangenen Zeit der globalen Vormachtstellung sind noch immer in der zeitgenössischen europäischen Kultur spürbar. Diese abnehmenden Widerhalle sind zum Beispiel im ultra-nationalen und fremdenfeindlichen Rassismus spürbar, der die verschiedenen Ausprägungen des Neo-Faschismus mit Leben erfüllt, die heute so schnell herangezogen werden. Aufgebrachte, wütende Stimmen schreien laut – sind jedoch noch nicht überwältigend – in verschiedenen Sprachen und aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig. Diese Überbleibsel prägen die Art und Weise, wie Diskussionen über Zuwanderung und Flüchtlinge, Sicherheit und Konflikte üblicherweise geführt werden. Diese Gespräche werden noch immer durch die Unterstellung rassischer und kultureller Hierarchie organisiert – die möglicherweise abnimmt oder auch nicht. Das kann sogar der Fall sein, wenn die ungewollten Siedler, die ausgegrenzt, kriminalisiert und überwacht werden sollen, wie einige der letzten Neuankömmlinge in die instabile und löchrige Welt der rassifizierten Identitäten hineingebeten werden können. Niemand kann sich mehr sicher sein, was das belagerte Weißsein Europas heute wert sein mag. Was jedoch für das Weißsein gilt, gilt jetzt auch für alle generischen Spezifikationen der Rassenunterschiede. Es ist die sichtbare Errungenschaft von Achille Mbembe, dass er uns eine willkommene Alternative für sie angeboten und auf die Möglichkeit nicht von alternativen Identitäten, sondern von einer anderen Welt hingewiesen hat, die konkrete Form in der befreienden Vorstellung des Menschseins erhält, die ohne die Einschränkungen definiert werden muss, die sich von allen Rassenschemata ableiten. "
In der Dankesrede von Achille Mbembe heißt es:"Zuerst sei gesagt, – und das darf man nie vergessen – dass der funktionierende Einsatz von Kapital seit jeher von seinen Ursprüngen an auf der Unterscheidung von Rassen fußt. Im Grunde diente Kapital schon immer nicht nur der Herstellung von Waren, der Erleichterung des Handels und der Anhäufung von Gewinnen, sondern auch der Produktion von Rassen, der Definition menschlicher Arten und Unterarten; kurzum: der Ausübung eines Monopols über die Produktion von Leben als solchem. [...]
Ich stamme nicht aus Südafrika. Doch dieses Buch hätte ich nirgendwo sonst schreiben können.
Afrika ist meine Heimat und nirgendwo auf diesem riesenhaften Kontinent fühle ich mich fremd.
Seine Geschichte ist untrennbar mit der der Welt verbunden. Tatsächlich gibt es keinen Fleck auf der Erde, der nicht ein Stück Afrika, Spuren der Afrikaner, in sich trägt. Und zugleich gibt es keinen Fleck in Afrika, der nicht die Last der ganzen Welt, ihr Leid, aber auch ihren Segen verspürt.
Man könnte gar sagen, das Schicksal unseres Planeten entscheide sich in Afrika, dem großen Weltlaboratorium unserer Zeit.
Von Anfang an wollte ich mit Kritik der schwarzen Vernunft diese Realität sichtbar machen und zugleich die Verheißung aufzeigen, dass Afrika wieder zu seinem eigenen Zentrum finde, wieder zu einem großen, lebendigen Lebensraum werde, der allen und jedem offensteht, und mit dem Rest der Welt gleichzuziehen vermöge.
Der Geschwister-Scholl-Preis bestärkt mich in meiner Hoffnung. Afrika muss nun den Blick auf das Neue richten. Es muss zur Tat schreiten, um zum ersten Male etwas bisher Unmögliches zu vollbringen. Und dies muss in dem Bewusstsein geschehen, dass dabei für Afrika und die gesamte Menschheit neue Zeiten anbrechen."
…Weniger
Ansprache von Michael Then
Um es gleich am Anfang klipp und klar zu sagen, in Achille Mbembes Buch „Die Kritik der schwarzen Vernunft“ geht es um nichts weniger als um „Rassen“ und „Rassismus“. Und damit verbunden um den „Neger“. Und um die damit verbundenen Ideen und Ideologien. Nach Georges-Louis Leclerc de Buffons erster Klassifizierung der Rassen von 1749 ist der „Neger“ ein Tier, kein Mensch, böse, hässlich und wollüstig.
Mehr…
Insofern ist die Rückschau Mbembes auf den Sklavenhandel und die damit verbundene Meinung, dass der „Neger“ schlicht „menschliches Erz“ sei, nicht der Kehrseite der Aufklärung, sondern ihr Kern. Der transatlantische Sklavenhandel war schlicht die Wiege des Kapitalismus. Europa, damals, das Zentrum der Welt, entwickelte mit der Aufklärung das Konzept der Rassen. Das Grundprinzip war einfach, aber effektiv: Werte dich und deinesgleichen auf, und damit allen anderen ab und schließe sie aus dem Menschsein aus. Eine unheilvolle Allianz aus Begriffen und Ideen, die es aufgeklärten Menschen möglich machte, mit guten Gewissen von Freiheit zu sprechen und gleichzeitig andere auszubeuten.
Geschichte! - ist man versucht zu sagen, lange her und spätestens seit der „Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte“ 1948, im Besonderen der Artikel 2 und 4, vorbei. Wirklich? Nein, sagt Mbembe, denn auch heute gibt es Neger und der Rassismus ist immer noch eine Triebfeder des globalisierten Kapitalismus.
Nach Aussage des Kameruner Historikers und Politikwissenschaftlers ist unsere Gegenwart durch Globalisierung der Märkte, Privatisierung der Welt, Digitalisierung, eine wachsende Komplexität der Finanzmärkte und „postimperiale militärische Komplexe“ gekennzeichnet. In dieser Ordnung gibt es, so seine These, keine „Arbeitenden als solche“ mehr, sondern „nur noch Arbeitsnomaden“.
Und während „es gestern die Tragödie des Subjekts war, vom Kapital ausgebeutet zu werden, ist es heute die Tragödie der vielen, nicht mehr ausgebeutet werden zu können“. Entstanden sei ein „überflüssige Menschheit“ – die für das Funktionieren des Kapitals unwichtig geworden sei. Dies mag global betrachtet übertrieben erscheinen, angesichts der jungen Flüchtlinge aus Afrika, dem Schweigen der Herrscher afrikanischer Länder und dem Scheitern der Bemühungen aktueller Konferenzen ist Mbembes Buch aktueller denn je, und seine klugen Thesen und beunruhigenden Einsichten gehören ins Stammbuch eines jeden politisch denkenden Menschen.
Wer vom Kapitalismus redet, der kann von Rassismus und Rasse nicht schweigen, denn auch heute im 21. Jahrhundert wirken Kapitalismus und Rassismus zusammen. Aktuell baut Europa wieder Mauern gegen „die aus Afrika“ und gegen alle, die nichts haben.
Überhaupt Afrika? „Mon Amour“ mit Iris Berben oder Franz Fanon und „Die Verdammten dieser Erde“. Nach Mbembes Meinung „ist Afrika der Name eines Kontinents, von dem man immer meinte, nichts universelles könne dort entstehen. Afrikaner waren törichte Kinder. Aber Afrika ist nicht die Vergangenheit der Welt, sondern es ist wie ein Fenster. Von dort aus sieht man die Zukunft“. Insofern ist Mbembes Buch keine schwarz-weiße Täter-Opfer-Geschichte, sondern vielmehr ein Raum für handelnde Subjekte. „An der Frage der Selbstregierung der afrikanischen Staaten entscheidet sich alles“, so der Autor, „denn, wer sich nicht selbst regieren kann, den braucht man nicht anzuhören. Der hat kein Gesicht, der hat keine Worte.“
Damit einher geht die Angst des Autors, dass die ganze Welt schwarz werden könnte, in dem Sinne, dass durch die Knappheit der Mittel, durch extreme Armut die Menschen jeder Selbstbestimmung beraubt sein könnten und nur noch Zwängen folgten oder Phrasen und Versprechungen.
