Hisham Matar, Sohn libyscher Eltern, wurde 1970 in New York City geboren, wuchs in Tripolis und, nach der Emigration der Familie, in Kairo auf. Seit 1986 lebt Hisham Matar in England. Vor dem aktuellen Titel hat er die international vielbeachteten Romane »Im Land der Männer« (2006) und »Geschichte eines Verschwindens« (2011) verfasst.
Preisträger 2017
Hisham Matar
Die Rückkehr
Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater
Luchterhand Literaturverlag
München 2017
ISBN: 978-3-630-87422-7
Autor
Begründung der Jury
Hisham Matar war zwanzig Jahre alt, als sein Vater verschwand. Jaballa Matar, ein libyscher Geschäftsmann und ehemaliger Diplomat, lebte mit seiner Familie seit 1979 im Exil in Kairo. Vom Tschad aus operierte eine von ihm gelenkte Partisanentruppe gegen den Diktator Gaddafi. 1990, als Hisham Matar in London Architektur studierte, wurde sein Vater entführt. Erst sechs Jahre später erfuhr die Familie, dass er noch lebte und im berüchtigten Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis eingesperrt war. Zwei Briefe hatten den Weg ins Freie gefunden.
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In seinem Buch „Die Rückkehr” berichtet Hisham Matar davon, wie er 2012 nach der libyschen Revolution in sein Heimatland kam, um seinen Vater zu suchen. Als die Eingekerkerten von Abu Salim das Tageslicht wiedersahen, war Jaballa Matar nicht unter ihnen gewesen. Im Verlauf des Buchs verdichtet sich die Vermutung fast zur Gewissheit, dass er schon 1996 einem Massaker im Gefängnishof zum Opfer fiel: einer unter geschätzten 1200 Toten. Aber er soll später noch lebend gesehen worden sein. Hisham Matar heftet sich an diese Spur. Denn sein Vater überlebt in den Erzählungen der Mitgefangenen. Seine Leidensgefährten berichten davon, wie seine Kraft auf sie überging. Hisham Matars verschwundener Vater war in Wirklichkeit, was jeder Vater in den Augen seines Sohnes ist: ein Held.
Von dem, was mit der Chiffre vom berüchtigten Gefängnis gemeint ist, bekommt der Leser eine erschütternd konkrete Vorstellung: von den Zerstörungen, die ein Gewalthaber anrichtet, der jedes Mittel einsetzt, um den Willen derer zu brechen, die er zu seinen Feinden erklärt. Dabei betritt Hisham Matar Abu Salim nicht – als wäre der Ort verflucht, als könnte er dort dem Gespenst des Vaters begegnen. Wie es dort aussah und zuging, setzt sich der Autor aus den Zeugnissen der Überlebenden zusammen, seiner Verwandten. Denn Gaddafi rächte sich durch Sippenhaft.
Diesen Männern wurden Jahrzehnte ihres Lebens geraubt. Ohne Grund. Wie überbrückt man einen solchen Abgrund? Die Genauigkeit, mit der Hisham Matar über Gespräche berichtet, in denen so viel ungesagt bleiben musste, schlägt den Leser in den Bann. Der Aufbau des Buchs ist kunstvoll, verrät den Architekten: Alles, was wir über die lange Unfreiheitsgeschichte Libyens erfahren, die nach der Revolution weiterging, ist vermittelt durch den Rückkehrer, der nicht bleiben kann.
„Die Rückkehr” ist ein Buch über die überwältigende Widerstandskraft des menschlichen Geistes und über die Tugenden der Erinnerung, die dieser Erfahrung gerecht werden will: Beharrlichkeit, Sorgfalt und Vorsicht. Damit erinnert Hisham Matars Werk im weitesten Sinn an das Vermächtnis der Geschwister Scholl und ist geeignet bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben.“
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Ansprache von Michael Then
Guten Abend meine sehr geehrten Damen und Herren, herzlich willkommen zur Preisverleihung des Geschwister Scholl Preises 2017 an Hisham Matar für sein Buch „Die Rückkehr – Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater“.
In Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" empört sich Linda, die Frau von Willy Loman: Er ist ein Mensch, und es passiert ihm gerade etwas Schreckliches! Also gebührt ihm Aufmerksamkeit. Er darf nicht ins Grab fallen, wie ein alter Hund. Aufmerksamkeit! Aufmerksamkeit schulden wir dem Menschen.
Aufmerksamkeit ist das Gedächtnis des Herzens, so ein Sprichwort aus Frankreich. Darum handelt diese Rede heute Abend, verehrte Gäste, von der Aufmerksamkeit. Denn dieses so wichtige, aber heute wenig beachtete Geschenk schulden wir all jenen, die in Vergessenheit geraten.
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Wer schenkt jenen Menschen Aufmerksamkeit, die in Libyen während der Herrschaft Muhammad al-Gaddafis versucht haben, die Menschlichkeit am Leben zu erhalten, und dafür mit ihrem Leben bezahlt haben? Wer, jenen Leichen verstorbener Dissidenten, die in Gefriertruhen unter Gaddafis Palast gefunden wurden?
Und wir schulden all jenen Aufmerksamkeit, die in den Foltergefängnissen eines skrupellosen Diktators verschwunden sind.
Libyen? Gibt es das überhaupt noch? Ist das nicht dieser merkwürdige Flecken Erde an der Nordküste Afrikas, von wo aus all jene ihre Reise starten, um zu uns zu gelangen? Hand aufs Herz, wie viel Aufmerksamkeit haben Sie den Menschen und diesem failed state geschenkt?
Früher gab es Länder, die mutige Menschen entdecken konnten, heute bedarf es mutiger Menschen, die das Verschwinden eines Landes und seiner Bewohner zu verhindern suchen. Einer dieser mutigen Männer war der Vater des diesjährigen Geschwister Scholl Preisträgers. Herzlich willkommen und vielen Dank, dass Sie heute Abend hier sind, verehrter Hisham Matar.
Matar, 1970 in New York als Sohn eines Sekretärs der libyschen UN-Vertretung geboren, wurde just in jenem Moment gezeugt, als ein junger Hauptmann König Idris in Libyen von seinem Thron stürzte. Als er drei Jahre alt war, zogen seine Eltern mit ihm zurück nach Tripolis. Von dort musste die Familie fünf Jahre später, vor dem Zorn eines despotischen Regimes, das der Vater bekämpfte, fliehen; erst in Richtung Nairobi, dann weiter nach Kairo.
