Götz Aly, geboren 1947, ist Historiker und Journalist. Er arbeitete u.a. für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt.
Preisträger 2018
Götz Aly
Europa gegen die Juden
1880 - 1945
S. Fischer
München 2017
ISBN: 978-3-10-000428-4
Autor
Begründung der Jury
"Die Erforschung der Verbrechen des Nationalsozialismus hat der Historiker Götz Aly mit bedeutenden Büchern vorangetrieben, darunter ‚Vordenker der Vernichtung‘ (1991, mit Susanne Heim), ‚Hitlers Volksstaat‘ (2005) und ‚Warum die Deutschen, warum die Juden?‘ (2011). In seinem jüngsten Buch ‚Europa gegen die Juden. 1880-1945‘ zieht er eine Art von Summe – indem er eine markante These zu den Möglichkeitsbedingungen des Holocaust umfassend belegt und begründet, mit ganz Europa im Blick.
Der Antisemitismus war demnach nicht die Sache einer Minderheit von irrationalem Hass getriebener Fanatiker. Für die Verdrängung der Juden aus dem bürgerlichen Leben gab es rationale Gründe – rational im Sinne von: erklärbar, aus den materiellen Interessen derjenigen, die von der Beseitigung der Konkurrenz profitierten. Mit verblüffendem Effekt zitiert Aly aus der prophetischen Geschichtsschreibung des bayerischen Finanzbeamten Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 in Theresienstadt ermordet wurde. Es war möglich, den Holocaust vorauszusagen. Dann hätte er auch verhindert werden können. Und dann sollte es wenigstens möglich sein, ihn zu erklären.
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Der Neid auf die als besonders tüchtig wahrgenommenen Juden ist auch nach Aly nicht die einzige Ursache dafür, dass Vorurteile im Völkermord kulminierten. Aber von dieser Ursache ist zu selten die Rede: So hässlich der Neid aussieht, er ist mit Werten verknüpft, die heute noch hochgehalten werden. Einwanderungsbeschränkungen und Berufsverbote waren sozialpolitische Maßnahmen, die in Gesellschaften des massenhaften sozialen Aufstiegs im Namen der Chancengleichheit ergriffen wurden.
Heute wird in der Flüchtlingspolitik ein Widerstreit zwischen humanitären Imperativen und sozialstaatlichen Besitzständen beschworen. Alys Kapitel über die Konferenz von Évian 1938 liest sich in diesem Sinne als Lehrstück. Welche Lehre daraus zu ziehen ist, müssen Leserinnen und Leser selbst entscheiden. In einem Zeitungsartikel über Évian hat Aly in diesem Sinne den Historiker Aly vom Bürger Aly unterschieden.
Der Historiker hat die Forschung als Außenseiter geprägt, ohne Lehrstuhl und Apparat. Der Bürger sucht als Publizist den Streit, weil er auf dessen klärende Wirkung setzt. Manchmal streitet der Historiker Aly sogar mit dem Bürger Aly. Auch damit setzt Götz Aly ein Beispiel für geistige Unabhängigkeit und intellektuellen Mut.“
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Verleihung
Der 39. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 19. November 2018 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an Götz Aly verliehen. Oberbürgermeister Dieter Reiter (links) und Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde (Foto: Yves Krier). Die Laudatio hielt Patrick Bahners.
Der Laudator würdigte Aly als unabhängigen Geschichtsforscher im Geiste von Raul Hilberg, dem Autor des Standardwerks „Die Vernichtung der europäischem Juden“ und Geschwister-Scholl-Preisträger des Jahres 2002. Er verglich Aly mit dem Comic-Helden Asterix, der mit seiner List und seinem Witz den Geist der Résistance gegen die deutschen Besatzer verkörpere. „Frechheit siegt: Nach dieser Devise von Asterix muss auch Götz Aly an seine Arbeit gehen, weil er ein Einzelkämpfer ist. Ohne allen Apparat hat er es immer wieder mit einer Übermacht zünftiger Historiker aufgenommen.
Ansprache von Dieter Reiter
Ich begrüße Sie zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2018, den die Landeshauptstadt München zusammen mit dem Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vergibt. Zum 39. Mal wird damit heuer ein Buch prämiert, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“. Und das dabei im weitesten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert.
Der Geburtstag von Hans Scholl hat sich vor rund zwei Monaten zum 100. Mal gejährt. Als Mitbegründer und prägendes Mitglied der Weißen Rose hat Hans Scholl zusammen mit Alexander Schmorell Flugblätter gegen das NS-Regime verfasst. Auch seine Schwester Sophie schloss sich der Widerstandsgruppe an. Am 18. Februar 1943 wurden die Geschwister beim Verteilen des Stalingrad-Flugblattes in der Münchner Universität vom Hausmeister entdeckt und an die Gestapo ausgeliefert. Hans Scholl wurde im ersten Prozess vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz Roland Freislers zusammen mit seiner Schwester Sophie und dem mit ihm befreundeten Christoph Probst zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. Hans Scholls letzte Worte waren: „Es lebe die Freiheit!“ Das war heuer im Februar vor genau 75 Jahren.
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Worte waren die einzigen Waffen des Widerstandskämpfers Hans Scholl. Und das freie Äußern dieser Worte, seiner Meinung und der Wahrheit hat er mit dem Leben bezahlt. Er und die anderen Mitglieder der Weißen Rose sind moralische Vorbilder, Helden der Zivilcourage, die mutig die Verbrechen der Nationalsozialisten beim Namen nannten, während die große Mehrheit geschwiegen hat.
Die Flugblätter der Weißen Rose geben davon beredtes Zeugnis – auch was den Holocaust betrifft. Zu einer Zeit, als die meisten Deutschen weggeschaut oder ihre Mitschuld verdrängt haben oder gleichgültig geblieben sind, da haben Hans Scholl und Alexander Schmorell den Massenmord an den Juden angeprangert. Im zweiten Flugblatt vom Sommer 1942 heißt es dazu unter anderem: „Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschengeschichte an die Seite stellen kann.“
Dieses einmalige Menschheitsverbrechen steht auch im Zentrum der wissenschaftlichen Arbeit von Götz Aly. Wobei seine Forschung um die Frage kreist, wie der Mord an sechs Millionen Juden hat geschehen können. Und dabei stellt der Historiker immer wieder unbequeme Fragen. Denn seine Antworten liegen abseits einer Metaphysik des Bösen oder der Beschwörung der Unerklärbarkeit. Stattdessen verweist er auf die Abgründe, die in der Normalität liegen, auf die Rationalität und die materiellen Interessen, die hinter der Vernichtungspolitik standen.
Götz Aly geht es um die alltägliche Begründung des Grauens. Und dazu nimmt er die einfachen Motive in den Blick: Kleinmut, Vorteilsnahme und Angst vor Freiheit und Verantwortung. Von Großtheorien, die immer auch die Möglichkeit zur Entlastung bieten, hält er dagegen wenig. Paradebeispiel dafür ist sein bis jetzt wohl erfolgreichstes Buch, „Hitlers Volksstaat“ von 2005, in dem er den NS-Staat als „Gefälligkeitsdiktatur“ bezeichnet, die sich durch Umverteilung und sozialpolitische Wohltaten vor allem die Loyalität der Mehrheitsbevölkerung gesichert habe. Finanziert freilich unter anderem durch die Ausplünderung der Juden und die Ausbeutung der besetzten Länder.
Mit seinen mutigen Thesen hat Götz Aly einige Gewissheiten der Holocaustforschung ins Wanken gebracht und zu neuen Erkenntnissen geführt. Aber natürlich ist er auch Reizfigur als Quereinsteiger ohne Lehrstuhl und Apparat. Und wird infolgedessen immer wieder zumindest kontrovers diskutiert, wenn nicht sogar von scharfem Widerspruch begleitet. In jedem Fall aber beleben seine Quellenfunde, seine akribisch herausgearbeiteten Thesen und sein zuspitzendes Temperament das Forschungsfeld immer wieder aufs Neue.