Dem hält er eine Vision entgegen: Eine Menschheit jenseits der Rassen. Ohne Europas Idee der Gleichheit lässt sich die Zukunft nicht denken, auch wenn die Idee auf dem Rücken von Sklaven entwickelt wurde, hat sie gleichzeitig dazu beigetragen die Sklaverei zu überwinden. Europas Gleichheitsgedanke, galt nicht für jeden, auch wenn ihn die ganze Welt hören konnte. Und das liberale Europa hat, um seine Dynamik zu entfalten, immer die Angst als Triebkraft gebraucht; vor den anderen. Das andere war und ist das Wort Neger, denn es bezeichnet keine Farbe, sondern eine Demütigung, die aus einer Sorte Menschen aufgrund der Rasse, eine Ware macht. Es geht immer wieder um Worte, Begriffe, Gedanken und Ideen.
Der Begriff „Neger“ steht heute für Menschen, die restlos ausgebeutet und unterworfen werden dürfen, weil sie als radikal „anders“ verstanden oder phantasiert werden.
„Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!“ Dieser Satz stammt aus den Flugblättern der Geschwister Scholl. Er ist immer noch oder wieder aktuell; angesichts von Krieg, Flucht und Asylsuchenden muss heute jeder für sich nachdenken, was das heute sagt, und wozu das heute verpflichtet – das gilt für uns, die Politik – für uns Alle, gleich welcher Hautfarbe oder Religion. Sehr geehrter Achille Mbembe, wir zeichnen sie heute für Ihre „Kritik der schwarzen Vernunft“ mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2015 aus. Ihr Buch ist Geschichte und Analyse der Gegenwart in einem, Geschichte der Vernunft und Analyse des Fortwirkens ihrer „Nachtseite“, der mit dieser Geschichte untrennbar verbundenen Exklusion und Gewalt.
Ihr großer Essay ist ein Weckruf, für eine bessere Welt, die den afrikanischen Völkern endlich Gerechtigkeit und Zukunft bringen soll. Die Wirklichkeit auf Lampedusa, auf dem Mittelmeer, in Nigeria, in Burundi, Mali, Somalia und bei uns zeigt: Ihr Buch ist nötiger denn je.
Sinn und Ziel des Geschwister-Scholl-Preises ist es, jährlich ein Buch jüngeren Datums auszuzeichnen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.
Ist Achille Mbembes „Die Kritik der schwarzen Vernunft“ ein mutiges Buch?
Ja, denn die Schere zwischen Arm und Reich wird mit jedem Tag größer. Den damit verbundenen Rassismus zu benennen, erfordert Mut, angesichts der Macht des Kapitals und der sog. „Bedrohung Europas“. Das Buch hält uns allen den Spiegel vor, dass Rassismus eine tief ins europäische Denken eingebrannte Art zu Denken ist, getragen von dem „gewaltigen Willen zu Unwissenheit“. Dieses „Nicht wissen wollen“ steckt so tief in uns, dass wir es nicht einmal bemerken. Lediglich das sog. N-Wort nicht mehr zu verwenden reicht nicht aus.
Regt es zum Nachdenken an? Ja, denn wie schnell gebrauchen wir Begriffe, ohne darüber nachzudenken, wie schnell sprechen wir von „wunderbaren Negern“ oder von „Afrika als einem Land“. Darüber hinaus verweist der Essay auf weitere Lektüre, die zum Nachdenken anregt. Bei mir steht auf der Liste Franz Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“ und „Die Verbannten dieser Erde“, Aimé Cesairés Gedichte, die Bücher des Nobelpreisträgers Wole Soyinka, Jenny Erpenbecks aktueller Roman und natürlich die beiden Vorgängerbücher unseres Preisträgers, die leider noch keinen deutschen Verlag gefunden haben: „De la postcolonie“ (2000) und „Sortir de la grande nuit“ (2010), die ganz eng mit der „Critique de la raison negre“ verwoben sind.
Fördert Mbembes Buch die geistige Unabhängigkeit? Was würdest du tun? Diese Frage steht hinter allen Preisträgern und verweist immer wieder auf die Namensgeber des Preises. Darum stellt auch Mbembes Buch die Frage: Was können wir tun, damit Afrikaner Menschen mitten in der Welt sind, nicht am Rande?
Wir können das Buch zu allererst weiterempfehlen, verbunden mit der Hoffnung, dass möglichst viele Menschen dieses Buch lesen werden, gerade weil es unbequeme Gedanken formuliert. Oder wie heißt es in dem Gedicht „Wer meine Gedanken kauft“ des nigerianischen Lyrikers Dennis Chukude Osadebay:
Wer meine Gedanken kauft,
kauft keinen Honigtopf
nach jedermanns Geschmack.
Er kauft das Pochen
Der Seelen von Millionen,
die hungrig nackt und krank
sich sehnen, fordern, warten.
Wer meine Gedanken kauft,
kauft keinen falschen Schein
von Götzen und Orakeln.
Er kauft die Gedanken
Rastloser Jugend
Die zwischen Kulturen
Prüft und fragt und wählt.
Sehr geehrter Achille Mbembe im Namen aller Anwesenden darf ich Ihnen herzlichst zum Geschwister-Scholl-Preis 2015 gratulieren.
© Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V.
Es gilt das gesprochene Wort
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
…Weniger
Ansprache von Dieter Reiter
„Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt.“
Mehr…
Diese drastischen Worte stammen nicht vom heutigen Geschwister-Scholl-Preis-Träger Achille Mbembe, aber doch immerhin von einem Verwandten im Geiste, nämlich dem scharfzüngigen französischen Kolonialismus-Kritiker und Anti-Imperialisten Frantz Fanon, der heuer 90 Jahre alt geworden wäre.
Selbstredend spielt Fanon auch bei Achille Mbembes Streifzügen durch das koloniale Erbe Afrikas eine große Rolle. Gerade in diesen Tagen, in denen Europa - wie lange nicht - mit sich und seiner Verantwortung in der Welt ringt, lohnt sich ein solcher Blick zurück allemal. Und ganz besonders der auf jenen Kontinent, der aus Ländern wie Eritrea, Mali, Nigeria, Gambia und Somalia nicht wenige der Flüchtlinge beisteuert, die derzeit nach Europa strömen, um Krieg, Vertreibung, Armut und Unterdrückung zu entkommen. Europa reagiert darauf leider immer wieder mit Abschottung und Abschreckung. Und das, obwohl die Verzweiflung der Menschen so groß ist, dass sie sich offenen Auges in die Hände von skrupellosen Schleppern begeben, nur um irgendwie hierher zu gelangen. So ist das Mittelmeer zum Massengrab geworden für Tausende ertrunkener Flüchtlinge – zum Großteil Afrikaner.