Matars Vater, der sich mit seiner Familie aus Gaddafis «Staat der Massen» abgesetzt hatte, wurde im Exil zu einem der tätigsten und wagemutigsten Gegner des Diktators. Das Regime registrierte dabei – wie sich nachträglich herausstellte – praktisch jeden Schritt, jedes Telefonat im Hause Matar; 1990 wurde er aus seiner Kairoer Wohnung entführt und in das berüchtigte Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis geworfen.
Mit seinem Buch „Die Rückkehr“ kehrt Hisham Matar zu jenem Ereignis zurück, um das sich seit je die Ängste von Matars Familie kristallisiert hatten: einem Massaker, bei dem Ende Juni 1996 in eben jenem Abu-Salim-Gefängnis über 1200 Häftlinge ermordet wurden und bei dem mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Matars Vater ums Leben kam. Die letzte seiner raren Botschaften aus dem Kerker hatte die Familie 1995 erreicht, danach gab es vom Vater kein Lebenszeichen mehr. Die Onkel des Schriftstellers, die von der Massenhinrichtung auf rätselhafte Weise verschont geblieben waren, können bei Hisham Matars Besuch im Frühjahr 2012 Zeugnis von den Schreckenstagen ablegen; dies wird der letztgültige Näherungswert bleiben, den die jahrzehntelange Suche nach dem Verschwundenen erbrachte.
„Mitte der 1990er“, so Hisham Matar, „riskierten einige Leute ihr Leben, um drei Briefe meines Vaters zu uns, seiner Familie, zu schmuggeln. In einem von ihnen schreibt er: Die Grausamkeit dieses Ortes übertrifft bei weitem alles, was wir über die Gefängnisfestung der Bastille gelesen haben. Alles ist von Grausamkeit durchsetzt, doch ich bin und bleibe stärker als ihre Unterdrückungstaktiken … Manchmal verstreicht ein ganzes Jahr, ohne dass ich die Sonne sehe oder aus dieser Zelle gelassen werde.
Man kann „Die Rückkehr“ als Teil eines literarischen Triptychons lesen, zu dem die Romane "Im Land der Männer", 2007, und "Geschichte eines Verschwindens", 2011, gehören. Beide Romane basieren auf den tatsächlichen biografischen Fakten der Familie Matar, allein drei gemein ein zentrales Bild:
Ich weiß nicht, ob mein Vater tot ist, aber ich weiß auch nicht, ob er noch lebt.
Dieser Satz Hisham Matars aus einem Interview mit der Londoner "Times" markiert das zentrale Trauma im Leben des Autors, nämlich die permanente Uneindeutigkeit seiner Trauer, die ihn zu einem "Leben in Wartestellung" verurteilte.
"Nicht zu wissen, wann mein Vater zu existieren aufhörte, hat die Grenze zwischen Leben und Tod weiter kompliziert", heißt es in "Die Rückkehr“. In seinem Buch gibt es, so Matar, „diese dünne Linie, die zwischen der Hoffnung verlaufe, den Vater zu finden, und dem Wunsch, es nicht zu tun – und man selber ist auf dem Schauplatz dieses beschämenden Kampfes. Weil man diese beiden Kräfte in sich ausbalancieren muss.“ Auf die Frage, was sein Buch sein könnte, antwortet Matar in einem Interview, wie sehr er sich wünsche, dass sein Buch als etwas gesehen werden könnte, das anders ist, nämlich ein Ort, an dem sich eine Neugier entfaltet – ganz weit. Neugier worauf? Auf den Menschen, auf das, was er sein kann!
Hisham Matars ganze Aufmerksamkeit galt und gilt seinem Vater, oder besser der Suche nach dem Vater. Sie treibt ihn an, all die Jahre hindurch. Immer an der Grenze zur Obsession. Sie, die Obsession, ist die dunkle Schwester der Aufmerksamkeit, verengt sie doch den Blick, lässt Neugierde sterben.
Aufmerksam verfolgen wir beim Lesen des Buches den Autor auf der Suche nach seinem Vater. Lauschen den Berichten von Überlebenden und fallen mit ihm in jene "schwarzen Löcher", die, wie der Autor schreibt, sich auftun, wenn Hoffnung wieder enttäuscht wird. Für Matar wird das Schreiben zum überlebenswichtigen Atmen, das ihm hilft, gegen die Wut anzugehen, die "wie ein vergifteter Strom" durch sein Leben fließt. Und so wird der Roman weit mehr als ein autobiographischer Roman, er wird zu einem Sinnbild für Mut, Verzweiflung und Enttäuschung, aber auch für die bewegende Suche des Autors nach der eigenen Seele und der seines Landes.
Manchmal habe ich das Gefühl, meine verehrten Damen und Herren, dass wir vergessen, wie viele Mut braucht, um gegen Unrecht, Verfolgung und Unterdrückung aufzustehen. Wie viel Mut es braucht, trotz Folter und Misshandlung, anderen Häftlingen Trost zu spenden, wie es Matars Vater getan hat. Wie viel Willensstärke es braucht, um seinen Peinigern zu sagen: «Mein Kopf weiß nicht, wie man sich beugt», so der Vater in einem Kassiber, der seine Familie 1993 erreichte.
Erlauben Sie, dass ich zum Ende meiner Rede ihre Aufmerksamkeit auf die Namensgeber des Preises lenke. Ende Juli 1942 werden die Freunde Hans Scholl, Willi Graf und Alexander Schmorell zur „Front-Famulatur“ nach Russland abkommandiert. Anfang November, also vor genau 75 Jahren, kehren sie zurück, schwer traumatisiert vom Grauen des Krieges. Sie machen sich mit den anderen Mitgliedern der Weißen Rose im Untergrund sofort an die Arbeit für das fünfte Flugblatt, um die Aufmerksamkeit der Deutschen auf das Unrecht zu lenken, dass im Namen des Volkes verübt wurde.
Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt! Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist!
Preise sind auch immer ein Versuch Aufmerksamkeit zu erzeugen, Zeichen zu setzen. So ist der Geschwister Scholl Preis ein Zeichen gegen das Vergessen, für den Mut von Menschen gegen Unrecht und Willkür anzugehen und ein Aufruf zu Zivilcourage. Aber auch eine Mahnung an uns alle, aufmerksam zu bleiben.
In Zeiten von Fake news, übelsten Beschimpfungen von Politikern, bullshit.sprech und schlichten Lügen, sind Abende wie dieser und Autoren wie der Geschwister Scholl Preisträger 2017, Hisham Matar, umso wichtiger. Der karge Stil seiner Prosa schafft Aufmerksamkeit, ohne laut zu werden. Matar ist ein Meister der leisen Töne, die manchmal so leise daherkommen, dass man eine Stecknadel fallen hören kann oder „die leisen Tränen eines Mannes“, wie es bei Matar heißt.
