David Van Reybrouck, geboren 1971 in Brügge, ist Schriftsteller, Dramatiker, Journalist, Archäologe und Historiker. 2011 gründete er die Initiative G1000, die sich in Belgien, den Niederlanden und in Spanien für demokratische Innovationen einsetzt. "Kongo. Eine Geschichte" wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2012, und verschaffte Van Reybrouck internationale Anerkennung. Sein Buch "Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist" (Göttingen: Wallstein 2016) erhielt europaweit große Aufmerksamkeit.
Preisträger 2023
David Van Reybrouck
Revolusi
Indonesien und die Entstehung der modernen Welt
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Suhrkamp Verlag, 2022
ISBN 978-3-518-43092-7
Autor
Begründung der Jury
In seinem Buch "Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt" bringt uns David Van Reybrouck die Befreiung Indonesiens aus der Kolonialherrschaft als packende Globalgeschichte von überraschender Aktualität nahe. Der leidvolle Weg des Landes in die Unabhängigkeit erweist sich als Schlüssel zum Verständnis von Erfahrungen, Hoffnungen und politischen Visionen in den Ländern des Globalen Südens, die ihre Wirkmacht in den geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart neu entfalten.
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Van Reybrouck schildert, wie eine junge Generation von Indonesierinnen und Indonesiern am Ende des Zweiten Weltkrieges weltweit das Streben nach einem Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit inspirierte. Anschaulich rekonstruiert er die rigide Klassengesellschaft der Kolonialzeit, die Brutalität, mit der die wechselnden Besatzer Indonesiens ihre Macht stabilisierten, sowie die jugendliche Energie, mit der sich die Unabhängigkeitsbewegung über die Grenzen von Kontinenten hinweg formierte. Van Reybrouck setzt dabei auch den Indonesierinnen und Indonesiern ein literarisches Denkmal, die sich als Studierende in den Niederlanden während der deutschen Besatzung – mehr als der Durchschnitt der damaligen Bevölkerung – für den Schutz von verfolgten Jüdinnen und Juden einsetzten.
David Van Reybrouck ist ein mitreißender Erzähler und akribischer Rechercheur. Mit "Revolusi" führt er seine Methode der Oral History fort, die schon sein 2012 auf Deutsch erschienenes Buch "Kongo. Eine Geschichte" prägte. Die Erzählungen der Zeitzeugen, die Van Reybrouck in Altenheimen, entlegenen Dörfern und bis in die Bergregionen Nepals aufspürte und in fast 20 Sprachen interviewte, machen den einzigartigen Reichtum an Perspektiven und Lebenserfahrungen aus, die seine Bücher auszeichnen.
Die Jury des Geschwister-Scholl-Preises würdigt mit der Auszeichnung die aufklärerische Kraft und intellektuelle Unabhängigkeit, mit der David Van Reybrouck – ohne institutionelle Einbindung und öffentliche Förderung – lange verdrängte Kapitel der Kolonialgeschichte in das Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit rückt. Seine Geschichtserzählung bringt freiheitliche Ideale und menschliche Werte zum Leuchten, die, ganz im Sinne des Vermächtnisses der Geschwister Scholl, auch in unserer Gegenwart moralische Orientierung bieten.
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Jury statement
In his book “Revolusi – Indonesië en het ontstaan van de moderne wereld” (English: Revolusi – Indonesia and the Birth of the Modern World”), David Van Reybrouck relates the story of Indonesia’s liberation from colonial rule as a gripping global history of surprising topicality. The country’s painful path to independence offers readers a key to understanding the experiences, hopes, and political visions in the countries of the global South that are reasserting their power as contemporary geopolitical situations unfold.
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Van Reybrouck describes how a young generation of Indonesians at the end of World War II inspired worldwide aspirations of a life of freedom, self-determination, and justice. He vividly reconstructs the rigid class society of the colonial era, the brutality with which Indonesia’s changing occupiers stabilized their power, and the youthful energy with which the independence movement spread across continental boundaries. In the process, Van Reybrouck also pays tribute to the Indonesians who, as students in the Netherlands during the German occupation – more than the average population at the time – championed the protection of persecuted Jews.