Aber natürlich gibt es auch noch die anderen, die es geschafft haben ins vermeintlich gelobte Land. Die vielen, die unsere Kapazitäten an Mitgefühl und Hilfsbereitschaft, wie man uns weismachen will, schon bald überfordern werden. Diejenigen, so könnte man mit etwas Fantasie aus Achille Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“ zitieren, „denen das Recht auf Rechte verwehrt bleibt; von denen man meint, sie sollten sich nicht rühren; die zu einem Leben in Einschließungsstrukturen der unterschiedlichsten Art verdammt sind – in den Lagern und Durchgangslagern […] die Vertriebenen, die Deportierten, die Ausgestoßenen, die illegalen Ausländer jeglicher Art – diese Eindringlinge und aus unserer Menschheit Zurückgewiesenen, die wir eilig loswerden wollen, weil wir glauben, dass es zwischen ihnen und uns nichts gibt, was sich zu retten lohnte, da sie für unser Leben, unsere Gesundheit und unser Wohlergehen zutiefst schädlich seien.“
Doch Achille Mbembe belässt es nicht bei Diagnose und Anklage, sondern fordert Konsequenzen und fordert dazu auf, radikal umzudenken. Und Antworten zu finden auf die Hauptfragen unserer Zeit, die Frage der Teilung, der Gemeinsamkeit und der Öffnung nach draußen. Das Gewicht der Geschichte sei nun mal da, so Mbembe, und wir müssten lernen, es besser zu tragen und die Last besser zu verteilen. Wem das als ethischer Appell noch zu vage ist, dem präsentiert Achille Mbembe am Ende seiner kämpferischen Abhandlung eine durchaus greifbare Rechnung für unseren Aufstieg auf Kosten der anderen. Und auf der stehen Reparationen, Wiedergutmachung und Entschädigung – im ökonomischen Sinn, versteht sich, und das dürfte weit mehr sein als der übersichtliche Entwicklungshilfe- Beitrag, den ein Land wie Deutschland gegenwärtig bereit ist zu leisten.
Solche Worte mögen nicht jedem gefallen, eines aber tun sie: sie zeugen von geistiger Unabhängigkeit, fördern die bürgerliche Freiheit, den moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut und geben dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse. Anders gesagt, sie qualifizieren bestens für den Geschwister- Scholl-Preis, den der Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und die Landeshauptstadt München heuer zum 36. Mal vergeben.
Mit dem kamerunischen Historiker und politischen Philosophen Achille Mbembe und seinem Buch „Kritik der schwarzen Vernunft“ rücken dabei heuer erstmals der afrikanische Kontinent und die Folgen des europäischen Kolonialismus in den Fokus des Preises.
Dabei geht es um die Verbindung von Sklavenhandel und Ausbeutung auf der einen mit dem Aufstieg des Kapitalismus auf der anderen Seite, es geht um die Verbindung von Kolonialismus und Rassismus und es geht um unsere globalisierte Welt.
Gerade jetzt in der Flüchtlingskrise gewinnt dieses Thema eine ganz neue Dimension. So ging es den Europäern beim jüngsten Gipfeltreffen von EU und Afrika in Malta im Kern ja genau darum, sich durch Geldzahlungen die Bereitschaft der afrikanischen Staaten zu sichern, ihre Bürgerinnen und Bürger durch geeignete Maßnahmen im eigenen Land zu halten. Ob der sogenannte Notfall-Treuhandfonds der EU für Afrika, der mit 1,8 Mrd. € ausgestattet ist, allerdings tatsächlich dazu geeignet ist, „für Stabilität und zur Bewältigung der grundlegenden Ursachen illegaler Migration in Afrika“ zu sorgen, wie es dort heißt, darf bezweifelt werden. Die Hilfsorganisation Oxfam etwa beziffert allein die Afrika pro Jahr durch Steuervermeidungsgeschäfte europäischer Konzerne entgehende Summe auf rund 50 Mrd. €. Womit wir wieder bei Achille Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“ und seiner Rechnung wären. Was einmal mehr die Aktualität und Brisanz seines Buches unterstreicht. Seite 6 In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen, sehr geehrter Achille Mbembe, ganz herzlich zur Verleihung des Geschwister- Scholl-Preises 2015!
© Dieter Reiter, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
…Weniger
Laudatio von Paul Gilroy
W.E.B Du Bois, der führende schwarze Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, kehrte 1894 in die Vereinigten Staaten zurück. Seine Zeit als Student in Deutschland hatte ihn verändert und er veröffentlichte ein Buch, “Die Seelen der Schwarzen”, das ihn schnell zum Anführer seiner Leute machte. Literarische und politische Zufälle dieser Art gibt es selten. In seinem Fall war seine Führungsrolle jedoch nicht etwas, das er angestrebt oder erwartet hatte.
Mehr…
Sein 1903 veröffentlichtes Buch jedoch, in dem er der grundlegenden Frage nachging, “Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?” und in dem er sich von einer akuten, historischen Gewissheit leiten ließ, wo die “Farblinie” zu einem grundlegenden Thema der politischen Kultur im 20. Jahrhundert werden würde, führte den jungen Gelehrten jedoch unaufhaltsam in Richtung dieses Schicksals. Es ist immer noch ein Buch, das wir heute lesen, ein grundlegendes Werk in jeder Dissidentensammlung, zu der Achille Mbembe auch so einen bemerkenswerten Beitrag geleistet hat. Einige Jahre später gab es mit der Veröffentlichung von Aimée Césaires “Zurück ins Land der Geburt”, ein weiterer Text mit einer komplizierten Veröffentlichungsgeschichte, ein zweites relevantes Beispiel für eine ähnliche kulturelle und politische Dynamik. Ich bin überzeugt, dass Professor Mbembe ein außerordentliches Werk verfasst hat, das ihn in genau diese Richtung befördert. Sein gehaltreiches und nützliches Buch wird ihm zweifellos viele Gelegenheiten bieten, eine Führungsrolle zu übernehmen. Bereits lange vor seinem Erscheinen in englischer Sprache hat es die an ihn gestellten Erwartungen erhöht, nicht nur für das schwarze Leben in mehreren Teilen der Welt zu sprechen, sondern ihn auch mit der schwierigeren Aufgabe konfrontiert, der schwächer werdenden Solidarität zwischen diesen Orten und Menschen in einer Zeit Ausdruck zu verleihen, in der ihre unterschiedlichen Schicksale – innerhalb und außerhalb der Festungen der Überentwicklung – sich auseinanderzubewegen scheinen.
Es ist nicht lange her, dass Hans-Georg Gadamer als erster eine neue Rolle für Intellektuelle definierte, die über ihre moderne Aufgabe als Gesetzgeber hinausging. Er schlug vor, dass sie verantwortungsvoll auf ihr modernes Dilemma reagieren könnten, indem sie sich spezielle Kenntnisse in der kulturellen Übersetzung aneigneten. Sie könnten Dolmetscher werden, die in der Lage sind, sich zwischen mehreren, gegensätzlichen Welten zu bewegen. Mbembes Beispiel ist ein Fall dieser beruflichen Neuorientierung, obwohl sie in einer komplett anderen politischen Geographie stattfindet als diejenige, die Gadamer vor Augen hatte, und sie funktioniert in einem erweiterten Maßstab, den er und seine verschiedenen Gesprächspartner nicht hätten antizipieren können. Hier ist Afrika omnipräsent, auch wenn es zunehmend vielfältiger wird.
Bevor ich detaillierter auf die Argumente in Mbembes Text eingehe, möchte ich der historischen Bildung des herausragenden Autors Anerkennung zollen und sie einordnen. Die Bilanz seiner akademischen Errungenschaften und seine früheren herausragenden und einflussreichen Publikationen müssen am heutigen Abend sicher nicht im Detail wiedergegeben werden. Stattdessen erscheint es mir unbedingt geboten, das Ausmaß genau der Entfremdung zu betonen, die er so auffallend zu einem interpretativen Vorteil gemacht hat. In seinem Fall war diese Entfremdung sowohl prägend als auch wiederholt. Er wurde zunächst eines Internats verwiesen, was einen negativen Eindruck auf seiner Vorstellungskraft hinterlassen hat. Er zog von Kamerun nach Frankreich, wo er 1989 seinen Doktortitel erhielt. Er besuchte die Eliteuniversitäten in den Vereinigten Staaten, von denen aus er seinen Weg über Senegal nach Südafrika fand. Dort, inmitten schwieriger beruflicher und politischer Umstände für einen Ausländer mit Aufenthaltsgenehmigung, richtete er sich ein neues Zuhause und ein neues Leben ein. Von Südafrika aus hat er begonnen, die ganze Welt in einem zunehmend unverwechselbaren Tonfall anzusprechen. Er hallt wider von dem umkämpften, ausdrücklich südlichen Dilemma, von dem aus er seine unnachahmlichen Worte der Weisheit an uns richtet.