Schenken Sie Libyen und seinen Bewohnern ihre Aufmerksamkeit, denn das Töten geht weiter. Und schenken Sie all jenen afrikanischen Flüchtlingen Ihre Aufmerksamkeit, die von den Stränden Libyens über das Meer zu fliehen versuchen. Auch von ihnen verschwanden Abertausende.
Vergessen wir nicht jene, die überlebt haben und mit der Ungewissheit leben müssen, nicht zu wissen, was aus dem Bruder, der Tochter, dem Lebensgefährten, dem Nachbarn geworden ist. Eine schreckliche Ungewissheit, die Millionen Menschen hier erlebt haben und leben mussten nach dem Untergang des Dritten Reiches.
Lassen sie nicht zu, dass Menschen ins Grab fallen wie ein alter Hund. Vielen Dank Hisham Matar, dass Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben, und Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
© Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V.
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Ansprache von Dieter Reiter
Ich begrüße Sie zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2017, den die Landeshauptstadt München zusammen mit dem Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vergibt. Zum 38. Mal wird damit heuer ein Buch prämiert, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“. Und das dabei im weitesten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert.
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Wie im vergangenen Jahr werden wir dabei auch diesmal wieder mit den Gräueln in den Folterkellern eines diktatorischen Regimes konfrontiert. Während allerdings der Verantwortliche für die in der letztjährigen Reportage geschilderten Unmenschlichkeiten, nämlich der syrische Despot Baschar al-Assad, nach wie vor am Leben und an der Macht ist, hat man den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi im Verlauf der dortigen Revolution 2011 gestürzt und getötet. Insofern hängt der Mut, den Hisham Matar im Rahmen der Entstehung seines Buches „Die Rückkehr“ aufgebracht hat, auch weniger mit dem eigenen Widerstand gegen die Tyrannei zusammen, als vielmehr mit der Bereitschaft, sich den schmerzlichsten Seiten seiner Familiengeschichte zu stellen. Und das bedeutete für Hisham Matar, wie es im Untertitel des Buches heißt, sich auf die Suche nach dem verlorenen Vater zu machen.
An eine glückliche Heimkehr des verlorenen Vaters war damals im Jahr 2012 aber wohl nicht mehr wirklich zu denken. Zu lange schon war der Kontakt zu ihm abgerissen und das Wissen um die Methoden des libyschen Terrorregimes Allgemeingut. 1990 war der Vater und Regimegegner Jaballa Matar von Gaddafis Schergen im ägyptischen Exil gekidnappt und nach Libyen verschleppt worden. Gemeinsam mit vielen anderen politischen Gefangenen landete er dort im berüchtigten Folter-Gefängnis Abu-Salim in Tripolis – jenem Kerker, in dem 1996 während einer Gefangenenrevolte mehr als 1.200 Häftlinge von Sicherheitskräften massakriert wurden.
Im selben Jahr war es Jaballa Matar übrigens zum letzten Mal gelungen, seiner Familie einen Brief zukommen zu lassen. Danach haben sie nichts mehr von ihm gehört. Erst der Arabische Frühling fast 15 Jahre später ließ einen Funken Hoffnung aufkeimen, Anhaltspunkte über den Verbleib von Hisham Matars Vater zu bekommen. Wenn man ihn selbst schon nicht mehr am Leben fände, so wollte man doch wenigstens Klarheit über sein Schicksal gewinnen. Denn nichts ist schlimmer als die Ungewissheit.
Jedes Jahr am 30. August wird weltweit der Internationale Tag der Opfer des Verschwindenlassens, der sogenannte Tag der Verschwundenen begangen. Im Visier steht dabei genau diese Art von Staatsterror, bei der Regimegegner gezielt entführt, gefoltert und ermordet werden, während man den Angehörigen seitens der Behörden jegliche Auskünfte über deren Verbleib verweigert. Schon die Nazis haben auf diese Weise Angst und Schrecken in den besetzten Gebieten verbreitet. Der damalige sogenannte Nacht-und-Nebel-Erlass Adolf Hitlers wurde später im Rahmen der Nürnberger Prozesse unter anderem auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Trotzdem ist das gewaltsame Verschwindenlassen in totalitären Staaten, in Kriegen und Bürgerkriegen bis heute ein probates Mittel der Repression und Einschüchterung geblieben.
Mit dem Verschwinden seines Vaters ist in Hisham Matars Leben eine tiefe Lücke entstanden. Dass der Vater bis heute nicht wieder aufgetaucht ist, hat diese klaffende Wunde im Leben des Sohnes über die Jahre offen gehalten. Die Leerstelle gefüllt und den Schmerz gelindert hat schließlich die intensive Suche nach dem Vater und sicher auch das Bild, das in Gesprächen und Erzählungen nach und nach von ihm entstanden ist. Oder wie es Hisham Matar selbst ausgedrückt hat: „Der Körper meines Vaters ist nicht mehr da, aber sein Raum existiert noch und wird von etwas eingenommen, das nicht nur Erinnerung genannt werden kann. Er lebt und ist Teil des Jetzt.“
Bleibt zu hoffen, dass Geschichten und Erfahrungen wie diese auch jenen Menschen zu denken geben, die jetzt die Macht in Händen halten und die Möglichkeit haben, die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit zu ziehen. Leider haben sich in Libyen nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes die Erwartungen an eine Beruhigung der Lage und den Übergang zu geordneten Verhältnissen bis heute nicht erfüllt. Immerhin haben sich die rivalisierenden Parteien im Land heuer auf eine Waffenruhe und baldige gesamtlibysche Parlaments- und Präsidentenwahlen geeinigt. Ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Damit gratuliere ich Ihnen, sehr geehrter Herr Matar, ganz herzlich zum Geschwister-Scholl-Preis 2017!
© Dieter Reiter, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Laudatio von Dr. Susanne Mayer
Nur einen Fuß vom letzten Rand
Hisham Matar und die Wahrheit des autobiographischen Schreibens
Als 2006 das erste Buch von Hisham Matar erschien, „In the Country of Men“, gab es so etwas wie ein Erstaunen in den Feuilletons von New York, London und ein Jahr später, als das Buch „Im Land der Männer“ auf Deutsch erschien, in Hamburg, Berlin oder München. Was war das? Ein neuer Ton. Eine unglaubliche Begebenheit, das Verschwinden eines Vaters, seine Entführung und Verschleppung durch die Schergen des diktatorischen Regimes von Oberst al-Gaddafi, wird aus der Sicht seines Kindes berichtet. Erzählhaltung: extreme Verletzlichkeit.