David Van Reybrouck is an engaging narrator and meticulous researcher. In “Revolusi,” he continues his oral history method, which already characterized his 2012 book “Congo. The Epic History of a People.” The accounts of eyewitnesses, whom Van Reybrouck tracked down in old people’s homes, remote villages, and as far away as the mountain regions of Nepal, and interviewed in almost 20 languages, make up the unique wealth of perspectives and life experiences that are so typical of his books.
The jury of the Geschwister Scholl Prize recognizes the enlightening power and intellectual independence with which David Van Reybrouck – without institutional involvement or public funding – brings long-suppressed chapters of colonial history to the attention of the European public. His historical narrative brings to light liberal ideals and human values which, in keeping with the legacy of Hans and Sophie Scholl, also provide a moral compass for our present times.
Übersetzung: Andrea Haftel
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Verleihung
Der 44. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 28. November 2023 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an David Van Reybrouck verliehen. Oberbürgermeister Dieter Reiter (rechts) und Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V., überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Die Laudatio hielt Lukas Bärfuss.
Ansprache von Klaus Füreder
In ihrem 5. Flugblatt schreiben die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter der Weiße Rose: „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewaltstaaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa.“
Das, lieber Herr Van Reybrouck, sind nun auch – wenn auch nicht in Europa – die Leitgedanken der jungen, den Idealen der Aufklärung verpflichteten, humanistisch ausgebildeten Elite in ihrem leidenschaftlichen Kampf der einheimischen Bevölkerung in Indonesien um ihre Unabhängigkeit von den Niederlanden. Meisterhaft zeigen Sie diesen Weg in Ihrem Werk „Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt.“
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Beeindruckend schlagen Sie den Bogen vom 17. Jahrhundert bis heute, zeigen die engen wirtschaftlichen Verflechtungen von den Niederlanden mit Indonesien – letztlich aber vor allem die Ausbeutung. Sie zeigen die Involviertheit Indonesiens in den zweiten Weltkrieg – und spätestens jetzt verstehen wir, was Welt-Krieg bedeutet. Am Ende ließen über vier Millionen Indonesier ihr Leben. 1949 willigten die Niederlande schließlich, getrieben durch die neu geschaffene UN und die USA, in die Unabhängigkeit Indonesiens ein, die revolutionäre Jugend hatte den Sieg errungen.
Im Jahr 1955 findet schließlich als Höhepunkt dieser Befreiungsbewegung die Konferenz von Bandung statt, eine Versammlung der zum Großteil gerade erst dekolonialisierten Länder des „Globalen Südens“ ohne westliche Beteiligung, die sich schließlich stolz in einem Akt der Selbstermächtigung als die „Dritte Welt“ bezeichnen. Bandung ist dieser Moment den Sie als „Entstehung der modernen Welt“ einordnen, eine Art „14. Juli planetarischen Maßstabs“, in dem die Dekolo-nialisierung gefeiert und eine neue gerechte Weltordnung propagiert und eingefordert wird. Es ist der „Geist von Bandung“, wie ihn ähnlich die Geschwister Scholl wiederum in ihrem fünften Flugblatt beschworen haben:
„Die Arbeiterschaft muß durch einen vernünftigen Sozialismus aus ihrem Zustand niedrigster Sklaverei befreit werden. Das Truggebilde der autarken Wirtschaft muß (...) verschwinden. Jedes Volk, jeder einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt.“ Die Idee einer demokratischen und der sozialen Verantwortung verpflichteten Ordnung sollte dann in Bandung das erste Mal ihren konkreten Auftritt auf der Weltbühne haben.
In seinem Ansatz ist Ihr Werk der Oral History verpflichtet. Sie führten in Asien, Australien und Europa über acht Monate hinweg Hunderte von Gesprächen die letztlich in über 185 Interviews im Buch resultierten, geführt in über 20 verschiedenen Sprachen teilweise in einem zweifachen Übersetzungsprozess.