Diese mutigen Diskussionsbeiträge haben eine Reihe von unverwechselbaren Botschaften. Sie sind auf die unmittelbaren Schwierigkeiten übertragen worden, die in diesem mit Problemen belasteten Heimatland seiner Wahl sichtbar sind, das, dank dem Kampf gegen die Apartheid, so lang ein moralisches Zentrum der Weltpolitik war. Sie sind vorausblickend im Namen des afrikanischen Kontinents gesprochen worden, der einmal wieder ein Objekt verstärkter geopolitischer Interessen ist. Sie sind höflich und respektvoll als Korrektiv für provinzielle Debatten angeboten worden, die ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten nahmen, die noch immer viele ihrer Codes und Gewohnheiten in puncto Rasse mit beklagenswerten Ergebnissen in die übrige Welt exportieren. Aber, was am wichtigsten ist heute Abend, die treffenden Worte von Mbembe sind auch an Europa gerichtet worden, wo die Legitimität der Beiträge der Anti-Rassismus-Bewegung zur Verteidigung und Erneuerung der abklingenden Demokratie in der jüngsten Vergangenheit aus verschiedenen Quartieren angegriffen wurde und wo die Figur des Muslim auf katastrophale Weise rassifiziert worden ist, überwacht von einem in Entstehung begriffenen und oft fremdenfeindlichen Sicherheitsapparat.
Die Heimatlosigkeit oder das Umherziehen, die das intellektuelle und politische Projekt von Mbembe geprägt haben, werden in seinem Buch nicht näher benannt, bieten aber dennoch die Voraussetzungen, die es überhaupt erst möglich gemacht haben. Dieser Text zeugt von einer kosmopolitischen, oder, um es präziser auszudrücken, einer planetaren Perspektive, die neue Universalien beschwört und uns einlädt, uns fantasievoll mit der Entstehung neuer Welten auseinanderzusetzen, in denen das Schema von Rassen und Körpern nicht mehr das ist, was es war und in dem der schwierigen, oft unmöglich erscheinenden, reparativen Aufgabe nachgegangen werden kann, die Auswirkungen der Rassenordnung aufzuarbeiten.
Die Sophisterei und Mystifikation, die einen so großen Teil der Ausdünstungen des postkolonialen Diskurses, der von nordamerikanischen Universitäten ausging, geprägt hat, finden bei Professor Mbembe keinen Anklang. Stattdessen hat ein ständiger Fluss von philosophisch fundierten Erkenntnissen, die strategisch an der Schnittstelle zwischen den anglophonen und frankophonen Kulturen vorgebracht wurden, die Bandbreite seiner Interessen enthüllt, während seine multi-disziplinäre Perspektive dem weitläufigen öffentlichen Bereich Afrikas eine einzigartige, entschiedene Stimme verliehen hat, die im Rahmen des unmittelbaren Gebots der Fürsprache genauso angenehm ist wie im Rahmen der Dekonstruktion und Kritik an der Metaphysik weißer Vorherrschaft.
Mbembes Buch widersetzt sich der einheitlichen Perspektive einer Ära, die sich zunehmend historisch selbst über die Idee versteht, dass das Ausüben von Kritik überflüssig geworden ist, und versucht, die Bedeutung des Denkens in puncto Rassen und in puncto der Gewohnheiten von Rassen bei der Entstehung Europas und der Eroberung des gesamtamerikanischen Kontinents sowie bei der blutigen Unterwerfung Afrikas zu erklären. Sein historischer Teil ist die Geschichte eines Philosophen, der seiner reichhaltigen Synthese eine begleitende Skizze der Genealogie schwarzer Überlegungen über die Stationen der Sklavenbaracken und Sklavenschiffe, über zahllose Rebellionen und Aufstände zur leidigen Phase der Dekolonialisierung und dann über sie hinaus zu unseren eigenen traurigen Umständen, die von Neokolonialisierung und scheinbar endloser asymmetrischer Kriegsführung geprägt sind, entgegensetzt.
Aus dieser Perspektive sind die vielen Probleme, die durch die Institutionalisierung von Rassehierarchien und die verschiedenen theoretischen und philosophischen Diskurse entstanden sind, die sie gerechtfertigt haben, keine sekundären Themen. Sie sind keine dekorativen oder nachträglich aufgesetzten Zusätze, die den globalen Mechanismus der kapitalistischen Ausbeutung und des unstillbaren Wachstums lediglich ausgestalten. Mbembe schlägt vor, dass diese Probleme als konstitutive Kräfte anerkannt werden müssen, die unsere Welt immer noch prägen und ausmachen. Obwohl die Rassenlehre gemeinsam mit regierungspolitischen, rechtlichen, ästhetischen, wissenschaftlichen und militärischen Prozessen geäußert worden ist und in dem gordischen Knoten der Moderne verstrickt ist, haben sie ihre eigene Geschichte und Geschichtlichkeit, die – und das ist der wichtigste Punkt – wir alle heute kennen müssen.
Im Rahmen dieser kühnen Provokation kehrt Mbembe implizit zur anspruchsvollen Definition der “Black Studies” zurück, die unserer Zeit von dem trinbagonischen Universalgelehrten CLR James hinterlassen wurde, der in der anglophonen Welt zumindest als eine oberlehrerhafte Figur funktioniert – eine Art schwarzer Plato. James bestand darauf, dass es unerlässlich sei zu vermeiden, “über Black Studies zu sprechen, als seien sie etwas, das [nur] Schwarze betrifft”. Dieses Ergebnis, fuhr er fort, wäre “eine absolute Verleugnung”. Er kommt zu dem Schluss: “Es handelt sich um die Geschichte der westlichen Zivilisation. Ich kann es nicht anders betrachten. Es handelt sich um die Geschichte, die Schwarze und Weiße und alle ernsthaften Studenten der modernen Geschichte und der Geschichte der Welt kennen müssen. Zu sagen, es handele sich um eine Art ethnisches Problem, ist jede Menge Unsinn.”
Achille Mbembe ergänzt die alte humanistische Weisheit von James mit einem aktuellen Bekenntnis. Er bietet uns ein neues konzeptuelles Vokabular, das jenseits der abgenutzten Rhetorik funktioniert, die die Literatur der Dekolonialisierung in ihrer Anfangsphase und während des Kalten Kriegs gekennzeichnet hat. Dieser notwendige zusätzliche Schritt verfährt durch eine Entmythologisierung des Weißseins und zielt darauf ab, wie es der herausragende Analytiker der Dekolonialisierung, Frantz Fanon, vorschlägt, unser Leben als Spezies zu retten, als Wiederaufnahme der Menschlichkeit angesichts ihres Verlusts durch die Arbeitsweise jeder und aller Rassenordungen.
Die Verbindung zu Dr. Fanon und seinem Archiv geht tief. Ein wichtiger Teil von Mbembes Strategie besteht darin, die gigantische Figur des ungeduldigen, revolutionären Psychiaters aus Martinique, der zu lange falsch gedeutet, diskreditiert und übersehen worden ist, im französischen Gemeinwesen und im französischen intellektuellen Leben wiederherzustellen. Der existenzielle Beigeschmack des Jugendwerks von Fanon entspricht vielleicht nicht dem Geschmack von Mbembe, aber er teilt die Ethik der verkörperten Neugier und das Bekenntnis zur kreativen Erfindung eines “neuen Humanismus” des älteren Manns. Dieses Gefüge kann nur außerhalb der epidermalisierten Interaktion und in starkem Kontrast zur entfremdenden Kraft des Schemas von Rasse und Körper existieren, das noch von einer wirklichen Dialektik zwischen dem Körper und der Welt überholt werden muss.