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„In jener Nacht träumte ich, dass Baba auf dem Meer trieb. Das Wasser war unruhig, bildete Berge und Täler wie draußen auf hoher See. Er lag auf dem Rücken und sah aus wie ein kleines Fischerboot, das sich den Gewalten ergab. Ich war auch da und tat alles, um die Schultern über Wasser zu halten, weil ich ihn nicht aus den Augen verlieren wollte. Aber wieder hob sich das Meer, und er verschwand aus meinem Blickfeld … Ich drehte mich um, aber da war keine Küste, zu der ich zurück konnte.“
Der Ausdruck von Verlorenheit. Ein Vater geht dem Sohn und der Familie verloren, er wird verhaftet und verschwindet, und sein Sohn, er ist nicht nur in diesem Traum auf hoher See. Losgeschnitten. Diesem ersten Roman des Autors Hisham Matar folgte „Anatomy of a Dissapearance,“ auf Deutsch: „Geschichte eines Verschwindens“ (2011). Das englische Wort „Anatomy“ assoziiert, anders als das neutrale „Geschichte“, sofort das Todesmotiv, zugleich auf schmerzliche Weise die scharfen Schnitte, die posthum, nachdem schon alles verloren ist, nötig sind, um Klarheit in ein dunkles Geschehen zu bringen. Ein Junge, er heißt Nuri, ist zwölf Jahre alt, als sein Vater, ein Kamal Pascha el-Alfi, verschwindet. Die Umstände sind jetzt ein wenig anders, die Details variieren, auch der Schluss ist ein anderer. Im ersten Buch kommt der Vater zurück, im zweiten nicht. Und dann, 2016, noch einmal, „Die Rückkehr“, das Buch, das die Jury des Geschwister-Scholl-Preises hier auszeichnet. Wir folgen dem Geschehen jetzt nicht mehr mit den Blicken und Gefühlen eines Kindes oder Jugendlichen, wir begleiten einen Mann, in dessen Kindheit der Vater entführt wurde. Wir folgen ihm aus London in das Land, in dem sein Vater angeblich zuletzt gesichtet wurde, nach Libyen. Untertitel: „Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater“, in der englischen Fassung „Fathers, Sons and the Land in between“. Eine Vermessung also einer großen Distanz zwischen Vater und Sohn, genauer, einer Distanz zwischen Vätern und Söhnen – schon im Untertitel wird das rein Autobiographische transzendiert, hin ins Allgemeine.
Drei Romane, sie wirken wie drei Sätze einer Komposition. Variationen in der Tonart Moll. Es sind Variationen von Schmerz und Verlust, es ist ein immer neu ansetzendes Ausloten – bis hin zu einem Wiederholungszwang – des Themas: die Versehrung derer nachzeichnen, die in einem Unrechtstaat auf Widerstand setzen.
Das Kind, der Heranwachsende, der Mann – diese drei Figuren haben einen fast archetypischen Dreiklang, andererseits haben sie einiges gemein mit dem Autor der Bücher, mit Hisham Matar.
Hisham Matar ist Spross einer libyschen Familie. Er ist der Sohn von Jaballa Matar, einem Offizier der libyschen Armee, der nach der Machtergreifung von Oberst Muammar al-Gaddafi 1969 nach New York versetzt wurde, quasi abgeschoben auf einen Sekretärsposten an die Libyschen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Bilder zeigen einen gutaussehenden, kraftvollen Mann. Fan von Bayern München übrigens! In New York wird 1970 sein Sohn Hisham geboren. Hat Jaballa Matar da schon Kontakt zur Opposition?
Jaballa Matar scheidet 1973 aus der Libyschen Vertretung in New York aus und kehrt zurück nach Libyen. Er arbeitet jetzt für den Sturz Gaddafis, der im Westen noch hofiert wird, als im Land blutige Säuberungen stattfinden. Jaballa Matar ist jetzt im Widerstand, anders als für die Widerständler der Weißen Rose ist es ein bewaffneter Widerstand, aber Matar wird, wie sie, diesen Weg bis zum Ende gehen. Im Jahre 1979 setzt sich die Familie Matar ab nach Kairo. Dort wird der Vater im Jahre 1990, vom libyschen Geheimdienst, unter Assistenz des ägyptischen Geheimdienstes, entführt und verschleppt, zurück nach Libyen, die Spur verliert sich in dem berüchtigten Gefängnis Abu Salim. Anders als für die Widerständler der Weißen Rose gibt es kein Todesdatum, kein Grab.
Verhaftet werden in Libyen sein Bruder Mahmoud und drei weitere Männer der Familie, sie kommen erst frei, als Gaddafi 2011 gestürzt wird, nach 21 Jahren im Kerker. Jaballa Matar bleibt verschollen.
Der Vater ist jetzt ein Märtyrer Libyens. „Ich bin der Sohn eines ungewöhnlichen Mannes, vielleicht sogar eines großen Mannes“, heißt es in „Die Rückkehr“, ein Buch, in dem der Sohn sich aufmacht, Bruchstücke zu versammeln, um sie zu einem Bild dieses Mannes und seines Todes zusammenzusetzen.
Für Hisham Matar, einer von nahezu einer Million Flüchtlingen aus Libyen, ist die Unruhe, in die er hineingeboren wurde, ein Teil seines Lebens geblieben. Ging es in seiner Kindheit von New York, seiner Geburtsstadt, über Nairobi nach Tripolis nach Kairo, ging es von dort weiter, mit Abstechern nach hier und da, nach London und Paris und zurück nach London, und von dort wieder nach New York. London und New York werden ihm versuchsweise Heimat. Es ist, in dieser Rastlosigkeit, ein nicht untypisches Schicksal in unserer Zeit, in der 65 Millionen Menschen, so meldet das UNHCR-Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, auf der Flucht sind. Unter diesen Flüchtlingen ist Hisham Matar sogar ein privilegierter. Er liest, er schreibt, er lehrt Literatur. Und es ist in der Literatur, dass er um die Bewältigung dessen ringt, was das Schicksal ihm wie so vielen anderen, die vertrieben sind, auferlegt hat.
Einer seiner Erzähler zitiert die englische Schriftstellerin Jean Rhys: „Nie würde ich zu irgend etwas gehören. Nie würde ich wirklich irgendwohin gehören, und das wusste ich, und mein ganzes Leben lang würde es nie anders sein.“
Aus diesem Grundgefühl einer existentiellen Verlorenheit erwachsen die Romane von Hisham Matar. Die Bücher verschreiben sich in einem dreifachen Sinn einer Recherche du temps perdu – sie suchen nach einer Kindheit, die unter dem Eindruck der Entführung des Vaters aufgerieben wird. Sie suchen nach einer Person, die in dieser Vergangenheit verloren ging – nach dem Vater. Und zugleich suchen sie nach dem Kind, dessen Vater verloren ging und das sich dadurch selbst verlor. Der Sohn, der seinen Vater verlor, so beschreibt Matar es, ist für immer versehrt, denn er bleibt ja dieser Sohn, an einer Stelle heißt es: „Ein Mann zu sein bedeutet, Teil einer Kette aus Dankbarkeit und Erinnerung zu sein, aus Vorwurf und Vergessen, Unterwerfung und Rebellion, bis der Blick des Sohnes so wund und gespannt ist, dass er zurückblickend nur mehr Schatten sieht.“ Bei ihm ist diese Kette gesprengt.