Die entstandenen Interviews sind voller Empathie und Zuwendung, denn Sie sind ein großartiger Zuhörer und ein begnadeter Erzähler. Der Kampf der Indonesier um ihre Unabhängigkeit und die Zeit der Revolusi, breitet sich dem Leser in ihrem Buch so in seiner ganzen Eindringlichkeit, Grausamkeit und Dramatik aus. Sie verleihen ihrem Werk dadurch eine Tiefe und Struktur, eine eigene Textur wie ein dicht gewobener Teppich, auf dem wir uns geleitet von Ihnen durch die Geschichte Indonesiens bewegen.
Ihr ältester Gesprächspartner, Djajeng Pratomo, Fürstensohn aus Sumatra, Ökonom, Tänzer, Krokodiljäger, Aktivist, Redakteur und NS-Widerstandskämpfer war zum Zeitpunkt der Aufzeichnungen 102 Jahre alt und hat sämtliche Facetten des Befreiung Indonesiens an vorderster Front miterlebt. Im Jahr 1944 wurde er auf den verschlungenen Wegen dieses Konfliktes mit der Stammnummer 69053 zum einzigen Indonesier im KZ Dachau unter den 32.000 europäischen Gefangenen. Weil er durch sein Studium medizinische Kenntnisse hatte, arbeitete er in der „Infektionsbaracke“, wo hunderte Patienten mit Fleckfieber behandelt wurden.
Es sind diese grauenhaften Berichte, die erneut die Verschränkung von Europa und Asien sowie der Kulturen offenbart. Und obwohl er so viel anderes Leid erlebt hatte, waren es die menschenverachtenden, antisemitisch motivierten Greuel des Nazi-Regimes, die ihn am Ende sprach- und fassungslos zurückließen.
Ihr Werk ist über 750 Seiten stark, es hat 6 Jahre gedauert, nicht nur es zu schreiben, sondern es – verzeihen Sie mir den Ausdruck - zusammenzubauen. Alle seine Bestandteile sind wesentlich und von höchster Qualität und Sorgfalt bestimmt: das hervorragende und illustrative Kartenmaterial, das über 30-seitige Literaturverzeichnis, die umfangreichen Quellen und Anmerkungen, die differenzierten Register und nicht zuletzt auch die exzellente herstellerische Umsetzung.
Lassen Sie es mich als Buchhändler so sagen: es ist eine Freude, dieses Buch in Händen zu halten. Dieses Buch ist deshalb an und für sich auch ein Vermächtnis und ein Denkmal für Ihre zum Teil bereits verstorbenen Zeitzeugen und stellvertretend für alle indonesischen Freiheitskämpfer sowie nicht zuletzt auch für die Öffentlichkeit und die Politik in den Niederlanden, die von Glück reden kann, mit Ihnen einen Chronisten dieses Formats gefunden zu haben.
Den Ihrem Werk zugrunde liegenden Leitgedanken hat der Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah aus Sansibar kürzlich in einem Interview über die Kolonialherrschaft des Deutschen Reiches in Ostafrika auf den folgenden Nenner gebracht: „Es gibt keine Vergebung ohne Verantwortung.“
In diesem Sinne bedanken wir uns von Herzen für Ihre verdienstvolle Arbeit im Dienste der Verantwortung und der Aufklärung und bewundern ihren moralischen und intellektuellen Mut, der Sie dabei ganz im Sinne des Geschwister-Scholl-Preises geleitet hat!
Klaus Füreder, November 2023
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Laudatio von Lukas Bärfuss
Am 18. Februar 1943
warfen die Geschwister Scholl
Sophie und Hans
Flugblätter in den Innenhof
dieser Universität
hier in München.
In engen Zeilen und
maschinengeschrieben
stand da:
„In einem Staat rücksichtsloser Knebelung
jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen.