Diese Hoffnungen hören sich in unserem politischen Umfeld utopisch an, das derzeit von Ausbeutung und Verschuldung geprägt ist, von sowohl schneller als auch langsamer Gewalt, die nicht so sehr postkolonialer, sondern neokolonialer und neoliberaler Natur ist. Diese Unstimmigkeit hat Achille Mbembe jedoch nicht entmutigt. Er bleibt entschlossen, die schwierigsten Fragen zu den Auswirkungen dieses sich beschleunigenden Wandels des vernetzten Nomos auf unserem kränkelnden Planeten zu stellen. Die deutliche Auseinandersetzung seines Buchs mit der Wiederherstellung und Erweiterung der Demokratie, die überall durch ihre Trennung vom Kapitalismus gefährdet wird, ist umso wichtiger, da sie vom globalen Süden ausgeht, in Richtung dessen sich die Symptomatik der Überentwicklung hinzuentwickeln scheint. Dieses Zusammentreffen ist nicht so düster wie es anfangs erscheint. Was diese organische und langwierige Krise zu einer bedeutenden Chance macht, ist das beispiellose Bekenntnis Mbembes zur geduldigen Arbeit der Bildung und den Versprechen einer neuen Art des Lernens und der Entwicklung, das so gestaltet ist, dass ein neuer Satz institutioneller Gewohnheiten gefördert wird, durch den die Universität selbst erneuert werden könnte. Diese hoffnungsvollen Spekulationen sind wiederum durch die nachhaltige Kritik am Rassismus und an Rassenordungen erlaubt. Es ist diese kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die die befreiende Chance ermöglicht, heute gemäß neuen Bedingungen und in einer neuen Zeit zu leben, also mit Blick auf eine gemeinsame Zukunft. Der Prozess, der vor sechzig Jahren zu Fanons verlockend unterentwickelter Idee der Auflösung der Entfremdung verdichtet wurde, wird hier in ein umfassendes Programm der bodenständigen Pädagogik aufgeschlüsselt, für den dieses Buch als Manifest dienen kann.
Die bedrückenden Auswirkungen der kolonialen Geschichte Europas wurden nie detaillierter oder katastrophaler auf seine post- und neokoloniale Gegenwart nach dem Kalten Krieg angewandt als heute. Die Nachwirkungen dieser vergangenen Zeit der globalen Vormachtstellung sind noch immer in der zeitgenössischen europäischen Kultur spürbar. Diese abnehmenden Widerhalle sind zum Beispiel im ultra-nationalen und fremdenfeindlichen Rassismus spürbar, der die verschiedenen Ausprägungen des Neo-Faschismus mit Leben erfüllt, die heute so schnell herangezogen werden. Aufgebrachte, wütende Stimmen schreien laut – sind jedoch noch nicht überwältigend – in verschiedenen Sprachen und aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig. Diese Überbleibsel prägen die Art und Weise, wie Diskussionen über Zuwanderung und Flüchtlinge, Sicherheit und Konflikte üblicherweise geführt werden. Diese Gespräche werden noch immer durch die Unterstellung rassischer und kultureller Hierarchie organisiert – die möglicherweise abnimmt oder auch nicht. Das kann sogar der Fall sein, wenn die ungewollten Siedler, die ausgegrenzt, kriminalisiert und überwacht werden sollen, wie einige der letzten Neuankömmlinge in die instabile und löchrige Welt der rassifizierten Identitäten hineingebeten werden können. Niemand kann sich mehr sicher sein, was das belagerte Weißsein Europas heute wert sein mag. Was jedoch für das Weißsein gilt, gilt jetzt auch für alle generischen Spezifikationen der Rassenunterschiede. Es ist die sichtbare Errungenschaft von Achille Mbembe, dass er uns eine willkommene Alternative für sie angeboten und auf die Möglichkeit nicht von alternativen Identitäten, sondern von einer anderen Welt hingewiesen hat, die konkrete Form in der befreienden Vorstellung des Menschseins erhält, die ohne die Einschränkungen definiert werden muss, die sich von allen Rassenschemata ableiten.
Professor Mbembe, wir gratulieren Ihnen zu Ihrer Weitsicht und Ihrem Mut. Wir würdigen die wissenschaftlichen Früchte Ihrer Kreativität und danken Ihnen für ein außergewöhnliches Buch.
Übersetzung aus dem Englischen von Martina Sohn
© Prof. Paul Gilroy, Kings Collage London
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
…Weniger
Laudatio von Paul Gilroy (englisch)
W.E.B. Du Bois, the twentieth century’s leading black intellectual, returned home to the United States in 1894. Transformed by his experiences as a postgraduate student in Germany, he published a book, The Souls of Black Folk, that swiftly made him a leader of his people. Literary and political contingencies of that kind are rare. In his case, the role of leadership was not something he had sought or a position that he had anticipated.
Mehr…
However, his 1903 book, guided by its founding question “how does it feel to be a problem?” and an acute, historical grasp of where “the color line” would become a fundamental issue of twentieth-century political culture, propelled the young savant irresistibly towards that fate. It is still a book that we read today, a foundational volume in the dissident library to which Achille Mbembe has also made such a notable contribution. Some years later, the publication of Aimée Césaire’s Notebook of A Return to the Native Land, another text with a complicated publishing history, provided a second relevant example of similar cultural and political dynamics. It is my belief that Professor Mbembe has penned an extraordinary volume that is moving him in exactly these directions. His rich and useful book will doubtless furnish him with many opportunities to lead. Long before its appearance in the English tongue, it has already increased the burdens upon him not only in speaking for black life in several parts of the world but also in the more difficult task of expressing the attenuated solidarity between those locations and populations at a time when their differing fates--inside and outside the fortifications of overdevelopment--appear to be divergent.
It’s not long since Hans-Georg Gadamer took the lead in defining a new role for intellectuals beyond their modern mission as legislators. He suggested that they could respond responsibly to their contemporary predicament by developing special expertise in cultural translation. They could become, in effect, interpreters capable of moving between plural, contrasting worlds. Mbembe’s example provides an instance of that vocational reorientation though it operates in a very different political geography than the one Gadamer had in mind and on an expanded scale that he and his various interlocutors could not have been expected to anticipate. Here, even as it becomes a multiplicity, Africa is omnipresent.
Before I comment in greater detail on the arguments in Mbembe’s text, I should acknowledge and discuss the historical formation of its distinguished author. His record of scholarly achievements and his previous outstanding and influential publications need not be resumed in detail on this occasion. Instead, it seems essential to stress the extent of the very alienation he has managed so conspicuously to turn into an interpretative asset. In his case, that estrangement has been both formative and repeated. He was displaced initially from the seminary which has left its negative imprint upon his imagination. Then he moved away from Cameroon to France where he obtained his doctoral degree in 1989. He traversed the elite campuses of the USA whence he found his way via Senegal to South Africa. There, amidst difficult professional and political circumstances for an alien resident, he has made a new home and a new life. From that place he has begun to address the whole world in an increasingly distinctive tone of voice. It resounds with the embattled, emphatically southern predicament from which his inimitable shards of wisdom are directed.
Those bold interventions carry a range of distinctive messages. They have been addressed to the immediate difficulties evident in his troubled, adoptive homeland which was, thanks to the struggle against Apartheid, for so long a moral centre of global politics. They have been spoken prospectively on behalf of the continent of Africa which is once again an object of intensified geopolitical interest. They have been offered politely and respectfully as a corrective to provincial debates emanating from the United States which still exports many of its racial codes and habits to the rest of the world with woeful results. Most importantly for us this evening, Mbembe’s pointed words have also been directed towards Europe where the legitimacy of anti-racism’s contributions to the defence and the renewal of ebbing democracy have lately come under attack from several different quarters and where the figure of the Muslim has emerged catastrophically in a racialized form, under the eye of a burgeoning often xenophobic securitocracy.
The homelessness or itinerancy that has guided Mbembe’s intellectual and political project is not enumerated in his book but supplies its enabling premises nonetheless. This text bespeaks a cosmopolitan or to put it more precisely, a planetary outlook which summons new universals and invites us to engage imaginatively with the epiphany of new worlds in which the racial-corporeal schema is no longer what it was and the difficult, often impossible-seeming, reparative task of working through the effects of the racial order can proceed.