Es gibt in diesen Büchern eine Ineinanderfaltung von Motiven, und zwischen den einzelnen Fältelungen nisten: Schock. Trauer. Trauma. Das, was Diktatur den Menschen antut. Überall, nicht nur in Libyen, nicht nur damals in Deutschland, als die jungen Menschen der Weißen Rose gegen das Unrechtregime antrat, überall dort, wo der Wunsch der Menschen nach Freiheit und Demokratie aufgerieben und zerstört wird oder nie eine Chance bekommt. In diesem Sinne überragen die Bücher von Hisham Matar das persönliche Schicksal, das Autobiographische. Auch wenn sie aus dem autobiographischen Erleben schöpfen, um ein Verhängnis zu schildern, das Menschen überschattet, die ihr Leben unter den Bedingungen von Diktatur leben.
Er selber sagte es lapidar in einem Gespräch: „In meinem Werk untersuche ich die sehr einfache, aber überall gültige Tatsache, dass jeder von uns in eine Geschichte hineingeboren wird. Wir werden hineingeboren in bestimmte Umstände und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.“
Das ist ein bescheidener Ausdruck von dem, was dieser Autor, sehr kunstfertig, tut. Jedes seiner Bücher nähert sich dem Themenkomplex auf neue, vorsichtige Weise. Und gleichzeitig, so höflich und behutsam sich die Bücher ihren Lesern nähern, ersparen sie uns nicht die Schrecken, die sich unter den Bedingungen eines Lebens unter einem Unrechtsregime entfalten. Es gibt in diesen Büchern sehr präzise Beschreibungen von Gefühlslagen unter dem Druck des Bösen.
Das unaufhaltsame Anschwellen von Angst unter Bedrohung. Der einbrechende Schock nach dem Durchmarsch der Macht. Die Verstrickung in Schuld. Das Nachklingen der Schuldgefühle. Die Einsamkeit der Zurückgelassenen. Die Angst, die Wut. Die Sehnsucht. Die Besessenheit des Sohnes, seinen Vater zu finden, die immer wieder in Todessehnsucht umschlägt. Die Bücher bezeugen diese Qual – und sind zugleich Zeugnisse einer Widerständigkeit. Der Autor Matar weicht vor dem Schrecken nicht zurück, er nähert sich ihm immer wieder, immer wieder neu, mit jedem Buch – und er verschweigt gleichzeitig nicht, was der Preis dafür ist, für das Kind, den Heranwachsenden, den Mann.
In „Die Rückkehr“ zitiert Matar aus Shakespeares „King Lear“, er zitiert, wie Edgar seinem Vater, den geblendeten Gloucester, vorsorglich die Hand reicht: „Gebt mir die Hand“, sagt der Sohn. „Ihr seid nur einen Fuß/Vom letzten Rand.“ Gloucester hatte in seinem Elend sein Leben beenden wollen. In diesen Büchern von Matar aber ist es der Sohn, der immer wieder nur „einen Fuß vom Rand“ steht. Die Bücher erzählen auch von der nachhaltigen Gefährdung derer, die man gemeinhin als die Überlebenden bezeichnet, also von den angeblich Davongekommen. Die große schottische Kriegsreporterin Isabel Hilton sagte einmal, es sei eine weit verbreitete Täuschung anzunehmen, ein Krieg ende mit einer Kapitulation oder einem Sieg oder einem Friedensschluss. Der Krieg gehe in den Menschen weiter, in ihren Gedanken, ihrer Seele – oft über Generationen. Davon kann man etwas verstehen bei der Lektüre von „Die Rückkehr“ von Hisham Matar.
Der Autor ist souverän in der Variation seiner Stilmittel. Im ersten Buch, dem „Land der Männer“ ist es ein aufwühlendes Schreiben, der Text ist dicht gesteckt mit anrührenden Szenen und einer poetischen Beschreibung von Landschaft und Personen. Das Buch landete sofort auf der Shortlist des Guardian-First-Book-Award sowie des begehrten englischen Booker-Prize.
Das zweite Buch transformiert die Geschichte in einen Bildungsroman, der heranwachsende Junge liefert sich mit seinem Vater ein Duell um die Liebe einer Frau, dann: Verschwinden des Vaters. Absturz. Ende der Jugend.
„Die Rückkehr“ endlich kommt zu uns als Reisebericht. Der Stil: jetzt fast nüchtern. Gestus eines Sachbuchs. Aber natürlich ist es ein sehr kunstvolles Konstrukt, eine Meditation mit literarischen Mitteln über Verlust, Trauer, Vergeblichkeit. Pulitzer-Prize 2017!
„Die Rückkehr“, das Buch, dass hier mit dem Geschwister Scholl Preis ausgezeichnet wird, protokolliert Schritt für Schritt eine Reise des Erzählers mit Mutter und Bruder nach Libyen, berichtet wird über Versuche, das Schicksal des verschollenen Vaters für alle Zukunft zu klären. Es gibt in dieser Erzählung auch eine zweite Reise, eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Hier geht es in die Zeit des Exils in Kairo, zu den Treffen der Männer des Widerstandes, typisch ist die Atmosphäre von Heimlichkeit und Bedrohung, wie wir sie ja auch kennen von den Berichten der Widerständler der Weißen Rose. Und noch weiter geht es zurück, in die Kindheit, nach Tripolis.
Gelegentlich berühren sich diese beiden Reiserouten, die reale und die innere, an ihren Schmerzenspunkten. Etwa in Adshdabiya, dort, wo die Familie herkommt. Der Erzähler sieht vor sich das große Haus, das er in seiner Kindheit kannte. Er geht auf seine Verwandten zu – und erschrickt, weil er in ihren Mienen, in der Zeichnung eines Auges oder der Braue, die Spuren seines Vaters sieht. Das Schreckensgefängnis Abu Salim wird übrigens nur umrundet, zu groß ist wohl der Horror, um sich diesem Ort ganz auszusetzen.
Im Herzen dieses Buches gibt es eine schmerzhafte Verknäulung von Gefühlen. Die Suche des Reisenden ist getrieben von Angst – einer Angst, etwas über das Schicksal des Vater herauszufinden – vermutlich etwas Schreckliches –, und der Furcht, nichts herauszufinden. Der Erzähler will Leute aufspüren, die ihn gesehen haben könnten, und zittert davor zu hören, was sie gesehen haben könnten. Die Furcht: niemanden zu finden. Oder: nichts zu hören. Der Erzähler ist gefangen in einem Geflecht quälender Widersprüchlichkeit.
„Es war klar, dass er erschossen, gehängt, verhungert oder zu Tode gefoltert worden war“, heißt es fast lapidar.
Selten wurde so präzise umkreist, wie eine solche Reise in die Vergangenheit in einen gefährlichen Sog münden kann. „Nicht zu wissen, wann mein Vater zu existieren aufhörte, hat die Grenze zwischen Leben und Tod weiter kompliziert“, heißt es. Der Autor beschreibt, wie viel Mut es braucht, immer wieder aufzubrechen und nach einer Wahrheit zu suchen, die vielleicht furchtbar ist, oder, noch furchtbarer, gar nicht zu haben ist. Wo könne man das besser verstehen, wenn nicht in einem Land wie Deutschland.
In einem Gespräch sagte Matar, dass er natürlich sehe, wie viel einfacher es sein könne, der Sohn seines Vaters zu sein, als der Sohn des Folterers seines Vaters. Und, versöhnlich: dass es doch etwas gebe, was beide, den Sohn des Folterers, und den Sohn des Opfers, verbinde, nämlich die Aufgabe, sich zu dieser Vergangenheit zu verhalten. Und daraus etwas Neues zu gestalten. Welch eine Hoffnung! Aber: Was könnte eine solche Hoffnung für ein Land wie Libyen sein?
Von 6 Millionen Libyern sind 400 000 innerhalb des Landes auf der Flucht. Mehr als eine Million Libyer leben außerhalb des Landes. Und mehr als eine Million Flüchtlinge sind aus der Subsahara und Ägypten in das Land gekommen. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat Libyen nach schockierenden Berichten über Gewaltexzesse in Flüchtlingslagern aufgefordert, diese aufzulösen. Gerade heute berichten die Medien über ein verwackeltes Video, das CNN zugespielt wurde und das vermutlich einen Sklavenmarkt in Libyen zeigt, auf dem Flüchtlinge versteigert werden. Beim Versuch, solchen Zuständen zu entkommen, über das Mittelmeer, so meldete vor wenigen Tagen die Vereinten Nationen , sind in diesem Jahr bereits übers 2700 Menschen ertrunken.
Ach ja: und Entführungen sind auch heute noch in Libyen an der Tagesordnung.
Die Spur des entführten Vaters verliert sich im berüchtigten Gefängnis Abu Salim. Im Buch seines Sohnes verdichtet sich alles Böse in einem Bericht seines Onkels Mahmoud, der in diesem Gefängnis 21 Jahre lang inhaftiert war. Mahmoud erinnert sich daran, wie er hörte, dass aus einer der Zellen ein Häftling immer wieder Gedichte rezitierte. Der Mann wollte sich ihm zu erkennen geben, als sein Bruder Jabbal, der dafür berühmt war, wie sehr er die Literatur liebte, die für ihn allein Lyrik war.
Mahmoud konnte nicht glauben, dass es sein Bruder war. Er erkannte die Stimme nicht. Der Erzähler ist konfrontiert mit einem vielschichtigen Schrecken – dass etwas passiert ist, was die Stimme seines Vaters, oder das Hören seines Bruders, so verändert hat, dass jemand den eigenen Bruder nicht erkennt.
Matar zitiert Dante: „Die Angst, in der du lebest/Hat dich vielleicht gelöscht in meinem Geiste, / dass mir scheint, ich hab dich nie gesehen.“
Es ist eine Schlüsselszene. Der Vater, der Gedichte liebt, das ist der Vater, an den der Erzähler dieses Buches, sein Sohn, anschließen kann. Auch wenn Mahmoud im Gefängnis den Mann in der anderen Zelle nicht als seinen Bruder erkennen kann, erkennt doch der Sohn, dass in der Literatur etwas liegt, das ihn mit dem Vater verbindet. Einmal, auf dieser Reise durch das ruinierte Libyen, hält er ein altes Magazin in Händen, darin findet er zu seiner Überraschung zwei Kurzgeschichten, Autor Jabbal Matar! So reichen sich der Vater und der Sohn die Hand, in der Literatur. Und ist dies nicht im Kern der Gedanke, der dazu geführt hat, dass mit dem Geschwister-Scholl-Preis, Jahr für Jahr, ein Buch ausgezeichnet wird, das eine Hoffnung setzt?
Hisham Matars Werk ist Lehrstück dafür, wie mit den Mitteln der Literatur eine Arbeit am Trauma möglich ist. Die Verhältnisse, in die er geworfen wurde, sagte Matar einmal, hätten in seinem Leben „schwarze Löcher“ erzeugt. Die Abwesenheit des Vaters. Das Nichtwissen, wo er geblieben ist. Der Verlust eines Lebens, das in Libyen hätte möglich sein können. Die Person, die man dann gewesen wäre. Löcher, Löcher, Löcher. Erfahrungen von Sinnlosigkeit. Dagegen schreibt Matar an.
Er selber formulierte es in einem Gespräch so: Sein Buch betrachte er als „ein Zuhausesein, als ein Ort, an dem die Welt möglich wird.“ Es ist in diesem Sinne, auf seine kunstvolle Weise, ein hochpolitisches Buch.
Matar, im unaufhaltsamen Ringen mit den Spuren, welche die Diktatur in sein Leben gefurcht hat, beschreibt, Buch um Buch, was es ihn kostet, sich diesen Verletzungen zu stellen. Das erfordert nicht wenig von jenem unbeirrbaren moralischen, intellektuellen Mut, den wir bei den jungen Menschen, die dem Geschwister-Scholl-Preis ihren Namen gaben, so bewundern. Sie haben, wie so viele im Widerstand in Libyen, oder sonst wo in den Ländern, in denen gerade gegen die Despotie gekämpft wird, für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben gezahlt. In Hisham Matars Büchern werden die Kosten dieses Widerstandes bilanziert, die noch in die nächsten Generationen hinein spürbar sind. Schmerzlich wird deutlich, was das Heldentum seines widerständigen Vaters ihn, die Familie, die Kinder kostet, auch, wenn es sie stolz macht.