HJ, SA, SS haben uns
in den fruchtbarsten Bildungsjahren
unseres Lebens zu uniformieren,
zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht.“
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Und weiter:
„Eine Führerauslese,
wie sie teuflischer und bornierter zugleich
nicht gedacht werden kann,
zieht ihre künftigen Parteibonzen
auf Ordensburgen zu gottlosen,
schamlosen und gewissenlosen Ausbeutern und Mordbuben
heran, zur blinden, stupiden Führergefolgschaft.“
Und weiter:
„Deutsche Studentinnen haben an der Münchner Hochschule
auf die Besudelung ihrer Ehre
eine würdige -Antwort gegeben,
deutsche Studenten haben sich
für ihre Kameradinnen eingesetzt und standgehalten.
Das ist ein Anfang zur Erkämpfung
unserer freien Selbst-bestimmung,
ohne die geistige Werte nicht geschaffen werden können.“
Dies dachten und schrieben die Geschwister Scholl
und was danach kommen sollte
das wissen wir alle
Prozess
Verurteilung
Enthauptung
Und auch Sophie und Hans
und ihre Freunde bei der Weißen Rose
Kurt Huber und Willi Graf und Alexander Schmorell
kannten den Preis der Freiheit
Der Preis der Freiheit
ist das eigene Leben
Der Preis der Freiheit
ist der eigene Kopf
Die Geschwister Scholl
Zwei junge Menschen
die ihn zu bezahlen bereit waren
aus Gründen vielleicht
die Hannah Ahrend
für alle Menschen im Widerstand beschrieb
in ihrem Vortrag
Was heisst persönliche Verantwortung
in einer Diktatur?
„Sie stellten sich die Frage,
so schreibt Ahrend,
„inwiefern sie mit sich selbst zusammenleben könnten,
wenn sie bestimmte Taten begingen;
und wenn sie es vorzogen, nichts zu tun,
dann nicht etwa,
weil sich die Welt dadurch zum Besseren veränderte,
sondern weil sie nur unter dieser Bedingung
mit sich selbst weiterleben konnten.
Folglich wählten sie den Tod,
wenn sie zum Mitmachen gezwungen wurden.
Um es deutlich zu sagen:
Nicht weil sie das Gebot
»Du sollst nicht töten« streng befolgt hätten,
lehnten sie es ab, zu morden,
sondern eher deshalb, weil sie nicht willens waren,
mit einem Mörder zusammenzuleben – mit sich selbst."
Sie wählten den Tod
und wenn wir heute hier stehen
an diesem historischen Ort
dann stellt sich uns allen die Frage:
Wer von uns wäre bereit
dasselbe zu wählen?
Und wie kann jemand es wagen
wie kann die Landeshauptstadt München
wie kann der Börsenverein des Deutschen Buchhandels
es wagen
im Namen der Geschwister Scholl
einen Preis vergeben?
Welcher Preisträger
wäre nicht beschämt
verglichen zu werden
mit den Geschwistern Scholl?
Wer fühlt sich würdig genug
einen Preis zu tragen
mit ihrem Namen?
Wie rechtfertigen
sich die Stifter dieses Preises?