The sophistry and mystification that have characterized so much of the effluvia of postcolonial commentary transmitted from north American universities clearly hold no appeal for Professor Mbembe. Instead, a consistent flow of philosophically-informed insights delivered strategically at the interface of Anglophone and Francophone cultures has revealed the breadth of his interests while his multi-disciplinary perspective has offered to Africa’s expansive public sphere a unique, authoritative voice as comfortable under the immediate imperatives of advocacy as it is with the deconstruction and critique of the metaphysics of white supremacy.
Refusing the standard orientation of an era that increasingly understands itself historically through the idea that the practice of critique has become redundant, Mbembe’s book seeks to account for and represent the significance of race-thinking and racial habits in the making of Europe and the conquest of the Americas as well as in Africa’s bloody subordination. Its historical component is a philosophers’ history that counterpoints his rich synthesis with an accompanying sketch of the genealogy of black thought on its travels from the barracoons and the slave ships, through countless rebellions and insurgencies into the vexed phase of decolonization and then beyond it into our own bleak circumstances characterized by neocolonization and apparently endless, asymmetrical warfare.
From this perspective, the manifold problems created by the institutionalization of racial hierarchy and the various theoretical and philosophical discourses that have warranted it are not secondary issues. They are not decorative or superstructural additions that merely embellish the global machinery of capitalist expropriation and insatiable growth. Those problems must, he suggests, be recognized as constitutive forces that are still shaping and making the world. Though raciology has been articulated together with governmental, legal, aesthetic, scientific and military processes in modernity’s gordian knot, they have their own history and historicity which—and this is the most important point—we are all now obliged to know.
In that bold provocation, Mbembe returns implicitly to the challenging definition of black studies bequeathed to our time by the Trinidadian polymath CLR James who functions in the Anglophone world at least as a headmasterly figure—a kind of black Plato. James insisted that it was essential to avoid talking “about black studies as if it’s something that [only] concerned black people”. That outcome, he continued would be “an utter denial.” He concludes: “This is the history of Western Civilization. I can’t see it otherwise. This is the history that black people and white people and all serious students of modern history and the history of the world have to know. To say it’s some kind of ethnic problem is a lot of nonsense.”
To James’ old humanist wisdom Achille Mbembe adds a timely commitment. He affords us a new conceptual vocabulary operating beyond the worn out rhetoric that defined the literature of decolonization in its emergent and Cold War phases. That necessary additional step proceeds through a demythologization of whiteness and it is aimed, as decolonization’s most distinguished analyst, Frantz Fanon suggested that it should be, at a salvaging of our species-life, a resumption of humanity in the face of its loss in the workings any and all racial orders.
The connection to Dr. Fanon and his archive is a deep one. An important part of Mbembe’s strategy has been to restore to the French polity and to French intellectual life the titanic figure of the impatient, revolutionary psychiatrist from Martinique who has been misread, discredited and overlooked for too long. The existential flavours of Fanon’s juvenilia may not to be to Mbembe’s taste but he clearly shares the older man’s ethic of embodied curiosity as well as his commitment to the creative invention of a “new humanism”. That assemblage can only exist outside of epidermalised interaction and in stern opposition to the alienating force of the racial-corporal schema which waits to be surpassed by a real dialectic between the body and the world.
Those hopes sound utopian in our political environment dominated as it is by extractivism and indebtedness, by violence both fast and slow and not so much postcolonial as neo-colonial and neo-liberal. However, that dissonance has not discouraged Achille Mbembe. He remains determined to ask the most difficult questions about the impact of this accelerating transformation on the networked nomos of our ailing planet. His book’s explicit engagement with the restoration and expansion of democracy jeopardized everywhere by its divorce from capitalism, is all the more important because it is being delivered from the global South towards which the pathologies of overdevelopment might seem to be evolving. That confluence is not as bleak as it might at first appear to be. What makes this organic and protracted crisis into an important opportunity is Mbembe’s exemplary commitment to the patient labour involved in education and the promise of new kinds of learning and development conducted so as to foster a novel set of institutional habits from which the university might itself be revitalised. These hopeful speculations are licensed in turn by the sustained critique of racism and racial orders. It is that critical encounter with the past which will enable the liberating possibility of living now on new terms and in a new time, that is, with reference to a common future. The process compressed sixty years ago into Fanon’s tantalizingly underdeveloped idea of disalienation is being unpacked here into an extensive programme of vernacular pedagogy for which this book might serve as a manifesto.
The dismal effects of Europe’s colonial history have never been more deeply or disastrously inscribed on its post-cold war, post- and neo-colonial present than they are today. The aftershocks from that departed period of global pre-eminence are still being registered in contemporary European culture. Those decaying reverberations are, for example, palpable in the ultra-nationalism and xenological racism that animate the various manifestations of neo-fascism which are so close at hand these days. Resentful, angry voices are shouting loudly—though not yet overwhelmingly— in different languages and from several directions simultaneously. These residues condition the ways in which discussions of immigration and refugees, security and conflict are routinely thematised. Those exchanges are still organized by the assumptions of racial and cultural hierarchy—which may or may not be in retreat. This can be true even if the unwanted settlers who are to be excluded, criminalised and surveilled, can, like some of the recent arrivals, be ushered inside the unstable, porous world of racialised identities. Nobody can be certain any longer what Europe’s beleaguered whiteness might now be worth. However, what goes for whiteness now holds true for all generic specifications of racial difference. Achille Mbembe’s conspicuous achievement has been to offer us a welcome alternative to them and to highlight the possibility not of alternative identities but of another world made concrete in the liberating conceptions of being human that are to be defined without the restrictions that derive from all racial schemata.
Professor Mbembe, we commend your vision and your boldness. We savour the scholarly fruits of your creativity and thank you for your extraordinary book.
© Prof. Paul Gilroy, Kings Collage London
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
…Weniger
Dankesrede von Achille Mbembe
Lassen Sie mich Ihnen allen sagen, wie sehr ich mich freue, heute hier in München, dieser wunderbaren Stadt, und besonders in ihrer Universität sein zu dürfen. Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Präsident der LMU, zunächst möchte ich Ihnen für Ihren warmherzigen Empfang danken. Ihre Anwesenheit hier und heute ehrt mich zutiefst.
Mein besonderer Dank gilt zudem der Jury des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, die mich in den großen Kreis hochrangiger Dichter und Denker, die vor mir den Geschwister-Scholl-Preis erhalten haben, aufgenommen hat.
Mehr…
Auch all‘ den deutschen Institutionen, die ihren Beitrag zu heutigem feierlichen Anlass geleistet haben, sowie dem Suhrkamp-Verlag und dem Übersetzer meines Werkes möchte ich aufrichtigst danken.
Meine Ehefrau, Professor Sarah Nuttall, der ich so viel verdanke, ist am heutigen Tage an meiner Seite. Wie diejenigen von Ihnen, die einen Blick hinein geworfen haben, wissen, habe ich Kritik der schwarzen Vernunft“ ihr gewidmet. Es gibt keine Worte, um zu beschreiben, wie hoch ich in ihrer Schuld stehe – eine unendliche, vielartige Schuld, die ich in meinem Leben nicht mehr begleichen können werde.
Erlauben Sie mir darüber hinaus, ein Wort an Paul Gilroy und Vron Ware zu richten.
Ich trage Paul und seine Familie in meinem Herzen wie ein kostbares Geschenk. Inmitten des Chaos‘ unserer Zeit und vor dem Hintergrund der Geschichte von Menschen mit afrikanischen Wurzeln in der Welt war und ist Paul vielen von uns immer eine unerschöpfliche Inspirationsquelle, ein Grund zur Hoffnung und zur Freude.
Auf das Buch, das heute geehrt wird, möchte ich nur in einigen wenigen Worten eingehen, dies aber ganz im Geiste von Hans und Sophie Scholl.