Und natürlich ist sich Götz Aly in dieser Hinsicht auch mit seinem jüngsten Buch treu geblieben, mit „Europa gegen die Juden 1880-1945“, das wir heute mit dem Geschwister-Scholl-Preis auszeichnen und das den Blick weitet auf die europäische Dimension und die Kontinuitäten von Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt gegen Juden. Auch für diese Publikation hat Götz Aly neben viel Anerkennung auch harsche Kritik geerntet und sich damit einmal mehr als der „fortwirkende Ruhestörer im Gedankenhaushalt der Nation“ gezeigt, als den man ihn bezeichnet hat. Und als den man ihn schätzen gelernt hat, denn gemeint ist das selbstverständlich als Kompliment und genauso meine ich es auch.
In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen, sehr geehrter Herr Aly, ganz herzlich zum Geschwister-Scholl-Preis 2018!
© Dieter Reiter, Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Ansprache von Michael Then
Guten Abend verehrte Gäste, herzlich Willkommen zur Verleihung des Geschwister Scholl Preises 2018. Ich begrüße besonders den Oberbürgermeister der Stadt München, Herrn Dieter Reiter, den Laudator Patrick Bahners und vor allem Sie verehrter Götz Aly, dem ich als Vorsitzender des Börsenvereins Landesverband Bayern besonders herzlich zu diesem Preis gratuliere. Dieses Jahr zeichnen wir einen Denker aus, für den es im Jiddischen einen wunderbaren Ausdruck gibt: Penmentsch. Mit dem Federmenschen, so die Übersetzung, ist der Literat, der Homme de Lettre gemeint, denn, so ein jiddisches Sprichwort, „Die Feder schießt schärfer als ein Pfeil.“ Und ich möchte hinzufügen, dass mit der Schärfe nicht die Polemik, sondern die Tiefe der Analyse gemeint ist.
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Sie, verehrter Götz Aly, haben zu Recht darauf hingewiesen, dass der Neid auf die als besonders tüchtig wahrgenommenen Juden nicht die einzige Ursache dafür ist, dass Vorurteile im Völkermord kulminierten. Da der Neid aber ein wichtiger Baustein war, über den zumeist geschwiegen wird, nehme ich den heutigen Abend zum Anlass, um darüber zu sprechen.
Neid, meine sehr geehrten Damen und Herren, war für den Philosophen Arthur Schopenhauer eine "giftige Kröte", für Shakespeare ein "grünäugiges Monster" und für die katholische Kirche eine Todsünde.
Der Neid und seine Kinder, die Schadenfreude, üble Nachrede, Intoleranz, Denunziation, namenlose Bosheit, kaltblütige, aber heimliche Feindseligkeit, ohnmächtiges Begehren, verborgener Groll und Gehässigkeit heißen, führen letztendlich, wie schon Erich Kästner bemerkte:
Der Neid, der keinen Weg sieht, begibt sich auf den einzigen Ausweg: ins Verbrechen.
Wie eng Neid und Antisemitismus miteinander verbunden sind, belegt Götz Aly in seinen Büchern eindrücklich. Die Ursachen und Folgen hat der Autor bereits mit seinem 2011 erschienenen Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 – 1933“ beschrieben und er setzt die Analyse in seinem aktuellen Buch „Europa gegen Juden. 1880-1945“ fort. Wie ein roter Faden zieht sich die Beschäftigung mit dieser „giftigen Kröte“ durch seine Arbeiten.
Antisemitismus aus Neid. „Kauft nicht bei Juden“ war schon 1884 die Parole mit der in der Ukraine die ersten Pogrome begannen. Verbunden wurde der Neid mit Ausgrenzung und Regulierung. In immer wieder neuen Gesetzen und Verordnungen begann die schleichende Isolierung der Juden. Befeuert wurde Europas Hass auf die Juden von einem übersteigerten Nationalismus. Er prägte das Denken in ethnischen Kategorien – und damit wurden Juden zu einer Gruppe abgestempelt, die angeblich ‚anders‘ sei. Erst als eine solche Gruppe konnten sie vollends ins Fadenkreuz geraten. Und in ihnen fand die menschenverachtende Mischung aus Neid und Nationalismus ihre wehrlosesten Opfer.
Die Statuten des Geschwister Scholl Preises legen fest, dass Bücher ausgezeichnet werden sollen, die bürgerliche Freiheit und moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut fördern.
Heißt, dass die ausgezeichneten Bücher, auch wenn sie historische Stoffe behandeln, einen Bezug zum Verständnis der Gegenwart, ja vielleicht der Zukunft herstellen. Gemeint ist damit aber nicht der einfache Analogieschluss, dass die historische Untersuchung von Götz Aly dazu dient, den heutigen Antisemitismus zu erklären. Grundsätzlich ist der Autor skeptisch bei der Frage nach den aktuellen Bezügen, muss er doch süffisant konstatieren:
Wir lernen aus dem Dritten Reich nur wenig für die Gegenwart, die ist immer anders. Thilo Sarrazin zum Beispiel liebt die zuwandernden Juden ausdrücklich wegen ihrer Intelligenz.
Entscheidender ist aber, was die ausgezeichneten Bücher dem Leser sagen und inwieweit die Beantwortung der Frage, warum die sicherlich emotional nicht einfache Lektüre dem Leser wobei helfen könnte? Mit diesen Fragen stoßen wir zum Kern des Preises vor und dem kleinen Wort „fördern“. Bücher wie die von Götz Aly sollen eine Hilfestellung sein, dem Leser, der Leserin also/bzw. auch dem politisch denkenden und handelnden Menschen das Verstehen zu erleichtern.
Mit Verstehen ist nicht gemeint, dass damit irgendetwas entschuldigt ist, sondern lediglich ein Prozess beschrieben, der das Zusammenleben der Menschen überhaupt erst ermöglicht, kommt doch nach dem Verstehen, das Zuhören und Reden, und wir alle sehen, dass überall da, wo das Reden endet, Gewalt beginnt.
Hannah Arendt hat in ihrem Essay „Verstehen und Politik“ zu Recht darauf verwiesen, dass dieser Prozess oftmals dahingehend verwechselt wird, dass „viele Wohlmeinende denken, dass Bücher Waffen sein könnten und denken, man könne mit Worten kämpfen. Waffen aber und das Kämpfen gehören zum Betätigungsfeld der Gewalt, und Gewalt ist im Unterschied zu Macht stumm (...) Worte, die zum Zwecke des Kämpfens benutzt werden, verlieren ihre Redequalität, sie werden Klischees. Das Ausmaß, in dem sich Klischees in unsere gewöhnliche Sprache und alltäglichen Diskussionen eingeschlichen haben, mag sehr wohl anzeigen, bis zu welchem Grad wir uns nicht nur der Fähigkeit der Rede beraubt haben, sondern auch bereit sind, Gewaltmittel, die noch wirkungsvoller sind als schlechte Bücher (ohnehin können nur schlechte Bücher gute Waffen sein), zur Beilegung unserer Meinungsverschiedenheiten zu gebrauchen.“
Genau das Gegenteil zeichnen die Bücher von Götz Aly aus, sie helfen uns zu verstehen, jenseits von Klischees. Sie sind geschriebenes Wissen. Nur zur Sicherheit: Wissen und Verstehen sind nicht dasselbe, aber sie sind miteinander verbunden. Verstehen ist auf Wissen aufgebaut, und Wissen kann nicht ohne vorausgehendes Verstehen passieren, heißt: nur wenn ich beide Seiten einer Medaille in meinen Betrachtungen zulasse, kann ich verstehen. Nichts ist dafür besser geeignet als Bücher und Lesen. Durch die Bücher des Preisträgers erlesen wir uns Wissen, dass uns hilft zu verstehen, wie Neid und Antisemitismus eine unheilvolle Verbindung Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eingingen und so der Treibstoff für über 2000 Pogrome wurden, aber auch für den Holocaust, und da sind die Worte von Götz Aly klar und eindeutig:
„Mehrheitlich fanden es die Deutschen aber wünschenswert, dass diese vorlauten, sich angeblich vordrängelnden Juden einen Dämpfer bekommen sollten“,
so Götz Aly in einem Interview zu seinem Buch. Genau diese Aufgabe übertrugen sie 1933 dem nationalsozialistisch geführten Staat:
„Neid entsteht aus Schwäche, Kleinmut, mangelndem Selbstvertrauen, selbstempfundener Unterlegenheit und überspanntem Ehrgeiz, deswegen verbirgt der Neider seinen unschönen Charakterzug schamhaft. Er lehnt lauthals ab, es dem Beneideten gleichzutun. […] geht es ihm an den Kragen, genießt der Neider stille Schadenfreude. […] Die Leute haben ihren Hass 1933 – ihren verborgenen Hass, ihren kleinen bösen Neid – an den Staat abgetreten, sozusagen die Vollmacht erteilt: Mach doch du, lieber Staatsapparat, mit den Juden, was ihnen gebührt – uns kümmert das nicht so genau.“
So werden die Mechanismen sichtbar und wir sehen plötzlich die Bezüge zur Gegenwart, ohne dass Geschichte dahingehend missbraucht werden kann, das eigene Verhalten zu entschuldigen oder historische Ereignisse zu relativeren.
Damit wird aber auch klar, dass „Fliegenschiss“, „Asyltourismus“,“ Lügenpresse“ oder „Sozialschmarotzer“ kein Wissen und Verstehen implizieren, sondern lediglich auf den Intellekt des Sprechers verweisen und seine Absichten.
Neid und Antisemitismus gedeihen, wenn wir schweigen und die Zeichen der Zeit ignorieren. Einwanderungsbeschränkungen und Berufsverbote waren sozialpolitische Maßnahmen, die in Gesellschaften des massenhaften sozialen Aufstiegs im Namen der Chancengleichheit im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ergriffen wurden. Heute wird in der Flüchtlingspolitik ein Widerstreit zwischen humanitären Imperativen und sozialstaatlichen Besitzständen beschworen. Alys Kapitel über die Konferenz von Évian 1938 liest sich in diesem Sinne wie ein Lehrstück.
Eine Beobachterin der Konferenz war die spätere Ministerpräsidentin Israels Golda Meïr. Sie schrieb nach dem Krieg in ihrer Autobiographie „Mein Leben“, dass das Versagen der Politiker, in der Unfähigkeit der Delegierten lag, die Größe und Dringlichkeit des Problems zu begreifen:
„Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“
Götz Aly und seine Bücher sind wahrlich keine leichte Kost, die Beschreibungen der europaweiten Gräuel, begangen von ganz normalen Menschen an den Juden, lassen den Leser fast verzweifeln. Aber gerade darum sind sie ein Wissensgrund, auf dem Verstehen entstehen kann. Damit wird uns keine Entscheidung abgenommen, wie wir mit dem aktuellen neidgetriebenen Antisemitismus oder Rassismus umzugehen haben. Auch ist damit nicht gesagt, welche Bücher wir zum Verstehen noch lesen sollten, vielleicht sogar mit Widerwillen, gegen den eigenen Geschmack, um aber Wissen zu vergrößern.
Die Bücher des Preisträgers helfen uns, Handlungen vorzubereiten und Sätze zu formulieren, die frei sind von Klischees wie der Satz der Geschwister Scholl aus dem zweiten Flugblatt: Wie schweigen nicht!
Ihnen verehrtes Publikum danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und ihr offenes Ohr.
Und Ihnen sehr geehrter Penmentsch Götz Aly danke ich im Namen aller Gäste für ihre scharfe Feder.
© Michael Then, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V.
Es gilt das gesprochene Wort.
Die Rede ist urheberrechtlich geschützt. Wenn Sie die Rede oder Teile daraus für eine Veröffentlichung nutzen möchten, wenden Sie sich bitte an die Geschäftsstelle des Börsenvereins - Landesverband Bayern. Wir sind Ihnen bei der Klärung der Rechtefrage gerne behilflich.
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Laudatio von Patrick Bahners
Vor sechzehn Jahren, am 2. Dezember 2002, wurde hier in der Großen Aula der Universität der Geschwister-Scholl-Preis an Raul Hilberg verliehen. Der damals sechsundsiebzigjährige, fünf Jahre später verstorbene Pionier der Holocaustforschung hätte schon viel früher ausgezeichnet werden können. Sein epochemachendes, aus den Akten gearbeitetes Werk über „Die Vernichtung der europäischen Juden“ erschien in deutscher Sprache erst 1982, einundzwanzig Jahre nach dem amerikanischen Original. Aber weil es ein Berliner Kleinverlag war, der das Risiko der Übersetzung der 798 eng bedruckten Seiten auf sich genommen hatte, blieb diese Ausgabe fast ohne Resonanz in der deutschen Öffentlichkeit. Das änderte sich erst, als der Fischer-Verlag das Werk 1990 in sein Taschenbuchprogramm aufnahm – der Verlag, in dem auch das Buch erschienen ist, für das Götz Aly heute der Geschwister-Scholl-Preis des Jahres 2018 verliehen wird.
Die verzögerte Rezeption von Hilbergs Grundlagenforschung ist längst ihrerseits Thema der zeitgeschichtlichen Forschung geworden, als Exempel der Verdrängung, die das Verhältnis der Deutschen zu den vom Deutschen Reich ins Werk gesetzten Völkermorden über mehrere Generationen prägte. Dieses Verdrängen darf man sich ebenso wenig als anonymen Prozess, als schicksalhaftes Geschehen vorstellen wie das Verdrängte selbst, die Ketten von Handlungen und Unterlassungen, deren Bilanz sich auf Millionen von Ermordeten beläuft.
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Hilbergs Buch war schließlich in der Welt, es lag auf den Schreibtischen von Experten, von Lektoren und Wissenschaftlern, die arbeitsteilig, wie es für die Verlagswelt charakteristisch ist, darüber entschieden, ob es eine deutsche Fassung geben sollte oder nicht. Die Entscheidung, keine deutsche Übersetzung in Auftrag zu geben, dafür lieber kein Geld auszugeben, wurde in den zwei Jahrzehnten zwischen dem Eichmann-Prozess und der Wahl des promovierten Historikers Helmut Kohl zum Bundeskanzler gleich mehrfach getroffen, in mehreren Verlagen, auch hier in der Verlagsstadt München.
Als vor einem Jahr in Berlin eine internationale Tagung über Leben und Werk von Raul Hilberg stattfand, sprach Götz Aly über dieses Thema: die Verhinderung der Eindeutschung von „The Destruction of the European Jews“ und die Rolle, die dabei eine für Forschungen zu den Verbrechen der Hitlerzeit von Amts wegen zuständige Institution spielte, das Institut für Zeitgeschichte. Das Institut wurde 1949 unter dem Namen Deutsches Institut für Geschichte der nationalsozialistischen Zeit hier in München gegründet und hat einen doppelten Auftrag. Es betreibt nicht nur eigene Forschungen, sondern soll auf die öffentliche Diskussion über Lektionen aus der nationalsozialistischen Zeit aufklärerisch einwirken.1963 hatte der Droemer Knaur Verlag die deutschen Rechte an Hilberg Buch erworben.
Zwei Jahre später kündigte Droemer Knaur den Vertrag. Im Kündigungsbrief wurde der Verzicht auf die Publikation als Vorsichtsmaßnahme dargestellt – zur Abwehr des Antisemitismus. Wie der Cheflektor Fritz Bolle dem Autor erläuterte, könnten dessen Erkenntnisse über die Funktion der Judenräte bei der Organisation der Deportationen von „Böswilligen“ benutzt werden. Es sei daher politisch geboten, das Buch den Deutschen vorzuenthalten – „trotz der grauenhaften Details über die Vernichtung der Juden“.
Fritz Bolle war Götz Aly schon einmal begegnet, in ganz anderen Akten, im Zusammenhang seiner Forschungen über die Zwangsarbeit, den mörderischen Menschenverbrauch der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Bis zum 13. April 1945 hatte Bolle als Direktionsassistent einer unterirdischen Triebwerksfabrik in Thüringen gearbeitet, in der Hunderte von Sklavenarbeitern aus dem Konzentrationslager Buchenwald zu Tode kamen. Seit 2015 ist bekannt, dass Droemer Knaur sich bei der Auflösung des Lizenzvertrags auf ein negatives Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte stützen konnte.1979 strahlte das Erste Programm des deutschen Fernsehens die amerikanische Serie „Holocaust“ aus. Wegen des großen Erfolges dieses Importprodukts erwog der Verlag C. H. Beck, Hilbergs Standardwerk ins Programm zu nehmen.
Zwei Jahrzehnte später brachte Beck das zweibändige Werk „Das Dritte Reich und die Juden“ von Saul Friedländer heraus, für dessen ersten Band Friedländer den Geschwister-Scholl-Preis des Jahres 1998 erhielt. Beck hat das gebildete Lesepublikum für die Geschichtswissenschaft zurückgewonnen; der Münchner Verlag ist heute das Stammhaus für die prominentesten Fachhistoriker wie Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler und Ulrich Herbert. Die Neuorientierung des Verlagsprogramms, die Wiederentdeckung der Geschichte, hätte auch mit Raul Hilberg einsetzen können statt mit Thomas Nipperdeys „Deutscher Geschichte“ von Napoleon bis Bismarck. Warum wurde diese Chance verpasst?Zur Vorbereitung seines Vortrags auf der Berliner Hilberg-Tagung reiste Götz Aly nach München und sprach im Institut für Zeitgeschichte vor. Er wusste nicht, was er dort finden würde, denn es war ungewiss, ob er etwas finden würde. Mit dem Antritt dieser Reise handelte er nach der Maxime, die ihn auch bei der Arbeit an der langen Serie seiner Bücher geleitet hat, der Untersuchungen über die Euthanasiemorde, den Entscheidungsweg zum Holocaust und den Volkswohlfahrtsstaat der Nationalsozialisten.
Alle diese Bücher nahmen von unbekannten Quellen ihren Ausgang. Alys Maxime lautet: Man kann ja nie wissen.So ging er in die Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte, trug sich ins Benutzerverzeichnis ein und bat um Vorlage der Raul Hilberg betreffenden Institutsakten. Und siehe da: Er wurde fündig. Eine der Akten, die man ihm aushändigte, enthielt ein Gutachten, welches das Institut für Zeitgeschichte im Auftrag des Verlags C. H. Beck erstellt und am 1. Februar 1980 abgeliefert hatte. Der Tenor: Bald nach dem Erscheinen der Originalausgabe von 1961 wäre eine Übersetzung „zweifellos sinnvoll und – unter politisch-pädagogischem Aspekt – hilfreich gewesen“. Doch inzwischen sei das Werk veraltet, weil es die Ergebnisse der seither publizierten „Spezialliteratur“ nicht berücksichtige.
1964 hatte das Institut von einer deutschen Ausgabe abgeraten, weil „die wesentlichsten, wenn auch nicht alle Fakten über die Endlösung dem deutschen Publikum“ ohnehin schon „vertraut“ seien. Das spätere Urteil, dass eine deutsche Fassung im Gegenteil zweifellos sinnvoll gewesen wäre, lässt sich bei wohlwollender Bewertung als Ergebnis eines Lernprozesses bezeichnen. Leider eines nur zu typischen, nämlich hoffnungslos verspäteten Lernprozesses, aus dem für die Praxis nichts mehr folgen sollte.Ob die Kriterien für einen Lernerfolg wenigstens im kognitiven Sinne erfüllt sind, ist überdies zweifelhaft: Was in den Akten fehlt, ist ein Eingeständnis des eigenen früheren Irrtums.
Vergesslichkeit kann dieses Versäumnis nicht erklären. Die mit der Ausarbeitung des Gutachtens von 1980 befasste Institutsmitarbeiterin erwähnte, dass sie selbst 1964 eine Teilübersetzung von Hilbergs Buch für institutsinterne Zwecke angefertigt hatte. Typisch für den Realismus des Sozialhistorikers Aly ist die Beobachtung, dass einer der wenigen damals im Institut beschäftigten Frauen besonders undankbare Aufgaben übertragen wurden, zunächst die Arbeitsübersetzung eines Hilfsmittels und später eine Rezension für den Dienstgebrauch.
Aly war nie in einem Forschungsinstitut angestellt, sondern hat in Berlin als Leiter eines Jugendheims in staatlicher Trägerschaft gearbeitet, bis zu seiner Entlassung aufgrund des Radikalenerlasses der Regierung Brandt, sowie in Zeitungsredaktionen, als einer der Gründer der „taz“ und nach der Wiedervereinigung bei der „Berliner Zeitung“. Dort gehörte er zu einem Kreis von Journalisten mit einem besonderen Talent für den kunstgerechten, auch polemischen Disput, die den Auftrag hatten, die einstige Ost-Berliner Bezirkszeitung der SED, das Hausblatt der abgewickelten Regierungsschicht, auf dem Weg einer Revolution von oben umzukrempeln. In Anspielung auf die Münchner „Nordlichter“, die Professoren, die König Maximilian II. nach Bayern holte, um den Anschluss an die protestantische Wissenschaftskultur herzustellen, möchte ich die Kollegen, zu denen Jens Jessen und Gustav Seibt zählten, die Berliner Westlichter nennen.
Alys Erfahrungen in der Arbeit für das Amt für Jugendpflege der Abteilung Jugend und Sport des Bezirksamts Spandau lieferten den Stoff der sozialwissenschaftlichen Doktorarbeit, die er 1978 an der Freien Universität Berlin einreichte. Aly weiß: Arbeitsorganisation ist eine Sache der Machtverteilung, gerade dort, wo der Einsatz für eine gemeinsame Sache die Arbeitskräfte motivieren soll. So möchte er die langjährige Blockade von Hilbergs deutschem Lesermarktzugang durch die Torwächter des Instituts für Zeitgeschichte auch nicht mit ideologischen Motiven des Institutspersonals erklären, dem Willen, den Holocaust zu leugnen oder wenigstens kleinzureden, sondern aus einer nicht weiter geheimnisvollen Verhaltensdisposition: dem Interesse an der Abwehr eines auf dem gleichen Forschungsfeld arbeitenden Konkurrenten.
Die Einhegung lästiger Konkurrenz ist ein Leitmotiv von Alys Untersuchungen zur Genese der Theorie und Praxis des Antisemitismus, auch in seinem 2017 erschienenen, mit dem diesjährigen Geschwister-Scholl-Preis gewürdigten Buch „Europa gegen die Juden“. Ein Numerus clausus für jüdische Studenten oder Zulassungsbeschränkungen für jüdische Rechtsanwälte und Ärzte: Solche Einschränkungen der Gleichheit vor dem Gesetz, zeigt Aly, wurden schon vor 1933 in vielen europäischen Ländern eingeführt oder doch eingefordert. Nicht nur die Deutschen nahmen die Juden als besonders fleißig und besonders schlau und daher als gefährlich wahr – und an dieser Wahrnehmung war tatsächlich etwas Wahres. Denn Juden wurden nicht in die Netzwerke des Führungskräftenachwuchses hineingeboren, sondern mussten sich in den ersten Generationen nach der Emanzipation ihre Stellung erst erarbeiten.