Dafür, für diese Bücher, danke ich Hisham Matar. Ich danke der Jury dafür, dass sie die Tiefe dieses Schreibens, die Hingabe an dieses persönliche politisch-ästhetische Projekt, mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnet! Mein Glückwunsch an Hisham Matar!
© Dr. Susanne Mayer
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Hisham Matar
Übersetzung Werner Löcher-Lawrence
Meine Damen und Herren, guten Abend. Ich bin gleichzeitig gerührt und überrascht, diesen Preis zu bekommen.
„Geistige Unabhängigkeit“ ist ein interessantes Kriterium für einen Literaturpreis. Indem Sie sie zu einem zentralen Moment erheben, diagnostizieren Sie eine bedeutende Gefahr, denn ist es nicht verstörend, welchen möglichen Einflussnahmen künstlerische, politische und moralische Positionen unterliegen? Vielleicht ist es kein Zufall, dass Sie sich dafür entschieden haben, den Wert geistiger Unabhängigkeit in direkte Verbindung zur Literatur zu setzen. Sie ist ein zentrales Charakteristikum dieser Kunst. Ein Buch muss seiner eigenen Melodie folgen. Genau deshalb lesen so viele von uns Bücher: wegen der Unabhängigkeit der in ihnen ausgedrückten Gedanken.
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Ich meine das nicht nur im offensichtlichen Sinn, dass ein literarisches Werk seiner Aussage treu zu sein hat, es muss auch sein eigenes Ende finden, frei sogar von den Absichten des Autors. Es geht also nicht nur um geistige Unabhängigkeit von den gängigen Strömungen und Zielen, dem, was wir die Manien unserer Zeit nennen könnten, sondern auch darum, und das ist vielleicht noch entscheidender, nicht für einen bestimmten Zweck eingespannt und auf ein vordefiniertes Ende hin geschrieben zu werden. Wir suchen in der Literatur, wie ich denke, ein menschliches Bewusstsein, einen Intellekt und Geist, die wir, so paradox es klingt, unvorbereitet antreffen. Wir erleben Männer und Frauen, die in ihre eigenen Überlegungen und Beobachtungen versunken sind, mit dem eigenen Herzen ringen und deren Ausdruck ihre Grenzen erweitert. Ich weiß nicht, warum wir das tun: Vielleicht, weil es uns einen Blick auf unsere wahre Natur gewährt. Ich weiß auch nicht, ob uns die Kunst zu besseren Menschen macht, aber ich glaube, sie stärkt unsere Vorstellungskraft und lässt uns dadurch womöglich toleranter werden. Und vielleicht stehen Toleranz und Vorstellungskraft in einem direkten Bezug zur geistigen Unabhängigkeit - weil wir das eine nicht ohne das andere haben können. Einer Sache bin ich mir allerdings sicher: Literatur besitzt die einzigartige Fähigkeit, das Unsagbare auszudrücken, menschliche Widersprüche und Zweifel darzustellen und zu ertragen. Wenn mir das Ihrer Meinung nach grundsätzlich gelungen ist, freut es mich aus ganzem Herzen.
Es rührt mich zutiefst, dass dieser Preis eine Verbindung zwischen meiner Arbeit und dem Gedenken an Hans und Sophie Scholl zieht. Ich habe großen Respekt vor den Geschwistern, ihrer Gewissenstreue und Integrität. Ich staune über ihr außergewöhnliches moralisches Verständnis und den festen Glauben, dass ihnen die Zukunft gehörte: dass das Deutschland von morgen ihren und nicht den von den Nazis verfochtenen Werten folgen würde. Wir müssen ihre furchtlose Standhaftigkeit und ihren Glauben an die Menschlichkeit in Erinnerung behalten. Sie und ihre Studienfreunde, und auch einige Professoren der Universität, erhoben sich, als es wirklich zählte, und ihr Mut wurde getragen von einer Zuversicht, die weder zauderte noch anmaßend war.
Deutschlands reife und selbstkritische Beschäftigung mit den Schrecken der Vergangenheit, diese lange, ernsthafte Auseinandersetzung, die nach dem Fall des Nazi-Regimes begann und bis heute andauert, wurzelt unter anderem im Verhalten der Geschwister Scholl und der übrigen jungen Männer und Frauen der Widerstandsgruppe „Die Weiße Rose“. Ihr Tun wirkte und wirkt weit über ihre Zeit und die Grenzen Deutschlands hinaus. Nicht zuletzt inspiriert durch die Beispiele anderer vor ihnen, ermutigen die Geschwister Scholl Menschen überall in der Welt, sich Diktatoren entgegenzustellen. Dreißig Jahre nach Hans und Sophie verfassten und verteilten auch in Libyen Studenten Flugblätter, die sich gegen einen Diktator wandten, gegen Gaddafi. Sie gingen große Risiken ein, und auch von ihnen wurden einige eingesperrt und hingerichtet. Ihre Flugblätter kommen in meinem ersten Roman „Im Land der Männer“ vor, wahrgenommen durch den feinfühligen, verwirrten Blick eines neunjährigen Jungen namens Suleiman el-Dewani, der in Tripolis am Meer aufwächst.
„Irgendjemand, ein Verräter, druckte Flugblätter, auf denen er den Führer und seine Revolutionskomitees kritisierte. Morgens lagen sie wie Zeitungen vor unseren Türen. Ich sage, irgendjemand, dabei müssen es Hunderte gewesen sein, vielleicht sogar Tausende, die sie mitten in der Nacht verteilten. Die Jungen und ich, wir wechselten uns mit dem Wachbleiben ab und hofften, einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen. Wir stellten sie uns ganz in Schwarz gekleidet vor, maskiert und sehr schnell. Ali behauptete, einen gesehen zu haben. Masud schlug ihm auf den Kopf und sagte: ‚Wenn du noch mal solche Lügen erzählst, sag ich’s Baba.’
Alle fürchteten sich vor diesen Flugblättern und waren darauf bedacht, sie vor den Augen der Nachbarn zu zerreißen. Manche wie Mama nahmen sie mit nach drinnen, nur um sie in der Küchenspüle zu verbrennen und die Asche mit Wasser wegzuspülen. (...)