Zuerst sei gesagt, – und das darf man nie vergessen – dass der funktionierende Einsatz von Kapital seit jeher von seinen Ursprüngen an auf der Unterscheidung von Rassen fußt. Im Grunde diente Kapital schon immer nicht nur der Herstellung von Waren, der Erleichterung des Handels und der Anhäufung von Gewinnen, sondern auch der Produktion von Rassen, der Definition menschlicher Arten und Unterarten; kurzum: der Ausübung eines Monopols über die Produktion von Leben als solchem.
Besonders der Kapitalismus zielte stets darauf ab, den Menschen zu einem austauschbaren Gut zu machen sowie die Grenzen zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Dinge auszuradieren. Dies gilt für den atlantischen Sklavenhandel im 16. und dem 19. Jahrhundert. Der „Prozess der Zivilisation“ hat diese Ansätze mehr schlecht als recht abgeschwächt und – mit unterschiedlich großem Erfolg – gewisse fundamentale Grenzen zwischen Menschen und Dingen aufrechterhalten, ohne die die Menschheit schlichtweg nicht existieren würde.
Im Zeitalter des Neoliberalismus brechen diese Dämme einer nach dem anderen, während zeitgleich die Verschmelzung von Kapitalismus und Animismus voranschreitet. Es ist beispielsweise nicht mehr sicher, dass ein Subjekt kein Objekt ist. Es ist nicht mehr sicher, dass nicht alles arithmetisch berechnet, verkauft und gekauft werden kann. Es ist nicht mehr sicher, dass es Werte gibt, die keinen Preis haben.
Darüber hinaus stellt das Buch die These auf, dass die systemischen Risiken und Gefahren, denen zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert ausschließlich die schwarzen Sklaven ausgesetzt waren, künftig wenn nicht die Norm, dann doch zumindest das Schicksal aller untergeordneten Menschengruppen sein wird, unabhängig von Lebensraum, Hautfarbe oder Regierungssystem.
Es macht sich daher eine „tendenzielle Universalisierung der conditio nigra“ bemerkbar. Sie ist womöglich einer der prägendsten Faktoren unserer Zeit.
Diese Universalisierung der conditio nigra geht einher mit der Entstehung bislang unbekannter imperialer Praktiken, einer Rebalkanisierung der Welt und einer zunehmenden Einteilung in Zonen. Damit werden im Grunde neue menschliche Unterarten geschaffen, die dem Vergessen, der Gleichgültigkeit, wenn nicht gar der Vernichtung geweiht sind.
Gleichzeitig werden Prozessoren sowie biologische und künstliche Organismen zum natürlichen Milieu der Wirtschaft.
In dieser Welt verschmilzt menschliche Denkarbeit mit automatischen Berechnungen, ermöglichen Instrumente Eingriffe in immer kleineren, feineren Dimensionen.
Unter diesen Bedingungen besteht Rassismus nicht mehr unbedingt in der sozialen Unterwerfung oder in der Schaffung eines Ausbeutungsobjekts, das dem Willen seines Herren gänzlich ausgeliefert ist und aus dem maximaler Nutzen gezogen werden soll.
Der Neger von heute ist nicht mehr nur ein Mensch mit afrikanischen Wurzeln, dessen äußere Erscheinung durch die glühende Sonne, die Farbe seiner Haut geprägt ist.
Der Neger von heute ist eine untergeordnete Kategorie der Menschheit, ein überflüssiger, fast im Übermaß vorhandener Teil, der für das Kapital kaum einen Nutzen darstellt und einem Randgruppendasein und dem Ausschluss aus der Gesellschaft geweiht ist.
Derzeit entsteht eine neue conditio humana. Die Menschheit beginnt, die große Unterteilung in Mensch, Tier und Maschine, die die Moderne und den Humanismus so stark geprägt hat, hinter sich zu lassen.
Gestern noch machte Rassismus soziale Unterschiede salonfähig und sorgte dafür, dass unerwünschte Personengruppen in einen Rahmen gezwängt wurden, aus dem sie von Rechts wegen oder gar durch Anwendung von Gewalt nicht zu entkommen vermochten.
Heute entstehen neue Formen von Rassismus, die ohne den Rückgriff auf biologische Gegebenheiten Legitimierung finden. Dem Rassismus von heute genügt beispielsweise die Forderung, die Grenzen zu schließen, Jagd auf Ausländer zu machen oder Flüchtlinge in ihre Heimat zurückzuschicken. Dem Rassismus von heute genügt es, auf die Unvereinbarkeit der „Zivilisationen“ zu pochen, die Verschiedenheit der Menschenkategorien und die Unermesslichkeit aller Kulturen zu betonen oder den „anderen“ Gott zu einem falschen Gott zu erklären, einem Götzenbild, das geradezu zur Verhöhnung einlädt und das daher ohne Rücksicht auf Verluste geschändet werden kann.
In der derzeit in der westlichen Welt herrschenden Krise manifestiert sich diese Art von Rassismus als extreme Ausprägung des Nationalismus. Sie entwickelt sich weiter, obwohl jüngste Fortschritte in der Genetik und Biotechnologie die Inhaltslosigkeit des Rassenkonzepts bestätigt haben.
Doch statt der Vorstellung von einer rassenfreien Welt neuen Auftrieb zu verleihen, lassen diese technischen Fortschritte paradoxerweise das alte Konzept der Klassifizierung und Differenzierung der letzten Jahrhunderte vollkommen überraschend wieder aufleben.
Die Gefahr einer weltweiten Apartheidisierung wird damit greifbar. Sie nimmt in dem Augenblick konkrete Gestalt an, da uns die Endlichkeit des Systems Erde und die Verflechtung der menschlichen Art mit anderen Formen von Leben stärker bewusst sind denn je zuvor.
Wie ich soeben habe anklingen lassen, droht die Apartheid, wenn wir nicht achtgeben, nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Zukunft zu vergiften.
Ich stamme nicht aus Südafrika. Doch dieses Buch hätte ich nirgendwo sonst schreiben können.
Afrika ist meine Heimat und nirgendwo auf diesem riesenhaften Kontinent fühle ich mich fremd.
Seine Geschichte ist untrennbar mit der der Welt verbunden. Tatsächlich gibt es keinen Fleck auf der Erde, der nicht ein Stück Afrika, Spuren der Afrikaner, in sich trägt. Und zugleich gibt es keinen Fleck in Afrika, der nicht die Last der ganzen Welt, ihr Leid, aber auch ihren Segen verspürt.
Man könnte gar sagen, das Schicksal unseres Planeten entscheide sich in Afrika, dem großen Weltlaboratorium unserer Zeit.
Von Anfang an wollte ich mit Kritik der schwarzen Vernunft diese Realität sichtbar machen und zugleich die Verheißung aufzeigen, dass Afrika wieder zu seinem eigenen Zentrum finde, wieder zu einem großen, lebendigen Lebensraum werde, der allen und jedem offensteht, und mit dem Rest der Welt gleichzuziehen vermöge.
Der Geschwister-Scholl-Preis bestärkt mich in meiner Hoffnung. Afrika muss nun den Blick auf das Neue richten. Es muss zur Tat schreiten, um zum ersten Male etwas bisher Unmögliches zu vollbringen. Und dies muss in dem Bewusstsein geschehen, dass dabei für Afrika und die gesamte Menschheit neue Zeiten anbrechen.
Ich danke Ihnen.
Übersetzung aus dem Französischen von Solveig Rose
© Achille Mbembe
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
…Weniger
Dankesrede von Achille Mbembe (französisch)
Je serai bref. Je voudrais vous dire, à tous et à toutes, combien je suis heureux d’etre ici à Munich, dans cette ville et dans cette université.
1.