Typischerweise setzten sie alles auf die Bildung.Der Gegensatz zwischen dem eifrigen jüdischen Außenseiter und dem Establishment, das nicht auf ihn gewartet hat, begegnet nun im Fall von Einzelforschern wie Joseph Wulf und Hans G. Adler, die sich früh um eine Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte bemühten, in einer makabren, wenn bei diesem Gegenstand Abstufungen erlaubt sind, einer besonders perversen Variante. Denn der Arbeitseifer dieser gelehrten Jäger und Sammler hatte seinen Grund in ihren Lebensgeschichten – Überlebensgeschichten: Ihrem Startvorteil eines besonderen persönlichen Interesses am Thema korrespondierte die Befangenheit der vom deutschen Staat alimentierten Institutshistoriker, die ihre Arbeiten rezensierten und begutachteten.In diesen Gutachten fand eine Verschiebung des Handicaps statt: Den Sachwaltern der Opfer wurde bescheinigt, man könne von ihnen keine wissenschaftliche Objektivität erwarten.
Ein Mangel an formaler professioneller Bildung wurde Autoren vorgehalten, die unter die nur durch den Sieg der Alliierten aufgehobenen Berufsverbote für Juden gefallen waren. Nach dem Schema des vermeintlichen Gegensatzes von wissenschaftlicher Sachlichkeit und persönlicher Opferperspektive wehrte das Institut für Zeitgeschichte noch Anfang 2016 die prinzipielle Kritik ab, die der Germanist Jeremy Adler, der Sohn von Hans G. Adler, an der kommentierten Ausgabe von „Mein Kampf“ angebracht hatte.Aly hat in diesem zweibändigen Kommentar Spuren des Habitus ausgemacht, der sich im Münchner Umgang mit Hilberg zeigte, einer Mischung aus „Angst und Dünkel“: Penibel weise man „Hitlers Lügen, Irrtümer und Halbbildung“ nach, „als ob das entscheidend“ wäre – „und nicht die Tatsache, dass ein Gros der deutschen Akademiker einschließlich der Juristen und Historiker ihm als Führer folgten“.
Wo man Gefolgschaft erwartet, wird Avantgardismus prämiert. Eine der klärenden Kontroversen, die Götz Aly dank dem ganz und gar auf Arbeit beruhenden Finderglück des Quellenforschers auslöste, betraf die Historiker unter Hitler. Gemeinsam mit Susanne Heim, die 2013 die Laudatio auf den Geschwister-Scholl-Preisträger Otto Dov Kulka hielt, wies Aly nach, dass unter den „Vordenkern der Vernichtung“, den Planungseuphorikern einer Lebensraumpolitik aus der universitären Schublade, auch spätere Protagonisten einer Modernisierung der deutschen Geschichtswissenschaft gewesen waren.
Auf dem Frankfurter Historikertag von 1998, auf dem Aly und die nach eigenem Selbstverständnis besonders „kritischen“ Schüler dieser Professoren aufeinandertrafen, wurde es laut wie auf studentischen Vollversammlungen dreißig Jahre zuvor. Reichen Stoff für Alys Sarkasmus bot ein akademischer Großunternehmer wie Hans-Ulrich Wehler, der in der reformuniversitären Gründerzeit die Losung ausgegeben hatte, dass jeder Wissenschaftler seine Vorurteile in die Vorworte schreiben müsse, und der nun seinem verstorbenen Lehrer Theodor Schieder den impliziten Lernprozess der stillschweigenden Wandlung zum Demokraten zugutehielt.
Aly, 1947 geboren und damit sechzehn Jahre jünger als Wehler, verkörpert sozusagen, wie man in seiner Jugend gesagt hätte, das unabgegoltene utopische Potential der „kritischen“ Historikerschule. Denn bei Götz Aly ist alles explizit. Will sagen: ausbuchstabiert, belegt und begründet, in der Wortwahl deutlich oder vorsichtshalber lieber überdeutlich.
Eine Sache ausdiskutieren! Wer bei Achtundsechzigern in die Schule gegangen ist, wird diese Forderung wohl stets mit einem gewissen Unbehagen vernehmen. Götz Aly, geschult in den Fraktionskämpfen des Berliner Linksradikalismus der frühen siebziger Jahre, kann sie nicht schrecken: Er hält in alter Frische bis zum Ende jeder Debatte durch, weil er immer noch einmal etwas Neues parat hat, und zwar etwas wirklich Neues, ein dialektisches Argument, das eine Änderung der Blickrichtung vorschlägt, oder eine bislang unbeachtete Quelle.
Raul Hilberg stellte 2002 an den Anfang seiner Dankesrede für den Geschwister-Scholl-Preis den Gedanken, dass die Geschichtsforschung gar nicht so leicht sagen kann, „aus welchen Erwägungen in der damaligen Zeit irgendein Widerstand überhaupt zu Stande kam“. Denn wo er gewagt wurde, ist eines offensichtlich: „Die Teilnehmer waren sich im Klaren, was sie zu tun hatten.
“Eines der schönsten Denkmäler des Widerstands gegen die deutschen Besatzer ist die Comicserie „Asterix“ von René Goscinny und Albert Uderzo. Der Geist der Résistance hat sich hier mit unwiderstehlicher Eleganz verewigt, im Modus der Selbstironie. Im ersten Album entführen die Römer den Druiden Miraculix, den Oberpriester, Chefintellektuellen und Hüter der Überlieferung des gallischen Dorfes. Im römischen Lager Kleinbonum liegt Miraculix angekettet auf einem Folterbrett in einem Zelt, vor dem Tag und Nacht zwei Schildwachen postiert sind. Wie soll Asterix zu ihm gelangen? Er schleicht sich in der Nacht ins Lager und spaziert zwischen den Wachtposten hindurch ins Zelt des Gefangenen. Die Wächter begrüßt er höflich, indem er die Absicht seines Besuches explizit macht: „Ist’s gestattet? Ich will nur meinen Freund Miraculix befreien.“
Er ist sich im Klaren, was er zu tun hat. Vorher haben wir in einer Denkblase das Motto lesen können, unter das der gewitzte Partisan seine Operation gestellt hat: „Frechheit siegt!“Das, meine Damen und Herren, ist auch die Devise unseres heutigen Preisträgers, der gallischen Witz in die engen gotischen Zimmer der deutschen Wissenschaft hineinträgt. Frechheit siegt: In dieser Überzeugung muss Götz Aly an seine Arbeit gehen, weil er ein Einzelkämpfer ist. Wenn er eine Akte aus dem Institut für Zeitgeschichte benötigt, kann er keine Hilfskraft schicken. Er muss sich schon selbst herbemühen und selbst hineinspazieren in den brutalistischen Bunker des Institutsgebäudes in der Leonrodstraße. In Berlin sitzt Aly nicht auf einem Feldherrnlehrstuhl, von dem aus er ein Heer von Doktoranden dirigieren könnte und mit Drittmitteln angeworbene Hilfstruppen von Söldnern. Ohne allen Apparat hat er es immer wieder mit einer Übermacht zünftiger Historiker aufgenommen, die beim gemeinschaftlichen Angriff die aus dem Album „Asterix und Kleopatra“ bekannte gefürchtete Schildkrötenpanzer-Taktik der römischen Legionäre anwenden und beim individuellen Rückzug die wirkungsvolle Hasenfuß-Taktik.
Nun mag man meinen, es sei doch keine Frechheit, in einem vom Staat unterhaltenen Forschungsinstitut die Herausgabe einer Akte zu verlangen. Aber wenn Aly findigen Gebrauch von seiner wissenschaftlichen Freiheit machte, trug ihm das immer wieder den Vorwurf der Beleidigung akademischer Majestäten ein.
Andreas Wirsching, der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Nachfolger und Schüler von Horst Möller, der 1980 dem Beck-Verlag das abratende Gutachten zu Hilberg übersandt hatte, antwortete in einem Zeitungsartikel auf Alys Hilberg-Vortrag, den die „Süddeutsche Zeitung“ noch während der Tagung gedruckt hatte. Wirsching bezichtigte Aly, einen Eklat vom Zaun gebrochen zu haben durch Skandalisierung eines längst bekannten „Gutachtenfragments aus den frühen Sechzigerjahren“. Dass Aly ein weiteres, späteres, bislang unbekanntes Gutachten bekannt machte, unterschlug der Direktor. Man sieht: Alys Frechheit ist notwendig als Abwehrwaffe gegen solche Dreistigkeit, gegen das unfeine Schweigen, das die Behäbigkeit eines in amtlichem Auftrag tätigen Forschungsbetriebs kaschiert, dessen Manager sich auch zum Diskussionsmanagement berufen glauben.
Hans Mommsen belegte in seiner Laudatio auf Raul Hilberg die Produktivität von dessen Anstößen unter anderem mit der „Intensivierung der Regionalstudien“, wie sie die „unentbehrlich gewordenen Untersuchungen von Götz Aly“ dokumentierten. Statt von Regionalisierung kann man auch von Europäisierung der Holocaustforschung sprechen und dasselbe damit meinen. Es geht um Untersuchungen, die einerseits am Ort des mörderischen Geschehens ansetzen und die lokalen Entscheidungsabläufe ermitteln. Andererseits richtet Aly seinen Blick auf europäische Voraussetzungen der deutschen Taten, auf ethnische Mustersäuberungen oder flüchtlingspolitische Wegmarken. Die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden zu schreiben heißt Wechselwirkungen und Kettenreaktionen zu studieren.
Eine Summe dieser Studien Götz Alys zieht sein Buch „Europa gegen die Juden“, wie alle seine Bücher ein originärer Beitrag zur Forschung, der aus unbekannten Quellen schöpft, und zugleich wie alle seine Bücher an uns alle gerichtet, an das große, demokratische Publikum.
Mommsen wies vor sechzehn Jahren darauf hin, dass man noch in der damals neuesten deutschen Forschung den Vorwurf gegen Hilberg finde, dessen Betonung der „arbeitsteiligen Täterschaft“ verdecke die individuelle Verantwortlichkeit. Das Gegenteil ist richtig, und das gilt für Aly ebenso wie für Hilberg. Nur wer das Arbeitsteilige der Planung, Begehung und Ausnutzung der Tat erkennt, kann die individuellen Tatanteile bemessen. In seinen Bilanzüberschlägen zum millionenfachen Raubmord hat Götz Aly uns vor Augen geführt, dass kein deutscher Staatsbürger sich heute davon freisprechen kann, vom Holocaust möglicherweise profitiert zu haben. Es bleibt die Schuld, die von allen beglichen werden muss. Götz Aly ist sein Arbeitsleben lang in Vorleistung getreten. Wir zeichnen heute „Europa gegen die Juden“ aus, aber sein nächstes Buch zum Thema ist schon fast fertig.
© Patrick Bahners
Es gilt das gesprochene Wort.
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Dankesrede von Götz Aly
Warum blieb die weiße Rose so isoliert?
Für den 18. Februar 1943 vermerkt die geschichtliche Chronik zwei im Rückblick wichtige Ereignisse: Um 11.00 Uhr legten die Studenten Hans und Sophie Scholl in der Münchner Universität regierungsfeindliche Flugblätter aus und wurde dabei von einem pflichtbewussten Hausmeister erwischt; um 17.00 Uhr hielt Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast jene Rede, die in der Frage gipfelte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“. Goebbels reagierte auf Stalingrad, rief zum entschlossenen Kampf auf und stellte schließlich diese, in wildes Ja-Geschrei mündende Frage: „Seid ihr damit einverstanden, dass, wer sich am Kriege vergeht, den Kopf verliert?“ Über den Reichsrundfunk erreichte die Rede viele Zehnmillionen Hörerinnen, Hörer und Soldaten.
Wie Goebbels antworteten die zum Aufbegehren entschlossenen jungen Leute der Weißen Rose auf die Katastrophe von Stalingrad. Sie verstanden sie als Menetekel, das die Deutschen ermutigen müsste, die Herrschaft der Vernichtung und Selbstvernichtung endlich abzuschütteln. Das sollte nicht mit Waffengewalt gelingen, sondern „aus der Macht des Geistes“, kraft starker Argumente. „Die Toten von Stalingrad beschwören uns“, so hieß es im letzten vervielfältigten Flugblatt.
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Demoskopisch betrachtet, standen die Chancen der Weißen Rose auf einen Stimmungsumschwung nicht schlecht. Praktisch lagen sie bei null. Wie erklärt sich diese Kluft? Prüfen wir die Stimmungslage anhand zweier Indikatoren, zu denen Studenten meines Frankfurter Seminars 2006 Daten erhoben haben. Der erste Indikator bezieht sich auf den exemplarischen Terror, den die NS-Regierung meinte einsetzen zu müssen, um die eigene Bevölkerung auf Kurs zu halten. Wir zählten dafür die Todesurteile aus, die der Volksgerichtshof zwischen 1934 und 1944 gegen Reichsdeutsche wegen politischer und defätistischer Tatbestände verhängt hatte. Von 1934 bis Ende 1939 waren es binnen sechs Jahren 28 Todesurteile, in den folgenden drei Kriegsjahren 130, in den beiden letzten 869. Das heißt: Rund 80 Prozent der Hinrichtungen von Deutschen fielen in die Zeit nach Stalingrad.
Mit dem zweiten Indikator lässt sich das Schwinden des Volksvertrauens in die politische Führung messen. Bis September 1944 konnten Angehörige die Todesanzeigen für ihre Gefallenen frei gestalten und benutzten dafür zumeist zwei ähnlich erscheinende, jedoch sehr verschiedene Formeln: „… gefallen für Führer, Volk und Vaterland“ oder „… gefallen für Volk und Vaterland“. Im „Frankfurter Volksblatt“, der lokalen Ausgabe des „Völkischen Beobachters“, war die Führerquote bis ins 1. Quartal 1943 von ursprünglich 90 auf 30 Prozent gesunken, in der bürgerlichen „Frankfurter Zeitung“ von 60 auf 10 Prozent. Aber warum mündete der gut messbare rapide Vertrauensverlust in die deutsche Führung nicht in massenhafte Verweigerung? Warum blieb die Weiße Rose so isoliert?
Nachdem Sophie Scholl, Hans Scholl und Christoph Probst als erste am 18. und 20. Februar gefasst worden waren, verkündeten die Richter des Volksgerichtshofs bereits am 22. Februar, dem folgenden Montag, um 13.30 Uhr die Todesurteile im Schwurgerichtssaal des Münchner Justizpalasts. Schriftlich begründeten sie: In ihrem Aufruf „An alle Deutschen“, zu dem sich die Angeklagten klar bekannt hatten, prophezeiten diese „Deutschlands Niederlage im Krieg“, sie warben für den „Befreiungskrieg gegen das ‚nationalsozialistische Untermenschentum‘“ und stellten „Forderungen im Sinne formaler Liberaldemokratie“ auf. Dem 23-jährigen Angeklagten Probst, damals bereits Vater von drei kleinen Kindern, warf der Vorsitzende Richter Roland Freisler vor, er habe „den Führer als militärischen Hochstapler beschimpft“ und sei außerdem „ein ‚unpolitischer Mensch‘, also überhaupt kein Mann“. So steht es wörtlich im Urteil. (Nebenbei: Ich gehöre zu den 68ern. Deshalb seien meine Gesinnungsgenossen von einst daran erinnert, wer - lange vor 1968 - Gewaltenteilung und Rechtsstaat als „liberale Formaldemokratie“ verächtlich gemacht und den „politischen Menschen“ zum Wert an sich erhoben hatte.)
Neben Stalingrad besteht zwischen den Texten der Weißen Rose und Goebbels‘ Rede eine zweite thematische Parallele. Im Flugblatt Nr. II, verfasst im Sommer 1942, lesen wir: „Nicht über die Judenfrage wollen wir in unserem Blatte sprechen, keine Verteidigungsrede verfassen – nein, nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, die Tatsache, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialischste Art ermordet worden sind. Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann.“
Die jungen Leute, die im Juli 1942 so schrieben, wussten von 300.000 ermordeten Juden (in Wahrheit waren es Mitte 1942 etwa zwei Millionen), und sie wussten von Mord- und Schandtaten, begangen an christlichen Polen. Spätere deutsche Historiker bemängelten und bemängeln, manche in der Weißen Rose hätten gelegentlich antijüdische Gefühle gehegt, sich für die Hitlerjugend begeistert, seien gendermäßig nicht auf der Höhe gewesen oder hätten sonst etwas getan, was einigen Maßstäben unserer Gegenwart nicht genügt. Ich halte solche Urteile von Nachgeborenen für selbstgefällig und dünkelhaft. Tatsache ist: Die studentischen Mitglieder der Weißen Rose und ihr Mentor Professor Kurt Huber fanden während der ersten Kriegshälfte zur besseren Einsicht. Sie lösten sich aus dem riesenhaften und bequemen Strom kollektivistischen Mitschwimmens und entschlossen sich, gegen das massenmörderische NS-Regime prinzipiellen, den Allgemeinen Menschenrechten verpflichteten Widerstand zu leisten. Deshalb schrieben sie: „Auch die Juden sind doch Menschen – man mag sich zur Judenfrage stellen wie man will -, und an Menschen wurde solches verübt“ – ein beispielloser Massenmord.
Im selben Flugblatt fragten die Autoren verzweifelt: „Warum verhält sich das deutsche Volk angesichts all dieser scheußlichsten, menschenunwürdigsten Verbrechen so apathisch?“ Es nehme die Tatsachen zwar zur Kenntnis, lege sie aber schnell „ad acta“, um „wieder in seinen stumpfen, blöden Schlaf“ zu verfallen. Auf diese Weise verschaffe die überwältigende Mehrheit der Deutschen „diesen faschistischen Verbrechern Mut und Gelegenheit weiter zu wüten – und diese tun es“. Auch uns Heutigen, Historiker eingeschlossen, fällt die Antwort auf diese 1942 gestellte Frage schwer. Wie konnten die ansonsten durchschnittlichen Deutschen alle diese Morde begehen oder schweigend geschehen lassen? Warum waren sie in „den blöden Schlaf“ des Nichtwissenwollens und Verdrängens gefallen?
Ebendiese oft nur dumpf-hinnehmende Apathie äußerte sich an jenem 18. Februar 1943 auch in der Münchner Universität. Der Augenzeuge Helmut Goetz berichtete: „Um 12 Uhr konnte ich die Universität nicht mehr verlassen, da alle Ausgänge und Telefonkabinen zugesperrt waren. Man tuschelte untereinander, aber sonst geschah nichts, auch nicht, als ein junges Mädchen von zwei Gestapobeamten durch die Menge hindurch abgeführt wurde. Ich war zu feig, auch nur den Mund aufzumachen. Ich war aber auch erschüttert über die trostlose Passivität der anwesenden Studenten, die die unbegreifliche Blödheit hatten, den kurz darauf erscheinenden Rektor zu betrampeln, der etwas von Hochverrätern usw. faselte.“ Die Sperre wurde nach einer guten Stunde aufgehoben, und nach dem Zeugnis des Rektors der LMU, Walther Wüst, und „aller beteiligten Stellen“ hatten sich die eingeschlossenen Studenten während „der Durchführung der polizeilichen Aktion“ tadellos verhalten.
Warum diese Mischung aus Akklamation und Sich-Wegducken? Eine wichtige Antwort auf diese Frage findet sich in der Rede vom „totalen Krieg“. Goebbels setzte auf die Parole „Sieg oder Untergang“ und begründete sie mit Andeutungen zum Judenmord: „Hinter den anstürmenden Sowjetdivisionen sehen wir schon die jüdischen Liquidierungskommandos“, so hob er an und streute ein: „Man wird, um das hier nur zu erwähnen, in diesem Zusammenhang auch unsere konsequente Judenpolitik verstehen können.“ Wer immer noch nicht begreifen wollte, dem hämmerte Goebbels Sekunden später ein, Deutschland werde das Judentum „mit radikalsten Gegenmitteln“ bekämpfen und setzte hinzu: Der „gigantische Kampf gegen diese Weltpest darf nur mit Sieg enden“; denn „jedermann weiß, dass dieser Krieg, wenn wir ihn verlören, uns alle vernichten würde“.
Mit dem dürftig verhüllten Reden über das Morden bugsierte die Führung das eigene Volk in fatalistische Reglosigkeit, in stumpfes Schweigen. Offensiv eingesetzt hatte dieses Mittel Hermann Göring bereits am 4. Oktober 1942 anlässlich seiner Erntedankrede. Der Redner versprach höhere Fleischzuteilungen, um – in einer bereits kritischen Situation - den Durchhaltewillen zu festigen. Doch schien ihm das nicht genug. Deshalb beschwor er den Durchhaltezwang. Während Deutsche im Herbst 1942 Tag für Tag mehrere Tausend Juden in den Gaskammern von Belzec, Sobibor und Treblinka ermordeten, kam Göring in den Schlusssätzen seiner Rede scheinbar zusammenhanglos auf die Juden zu sprechen: „Deutsches Volk, Du musst wissen, wird der Krieg verloren, bist du vernichtet. Der Jude steht mit seinem unendlichen Hass hinter diesem Vernichtungsgedanken. Und da kann der eine erklären, er wäre Demokrat oder Plutokrat oder Sozialdemokrat oder Kommunist oder Nazi, das ist ganz Wurst. Der Jude sieht nur den Deutschen. Und darüber macht euch nur keine falsche Vorstellung: Dieser Krieg wird gewonnen werden, weil er gewonnen werden muss.“
Leicht verhüllt und codiert drohten Göring, Goebbels und Hitler ihrem Volk mit den Folgen des von Deutschen fortwährend begangenen Raubens und Mordens. Damit nahmen sie die kleinen deutschen Profiteure, Mitläufer, Zuschauer und Schweiger in Haftung, erzwangen Loyalität. Nach dem Prinzip „mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen“ nutzte die Staatsführung die Massenmorde seit 1942 erfolgreich als Mittel, um die Deutschen gefügig zu halten, ihnen die Möglichkeit zum Protest und zur Verweigerung zu versperren.
Die Wirkung dieser Politik notierten britische Offiziere, als sie im Frühjahr 1943 an der Afrikafront drei deutsche Marinesoldaten vernahmen. Die soeben Gefangenen zeigten sich „ehrlich schockiert über das großangelegte, kaltblütige Morden“ in Polen und Russland. Wie die Vernehmer weiter erfragten, speiste sich daraus deren „Hauptsorge“: „die Angst davor, dass Deutschland den Krieg verlieren könne und die Juden dann Deutschland für diese Massaker zahlen lassen würden“. Generell spiegelten diese sehr unmittelbaren Befragungen das „weit verbreitete Gefühl der Schuld“ und die allgemeine Befürchtung, dass „den von Deutschen begangenen Verbrechen“ „eine unterschiedslose Rache an der gesamten Nation“ folgen werde.
In der zweiten Kriegshälfte speiste sich der so offenkundige Durchhaltewille der deutschen Mehrheit nicht mehr aus dem Führerglauben und der Naziideologie, sondern aus der halbbewussten, immer wieder absichtsvoll angedeuteten Tatsache, dass infolge der ungeheuerlichen Verbrechen alle Brücken zur Umkehr abgebrochen seien. Sehr klar hatte Thomas Mann den Zusammenhang von Verbrechen und blindem Durchhaltewillen bereits im November 1941 angesprochen, als er eine seiner an das deutsche Publikum gerichteten, von der BBC ausgestrahlten Radioreden verlas: „Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins riesenhafte gewachsenen Hass, der eines Tages, wenn eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammenschlagen muss. (…) Eure Führer, die euch zu all diesen Schandtaten verführt haben, sagen euch: Nun habt ihr sie begangen, nun seid ihr unauflöslich an uns gekettet, nun müsst ihr durchhalten bis aufs Letzte, sonst kommt die Hölle über euch.“
Ähnlich erklärte der exilierte Rechtsanwalt, Sozialist und Politikwissenschaftler Franz Neumann 1944 den geringen Widerstand gegen den so offensichtlich selbstzerstörerischen Krieg. Auch er ging davon aus, dass die deutschen Anführer ihr Volk „in eine kollektive Schuld verwickelt“ hatten und folgerte: „Die Teilnahme an einem so ungeheuren Verbrechen wie der Ausrottung der Ostjuden machte die deutsche Wehrmacht, das deutsche Beamtentum und breite Massen zu Mittätern und Helfern des Verbrechens und machte es ihnen daher unmöglich, das Naziboot zu verlassen.“
So gesehen müssen die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland auch als zweckgerichtete, instrumentell eingesetzte Mittel zur Korruption und Fesselung des eigenen Volkes verstanden werden. Die schlimmsten Massenmorde stabilisierten die objektiv haltlose, auf selbstmörderischen Untergang zusteuernde Naziherrschaft besonders effektiv. Die Mixtur aus gemeinschaftlichem Profit und gemeinschaftlich zu verantwortenden Verbrechen schweißte Volk und Führung zusammen.
Anders als später mit Inbrunst behauptet, war die Kollektivschuldthese eben kein Produkt der alliierten Sieger. Erfunden hatten sie die NS-Regenten zum Zweck der massenhaften politischen Integration des eigenen Volkes in die Herrschaft des Bösen. Nach dem mit Recht so bezeichneten Zusammenbruch im Mai 1945 blieb die von so vielen Deutschen erwartete, von ihren Führern so oft als Flammenzeichen an die Wände gemalte Rache aus. Doch lebte der Glaube daran ungebrochen fort. Er wurde zur Ausrede, wie Hannah Arendt 1949 während ihres Deutschlandbesuchs beobachtete: „Die beharrliche Behauptung, dass es einen ausgeklügelten Racheplan (der Alliierten) gebe“ oder zumindest gegeben habe, „dient als beruhigendes Argument für den Beweis, dass alle Menschen gleichermaßen Sünder sind“.
Hinzu kam, was sich mit dem Mittel des Krieges noch stark steigern ließ: „Die Herstellung einer unentrinnbaren Wir-Atmosphäre, das Gefühl, dass ständig etwas geschieht, Aktionen bevorstehen“, wie Wilhelm Hennis 1968 formulierte. Viktor Klemperers Kaufmann Vogel drückte denselben Sachverhalt, mitten im Annexions- und Gewaltjahr 1938, schlichter aus: „Es kommt mir immer alles wie im Kino vor.“ Diese Herrschaft konnten nur bestehen, solange sie auf extreme Geschwindigkeit setzte – „gleich einem Kreisel, der nur durch schnelle Umdrehung im Gleichgewicht erhalten werden kann“. Deshalb musste sie zur Selbststabilisierung, wie der exilierte liberale Ökonom Wilhelm Röpke 1938 voraussah, auf Krieg hinauslaufen.
Diese Analyse bestätigend verglich Goebbels den von ihm gewollten, immer wieder ausgeweiteten Krieg im September 1943 mit „einem in rasender Fahrt befindlichem D-Zug“: „Wer unterwegs aussteigt, wird sich das Genick brechen. [Der Krieg] hat Ausmaße angenommen, die es unter allen Umständen geraten erscheinen lassen, die Waffen in der Hand zu behalten und sein Leben mit allen Mitteln zu verteidigen. Wer die Waffen niederlegt, hat verloren und wird mitleidlos ausgeschieden.“
Gemäß dieser Logik wurden die Verhafteten der Weißen Rose am 22. Februar 1943 „mitleidlos ausgeschieden“. Nachdem die Todesurteile um 13.30 Uhr ergangen waren, wurden sie mittels Guillotine um 17.00 Uhr im Zuchthaus München-Stadelheim vollstreckt. Genau eine Stunde später trafen sich etwa 3000 Studentinnen und Studenten, das waren 75 Prozent aller Immatrikulierten, zu einer Kundgebung im Großen Hörsaal der LMU, die wegen Platzmangels per Lautsprecher in den Lichthof übertragen wurde. Gaustudentenführer Dr. Julius Dörfler forderte, derartige Hochverräter künftig an den nächsten Bäumen aufzuhängen und wurde nach fast jedem Satz „mit stürmischem Beifall“ bedacht. Die Versammelten bekundeten „ihre Verachtung gegen die Machenschaften“ ihrer soeben hingerichteten Kommilitonen und „ihren entschlossenen Kampf- und Siegeswillen, ihre unerschütterliche Treue und Hingabebereitschaft für Volk und Führer“. Soweit der offizielle Bericht des Rektors. Die damalige Studentin Li Magold bezeugte 1965: „Die Kundgebung im Auditorium Maximum gehört zu den schauerlichsten Erinnerungen, die mir aus jenen Tagen geblieben sind. Hunderte von Studenten johlten und trampelten dem Denunzianten und Pedell der Uni Beifall, und dieser nahm ihn stehend mit ausgestrecktem Arm entgegen.“
Während die akademische Jugend der LMU Beifall klatschten, notierte Joseph Goebbels geschäftsmäßig: „In München sind einige Studenten als Staatsfeinde entlarvt und zum Tode verurteilt worden. Ich bin dafür, dass die Todesurteile vollstreckt werden.“ In den „Münchner Neuesten Nachrichten“ erschien am 23. Februar eine Kurzmeldung, in denen die drei Hingerichteten knapp als, „Hochverräter“, „verworfene Subjekte“ und „charakteristische Einzelgänger“ gebrandmarkt wurden.
Einzelgänger blieben sie in der Tat. Insgesamt betrachtet, läuft unsere heutige Erinnerungspolitik darauf hinaus, sich mit den Opfern zu identifizieren. Parallel dazu werden die Täter zu schier außerirdischen Exekutoren stilisiert, und über die 3000 Jubelstudentinnen und – studenten ist noch nie systematisch geforscht oder ausführlich berichtet worden. Diese Art des Erinnerns legt nahe zu vergessen, wie sehr die eigenen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern die Regierung Hitler lange aktiv unterstützt hatten, zu den mäßig überzeugten Mitläufern oder den zuverlässig passiven Stützen der Gewaltherrschaft gehört hatten.
Näher als Christoph Propst, Sophie Scholl und Hans Scholl stehen auch uns Heutigen diejenigen, die am 22. Februar 1943 im Audimax der LMU den justizförmigen Mord an drei Kommilitonen zustimmend oder angepasst mittelstark beklatschten und betrampelten. Wer wissen möchte, wie die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland möglich wurden, der frage mit der Weißen Rose, warum die Deutschen in jenen „stumpfen, blöden Schlaf“ verfallen waren.
© Götz Aly
Es gilt das gesprochene Wort.
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