„Mit dem Geschwister-Scholl-Preis
wird jährlich ein Buch ausgezeichnet,
das im weitesten Sinn
an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert,
von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist,
bürgerliche Freiheit,
moralischen, intellektuellen Mut zu fördern
und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein
wichtige Impulse zu geben.“
Deshalb wagen sie es
Diese Stadt und dieser Verein
weil sie diese Werte befördern wollen
weil diese Stadt und dieser Verein wollen
dass wir uns an den Geschwistern Scholl
ein Beispiel nehmen
Deshalb vergibt sie diesen Preis
einem Menschen
der sich mit einem Buch
an Sophie und an Hans
ein Bespiel genommen haben
Und David van Reybrouck
hat sich an ihnen ein Beispiel genommen
Und wir alle hier
sollten uns ein Beispiel nehmen
an David van Reybrouck
der heute diesen grossen Preis erhält
für Revolusi
Ganz abgesehen
von seinen literarischen Fähigkeiten
von seiner stupenden Kraft als Erzähler
die er nicht zum ersten Mal unter Beweis stellt
und für die alleine er jeden Preis verdient hat
Wir sollen uns ein Beispiel nehmen
an Davids geistigen Unabhängigkeit
an seinem moralischen und intellektuellen Mut
Und mutig ist er gewiss
In seinem Buch
„Revolusi“
über die indonesische Revolution
dem Kampf um die Unabhängigkeit
die Freiheit steht:
„Wenn selbst eine 2013 erschienene, gründliche Biografie
Wilhelms I., der wie kein anderer König der Niederlande
die Geschichte Niederländisch-Indiens geprägt hat, kaum
auf die Kolonialpolitik dieses Monarchen eingeht, haben
wir ein Problem. Während der Herrschaft Wilhelms I. fand
der blutigste aller Kolonialkriege statt, der Java-Krieg
von 1825 bis 1830, der mehr Menschenleben kostete als der
Dekolonisationskrieg und sogar der zerstörerischste Krieg
war, den die Niederlande je geführt haben, doch die
Biografie widmet ihm gerade einmal vier Sätze."
Das liest sich so leicht
Aber es schreibt sich so schwer
David van Reybrouck braucht Mut
damit er Folgendes zu schreiben wagt:
"Ich bewundere seit Jahren den wirklich hervorragenden
historischen Atlas Bosatlas van de geschiedenis van
Nederland, aber wenn ich sehe, dass von den 560 Karten
der jüngsten Ausgabe (2011) nur 31 dem niederländischen
Imperialismus gewidmet sind, fehlt mir als Leser doch
etwas. So vorzüglich das Enthaltene auch ist, man sucht
vergeblich nach Karten zum großen Java-Krieg in den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, zu Verwaltung und
Widerstand in der kolonialen Epoche, zu Alphabetisierung
und Gesundheitsversorgung, zur revolutionären Gewalt der
sogenannten Bersiap-Zeit, zu den zivilen
Internierungslagern der Republik, zu Guerilla und
Kontraguerilla nach der Ersten und der Zweiten
»Polizeiaktion«, zu Kriegsverbrechen und Massengewalt,
zum Feldzug Raymond Westerlings auf Sulawesi, zu den
Linggajati-, Renville-und Roem-Van-Roijen-Abkommen–obwohl
all dies doch historische Meilensteine von großer
kartografischer Relevanz sind. Man kann nur auf eine
Neuauflage hoffen.“
Warum braucht dies Mut?
David erläutert es genau:
"Als das britische Meinungsforschungsinstitut YouGov im
Dezember 2019 der Frage nachging, welches europäische
Land besonders stolz auf seine koloniale Vergangenheit
sei, lagen die Niederlande weit vor den anderen. Nicht
weniger als 50 Prozent der Befragten erklärten, stolz auf
das frühere Imperium zu sein, gegenüber 32 Prozent der
Briten, 26 Prozent der Franzosen und 23 Prozent der
Belgier. Noch auffälliger war der besonders niedrige
Anteil der Niederländer, die sich für den Kolonialismus
schämten: nur 6 Prozent, gegenüber 14 Prozent der
Franzosen, 19 Prozent der Briten und 23 Prozent der
Belgier. Über ein Viertel der befragten Niederländer (26
Prozent) wünschte sogar, dass ihr Land immer noch ein
Kolonialreich in Übersee besäße.“
94 Prozent der Menschen in den Niederlanden
schämen sich nicht für die kolonialen Verbrechen
Das sind nicht einfach Zahlen
Das ist eine Gesellschaft
Strukturen
Machtverhältnisse
eine kulturelle Hegemonie
David van Reybrouck stellt sich gegen jene
94 von hundert Menschen
die über die Indonesische Revolution
lieber nichts hören wollen
Ihnen legt David sein Buch auf den Tisch
und das Buch sagt
Seht
was geschehen ist
Seht und schämt euch
schämt euch für die Verbrechen
das Leid
die Toten
angerichtet in eurem Namen
Wer so redet
wie David van Reybrouck
wird in der Regel nicht ausgezeichnet
In der Regel wird er geschnitten
Im Beruf
im Betrieb
unter Verwandten
und Freunden
Und damit hat er Glück
Anderswo
nicht weit von hier
wird er eingesperrt oder umgebracht
Die Stadt München
und der Börsenverein
rufen uns auf
die freie Stimme trotzdem zu wagen
trotz aller Nachteile
die uns das vermutlich eintragen wird
den Vorhang zu zerschneiden
und ein Beispiel zu nehmen
an den Geschwistern Scholl
an David van Reybrouck
Ein Beispiel nehmen
Das bedeutet zuerst
sein Buch zu lesen
genau zu lesen
Er beschreibt die Situation
auf Indonesien
nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Niederlande im
Mai 1940:
"Das Gouvernement internierte alle 2800 in Niederländisch-
Indien lebenden Deutschen, außerdem 500 führende NSBMitglieder.