Je ne saurais vous dire, Monsieur le Maire et Monsieur le Président de l’Université, combien j’apprécie votre hospitalité et votre compagnie. Je suis, d’autre part, profondément reconnaissant au jury de la Borsenverein des Deutschen Buchhandels de m’avoir accueilli dans cette grande famille – celle de tant d’illustres écrivains et penseurs qui ont reçu, avant moi, le Prix Geschwister Scholl. Dans le meme esprit de gratitude, je voudrais exprimer ma reconnaissance à l’égard de toutes les institutions allemandes qui ont contribué à cette belle fete ainsi qu’à la maison d’édition Suhrkamp Verlag et au traducteur de l’ouvrage.
Mehr…
2.
Mon épouse, le Professeur Sarah Nuttall, à qui je dois tant, a bien voulu m’accompagner en cette occasion. Comme le savent ceux et celles qui y ont jeté un coup d’œil, Critique de la raison nègre lui est dédié. Les mots me manquent pour dire ce que je lui dois – une dette infinie et multiforme, dont je ne serai jamais capable de m’acquitter. Je voudrais également dire un mot au sujet de Paul Gilroy et Vron Ware. Je porte Paul et toute sa famille dans mon cœur, comme un précieux don. Au milieu du désordre de notre époque, et par rapport à l’histoire des gens d’origine africaine dans le monde, Paul aura été une énorme source de joie et d’inspiration et un motif d’espérance pour beaucoup d’entre nous.
3.
S’agissant du livre que nous célébrons aujourd’hui, quelques mots suffiront, et je voudrais les prononcer dans l’esprit meme de Hans et Sophia Scholl. Le premier - et on a eu tort de l’oublier - est que pour son fonctionnement, le capital, dès ses origines, a toujours eu besoin de subsides raciaux. Au fond, la fonction du capital a toujours été non seulement de convertir tout en marchandises, de faciliter les échanges et d’accumuler des profits, mais aussi de fabriquer des races, de produire des espèces et des sous-espèces humaines; bref, de chercher à exercer un monopole sur la fabrication du vivant en tant que tel. En particulier, le capitalisme a toujours cherché à rendre la personne humaine fongible ; à effacer toute distinction entre le monde des personnes humaines, le monde des choses et des objets. Ce fut le cas des Nègres entre le XVIe et le XIXe siècle, au moment de la Traite Atlantique. Le « procès de civilisation » aura consisté à tempérer tant bien que mal ces pulsions et à maintenir, avec des degrés divers de succès, un certain nombre de séparations fondamentales sans lesquelles l’humanité n’existerait simplement point.
Le néolibéralisme est l’âge au cours duquel ces digues s’effondrent les unes après les autres tandis que la fusion entre le capitalisme et l’animisme est en bonne voie. Par exemple, il n’est plus certain qu’un sujet n’est pas un objet. Il n’est plus certain que tout ne peut être calculé arithmétiquement, vendu et acheté. Il n’est plus certain qu’il existe des valeurs qui n’ont pas de prix.
Au demeurant, l’une des thèses du livre est que les risques systémiques auxquels seuls les esclaves nègres furent exposés entre le XVIème et le XIXème siècle constituent désormais sinon la norme, du moins le lot de toutes les humanités subalternes où qu’elles se trouvent et quelle que soit la couleur de leur peau ou la nature des régimes auxquels ils sont assujettis. Une universalisation tendancielle de la condition nègre est donc en cours, et c’est peut-etre cela, le trait le plus marquant du monde de notre temps. Cette universalisation de la condition nègre va de pair avec l’apparition de pratiques impériales inédites, une rebalkanisation du monde et l’intensification des pratiques de zonage. Ces pratiques constituent, au fond, une manière de production de nouvelles sous-espèces humaines vouées à l’abandon, à l’indifférence, quand ce n’est pas à la destruction.
Ces pratiques ont cours alors que le milieu naturel de l’économie, c’est désormais le monde des processeurs et des organismes biologiques et artificiels.
C’est aussi le monde des cerveaux humains et des computations automatisées, du travail avec des instruments à la taille toujours plus réduite, de plus en plus miniaturisés.
Dans ces conditions, le racisme ne consiste plus exactement en la fabrication d’un lien social de sujétion ou d’un corps d'extraction entièrement exposé à la volonté d'un maître, et duquel l'on s'efforcera d'obtenir le maximum de rentabilité.
Le Nègre d’aujourd’hui n’est plus seulement la personne d’origine africaine, celle-là qui est marquée par le soleil de ses apparences et la couleur de son épiderme.
Le Nègre d’aujourd’hui est une catégorie subalterne de l’humanité, cette part superflue et presqu’en excès, dont le capital n’a guère besoin, et qui semble être vouée au zonage et à l’expulsion.
Nous sommes en effet en train de passer à une nouvelle condition humaine. L’humanité est en train de sortir du grand partage entre l’homme, l’animal et la machine qui aura tant caractérisé le discours sur la modernité et sur l’humanisme.
Hier, le racisme permettait de naturaliser les différences sociales et d’enfermer les gens dont on ne voulait pas dans des cadres desquels ils étaient empêchés, par le droit, voire par la force, de sortir.
Aujourd’hui apparaissent de nouvelles variétés du racisme qui n’ont plus besoin de recourir à la biologie pour se légitimer. Il leur suffit, par exemple, d’en appeler à la fermeture des frontières ; à la chasse aux étrangers ou à la déportation des réfugiés. Il leur suffit de proclamer l’incompatibilité des « civilisations » ; de faire valoir que nous n’appartenons pas à la même humanité ; que les cultures sont incommensurables ; ou que le Dieu des autres n’est qu’un faux dieu, une idole qui appelle le sarcasme ou que l’on peut, à ce titre, profaner sans réserve.
Dans les conditions actuelles de la crise en Occident, ce type de racisme constitue manifestement un supplément du nationalisme. Il se développe alors que les progrès récents dans les domaines génétique et biotechnologique confirment l’idée selon laquelle le concept de race est vide de sens.
Mais – et c’est cela le paradoxe - loin de donner une nouvelle impulsion à l’idée d’un monde sans races, ces progrès techniques relancent de manière tout à fait inattendue le vieux projet de classification et de différenciation si typique des siècles précédents.
Le risque d’une planétarisation de l’Apartheid est donc réel. Il est en train de prendre corps au moment précis où la conscience de la finitude du système Terre n’a jamais été aussi vive, et l’imbrication de l’espèce humaine avec les autres formes du vivant jamais aussi manifeste.
4.
Je viens d’évoquer l’Apartheid en suggérant que si nous n’y prenons garde, il risque bel et bien d’etre non pas notre passé, mais notre futur. Je ne suis pas né en Afrique du Sud. Mais ce livre, il n’y a qu’en Afrique du Sud que j’aurais pu l’écrire. L’Afrique est mon pays, et je ne m’estime étranger nulle part sur cet immense continent.
Son histoire est inséparable de l’histoire du monde en général. En réalité, il n’y a pas une seule région de notre monde qui ne porte, par-devers elle, la trace de l’Afrique – la trace des Africains. De meme n’y a-t-il aucune région de l’Afrique qui ne porte, par-devers elle, le poids du monde, ses malheurs, mais aussi sa chance. Il se pourrait meme que le destin de notre planète se joue effectivement en Afrique, cet immense laboratoire du monde de notre temps. J’avais voulu, à l’origine, que Critique de la raison nègre témoigne de cette réalité, et de la promesse d’une Afrique qui redeviendrait son centre propre, un vaste espace vivant, ouvert à toutes sortes de circulations, et capable de se hisser à hauteur du monde.
Recevant ce Prix, je n’ai guère d’autre choix que de réaffirmer cette espérance. L’Afrique devra porter son regard vers ce qui est neuf. Elle devra se mettre en scène et accomplir, pour la première fois, ce qui n’a jamais été possible auparavant. Il faudra qu’elle le fasse en ayant conscience d’ouvrir, pour elle-meme et pour l’humanité, des temps nouveaux.
Je vous remercie.
© Achille Mbembe
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
…Weniger