Am Morgen, bevor Ustaz Raschid {unser Nachbar} abgeholt wurde, hatten die Jungen und ich so große Langeweile, dass wir die Flugblätter nahmen und sie über die Gartenmauern warfen, womit sie, offiziell, in den Häusern der Leute waren. Wir machten das nur in den Nachbarstraßen, wo wir niemanden kannten. Wir beschwerten das leichte Papier mit kleinen Steinen und warfen es über die hohen Mauern, wie sie es in den Kriegsfilmen mit Granaten machten.“
Gedenken wir an diesem Tag, da ich den Geschwister-Scholl-Preis bekomme, Hans und Sophie Scholls und all der anderen Bekannten und Unbekannten unserer und vergangener Zeiten, die sich gegen Ungerechtigkeit und Fanatismus aufgelehnt haben, all jener, die, so sehr ich es ihnen nachzutun versuche, von einem tieferen Glauben an das Gute im Menschen und an sein Mitgefühl beseelt waren, die an die Kraft der Vorstellung glaubten, Gemeinsamkeiten selbst noch mit einem Feind zu finden, und die nie den so grundsätzlichen, profunden Umstand vergessen haben, dass auch die Schlimmsten unter uns unsere Brüder und Schwestern sind.
Ich möchte allen Mitarbeitern meines deutschen Verlages Luchterhand danken, besonders Georg Reuchlein und Christine Popp, die von allem Anfang an zu meiner Arbeit gestanden haben und über die Jahre zu lieben und geschätzten Kollegen geworden sind. Der Preis ist auch eine Anerkennung ihrer Arbeit. Großen Dank schulde ich auch meinem deutschen Übersetzer Werner Löcher-Lawrence für sein Talent, seine Genauigkeit und Ausdauer. Unermesslich viel verdanken das Buch und ich meiner Familie und einem kleinen Freundeskreis. Niemand hat mir während der Jahre meiner Reise durch die Seiten dieses Buches mehr geholfen als meine Frau Diana. Mit ihrem Intellekt und ihrem scharfen Blick wusste sie genau, wann ich ihren Zuspruch brauchte, wann ihre unsentimentale, einsichtige Kritik. Und natürlich danke ich den Juroren und Verantwortlichen dieses Preises. Ich nehme ihn mit großer Demut und Dankbarkeit an. Vielen Dank.
© Hisham Matar
Übersetzung aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Dankesrede von Hisham Matar (englisch)
Ladies and Gentleman, good evening. I am both moved and surprised by this award.
‘Intellectual independence’ is an interesting criterion for a literary prize. By making it the central quality you have diagnosed a significant danger; for isn’t it indeed unsettling how any artistic, political or moral position remains vulnerable to influence. Perhaps it is not a coincidence then that you chose to place the value of intellectual independence in direct conjunction with literature. It is a characteristic central to the art. A book must always sing its own tune. It is what many of us go to books for: to encounter an expression that is independent.
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I mean this not only in the obvious sense, of a literary work being uncorrupted by the need to adhere to a message, but also one free from a known outcome, free even of its own author’s intentions. So here the idea of intellectual independence is also, and perhaps more crucially, not only from popular currents or causes, from what we might call the mania of our time, but also from being employed for a specific purpose, marshalled toward a prescribed outcome. We go to literature, I think, in part to encounter a human consciousness, an intellect and spirit that is, paradoxically, caught unawares; to meet men and women embroiled in their own meditations and observations, running against their own hearts, and whose expressions extend their command. I don’t know why we do this: perhaps because it offers us a glimpse of our true nature. I don’t know if art makes us better. I believe it makes us more imaginative and therefore perhaps more tolerant. And perhaps tolerance and the imagination are connected to this idea of intellectual independence; that we cannot have one without the other. One thing I am sure of is literature’s singular ability to express the unsayable, to depict and sustain human contradiction and doubt. If I have been judged by you to do this in some small way then please know that this truly warms my heart.
Please know that the association that this prize makes between my work and the memory of Hans and Sophie Scholl touches me deeply. I hold the siblings, those spirits of conscience and integrity, in great regard. I am amazed by the extraordinary moral insight they had, together with their faith that the future belonged to them, that the Germany of tomorrow would be truer to their values than those espoused by Nazism. We need to remember their fearless steadfastness and faith in humanity. They and their fellow students, as well as some professors at the university, stood up when it truly counted. Their courage was matched by a gentle confidence that neither faltered nor was ever arrogant. Germany’s mature and self-critical engagement with the horrors of its past, that long and serious project which started after the fall of the Nazi regime and continues till today, has some of its roots in the Scholl siblings and the other young men and women of the White Rose group. Their actions went beyond their time and beyond the boarders of Germany. The siblings, who themselves were inspired by the example of others before them, gave heart to many of those around the world who resisted dictatorship. Thirty years after Hans and Sophie, university students in Libya were also writing and distributing leaflets critical of the Qaddafi dictatorship. They took great risks, and some also faced imprisonment and execution. They appear, these leaflets, in my first novel, IN THE COUNTRY OF MEN, and are glimpsed through the sensitive and confused gaze of a nine-year-old boy, Suleiman el-Dewani, growing up by the sea in Tripoli.
Somebody, a traitor, was printing leaflets criticizing the Guide and his Revolutionary Committees. They came in the middle of the night and placed them like newspapers on our doorsteps. I say somebody, but there must have been hundreds, maybe even thousands of men. The boys and I took turns staying up, hoping to catch sight of one. We imagined them to be all in black, masked and very fast. Ali claimed he saw one. Masoud whacked him across the head and said, 'If you lie about such things again I'll tell Baba.'
Everyone feared these leaflets and made a point of tearing them up in full view of their neighbours. Others, like Mama, took them inside only to watch them burn in the kitchen sink, then ran cold water over the ashes.
The morning before [our neighbour] Ustath Rashid was taken the boys and I were so bored we took the leaflets the traitors had left during the night and tossed them over the garden walls, where they immediately became, officially, inside people's houses. We only did this in neighbouring streets, where we didn't know anyone. We tied their light paper bodies to small stones and hurled them over the high walls like the way grenades were thrown in war films.
Let this occasion of my receiving the Geschwister Scholl Prize be a modest commemoration of Hans and Sophie Scholl and all those, known and unknown names, past and present, who have stood up to injustice and bigotry; all those who have a faith, greater than my own but to which I aspire, in human decency and compassion; those who believe in the power of the imagination to find common ground even with an enemy, and who are in constant remembrance of the basic and yet profound fact that the worst amongst us remains our brother or sister.
I would like to thank everyone at my German publisher, Luchterhand: particularly Georg Reuchlein and Christine Popp, who have stood by my work right from the start and have indeed become over the years dear and treasured colleagues. This prize is also recognition of their work. I owe a great debt of gratitude to my German translator, Werner Löcher-Lawrence, for his talent, rigour and persistence. The book and I owe an immeasurable amount to my family and small circle of friends. No one has helped me more during the years I was travelling through these pages than my wife Diana. Her intellect and sharp eye knew when to offer encouragement and when to be unsentimentally and insightfully critical. And, of course, I thank the board and the judges of the Prize. I accept it with the deepest humility and gratitude. Thank you.
Es gilt das gesprochene Wort.
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