Unter den Deutschen waren harmlose
Missionare, Beamte, Ärzte, Wissenschaftler, Ingenieure,
Pflanzer, Kaufleute und Matrosen, sogar einige aus
Deutschland geflüchtete Juden! Auch der deutsche Maler
Walter Spies, der auf Bali arbeitete wie zuvor Paul
Gauguin auf Tahiti und nicht das Geringste mit dem
Nationalsozialismus zu schaffen hatte, verlor seine
Freiheit – und später sein Leben."
Ich lese und bin überrascht
Auch Deutschland hat
eine indonesische Geschichte
Natürlich
Neu-Guinea war
zwischen 1899 und 1914
eine deutsche Kolonie
Ich nehme mir
David van Reybrouck zum Vorbild
und recherchiere etwas
kursorisch
zufällig
und nicht vertieft
Hier der kleine Weg
den ich gegangen bin
Im Humboldt-Forum
in Berlin steht ein Boot
Ein Prachtstück
aus Indonesien
erworben in der Kolonialzeit
Es ist ein Auslegerboot der Insel Luf
Ein trauriges Boot
Ein Sarg sollte es werden
für den Anführer Labenan
Doch das Boot war zu gross
Und die Männer auf Luf zu wenige
Sie brachten es nicht ins Wasser
dezimiert von den Strafkommandos
den Morden
den Plünderungen
der Deutschen Kolonialherren
Ein Modell dieses Bootes
wurde in Bayern ausgestellt
in Nürnberg
im Museum der
Naturhistorischen Gesellschaft
und dorthin dringt auch die Frage
ob in ihren Beständen
vielleicht koloniales Raubgut zu finden sei
Die Vorsitzende in Nürnberg
und lässt sich auf der Website BR 24
am 21. Dezember 2022
(abgerufen zuletzt 27.11.2023)
so zitieren:
Es sei herzzerreisend
was stattgefunden habe
Sie wolle keine
keine gestohlenen Sachen im Museum
Aber zuerst müsse die Herkunft geklärt werden
Man habe deswegen Kontakt aufgenommen
mit dem Zentrum für Kulturgutverluste in Magdeburg
In Nürnberg wissen sie also nicht
wem was gehört hat
Vielleicht konnten sie es mittlerweile klären?
Aber auf der Website
finde ich auch ein Jahr später keinen Hinweis
über die Herkunft der Sammlung
Auch ein Jahr später
ist nichts zu finden
Ich muss etwas graben
um in einer
entlegenen Fachzeitschrift
einen Artikel zu finden
aus dem Dezember 2021
gezeichnet von eben jener Vorsitzenden
Titel:
Koloniale Objekte
im Naturhistorischen Museum Nürnberg
Dort steht:
Die Sammlung,
also jene der Naturhistorischen Gesellschaft in Nürnberg,
(…)stammt aus den verschiedensten Quellen. