Preisträger 2022

Tagebuch einer Invasion Cover

Andrej Kurkow

Tagebuch einer Invasion

Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
Haymon Verlag, 2022
ISBN 978-3-7099-8179-5

Autor

Andrej Kurkov

Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er studierte Fremdsprachen (spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter, er arbeitete als Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Romane wie „Picknick auf dem Eis“ (1999) und „Der Milchmann in der Nacht“ (2009) machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet.

Begründung der Jury

Zwei Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine notiert Andrej Kurkow in seinem „Tagebuch einer Invasion“: „Mich schaudert es dabei, die folgenden Worte niederzuschreiben, aber ich werde es trotzdem tun: Die Ukraine wird entweder frei, unabhängig und europäisch sein, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben.“ Auch wenn vielen Menschen inzwischen deutlicher geworden ist, dass der 24. Februar 2022 eine tiefe historische und politische Zäsur markiert und dass die zivilisierte Welt eine Mitverantwortung dafür trägt, ob die Zerstörung der Ukraine verhindert wird, so fehlt es nach wie vor vielfach an einem tieferen Verständnis dafür, was in diesem Krieg alles auf dem Spiel steht.

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Statement of the Jury

Two weeks after Russia’s attack on Ukraine, Andrej Kurkov noted in his Diary of an Invasion “It is frightening to write such words but I will write them anyway: Ukraine will either be free, independent and European, or it will not exist at all.” Even although many people have now become more aware that 24 February 2022 marks a deep historical and political turning point and that the civilised world shares responsibility for whether the destruction of Ukraine is prevented, a deeper understanding of what is at stake in this war still lacks in many respects.

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Verleihung

Der 43. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 28. November 2022 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an Andrej Kurkow verliehen. Die 2. Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (links) und Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Die Laudatio hielt Sonja Zekri.

Ansprache von Katrin Habenschaden

Zum 43. Mal vergibt die Landeshauptstadt München zusammen mit dem Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels heuer den Geschwister-Scholl-Preis und prämiert damit ein Buch, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“. Und das dabei im weitesten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert.

„Tagebuch einer Invasion“ heißt das Buch, das wir dieses Jahr auszeichnen. Geschrieben hat es der in Deutschland wohl bekannteste ukrainische Schriftsteller, Andrej Kurkow. Viele populäre Romane stammen von ihm, auch der Krimi „Samson und Nadjeschda“, der ebenfalls erst kürzlich auf Deutsch erschienen ist. Und von dem sich ein Bogen schlagen lässt zu Kurkows aktuellen Tagebuchaufzeichnungen. So ist der Ausgangspunkt des Kriminalromans das Jahr 1919, um das herum der gerade gegründete erste ukrainische Nationalstaat eine kurze Zeit der Unabhängigkeit erlebte, bevor die Bolschewiki der damaligen Eigenständigkeit gewaltsam ein Ende machten. Schon damals, schreibt Andrej Kurkow, „bombardierten sie das Kyiver Stadtzentrum und töteten dabei alle, die ihnen über den Weg liefen“.

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Ansprache von Klaus Füreder

Im dritten Flugblatt der Weißen Rose heißt es: „Nur eines will eindeutig und klar herausgehoben werden: jeder einzelne Mensch hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat, der die Freiheit des Einzelnen als auch das Wohl der Gesamtheit, sichert. Denn der Mensch soll nach Gottes Willen frei und unabhängig im Zusammenleben und Zusammenwirken der staatlichen Gemeinschaft sein natürliches Ziel, sein irdisches Glück in Selbständigkeit und Selbsttätigkeit zu erreichen suchen.“

Dieses Recht auf ihren eigenen Staat wird den Ukrainern mit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar diesen Jahres mit kriegerischen Mitteln versucht zu rauben. Ich fühle mich nicht berufen, über die historischen, politischen oder gar militärischen Hintergründe dieses Überfalls zu sprechen, aber eines scheint jetzt schon sicher: Russland wird sein Ziel der vollständigen Auslöschung der Ukraine – inklusive seiner Geschichte und seiner Kultur – nicht erreichen.

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Laudatio von Sonja Zekri

Erinnern Sie sich noch an den 10. September 2001? Wissen Sie noch, wo Sie waren? Ich bin sicher, die meisten von Ihnen werden sich genau erinnern, was sie am 11. September getan haben. Aber am Zehnten? Am Neunten? Am Achten? Historische Großereignisse haben die Tendenz, die Zeit davor zu verdecken, regelrecht zu verschlucken, als hätte es sie nie gegeben.

Der 23. Februar 2022 ist ein solcher Tag. Am frühen Morgen des 24. Februar griff Russland sein Nachbarland an und danach, es ist oft gesagt worden, war nichts mehr wie es vorher war.

In Kiew sei am 23. Februar Anspannung zu spüren gewesen aber keine Panik, schreibt Andrej Kurkow in „Tagebuch einer Invasion“, das heute mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet wird. Er selbst hatte auch nicht so recht Gelegenheit zur Panik, weil er in der Schule Nr. 92 die Geschichte des Detektivromans unterrichten sollte. Und während schon Militärfahrzeuge und Krankenwagen durch die Straßen der Hauptstadt fuhren, brachte Kurkow den Kindern den Unterschied zwischen australischen, japanischen und britischen Kriminalgeschichten bei. Der Unterricht war ein voller Erfolg. Für eine Stunde vergaßen die Kinder – und der Schriftsteller - Russland, Putin und den drohenden Krieg.

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Dankesrede von Andrej Kurkow

Es ist mir eine große Ehre, den Geschwister-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

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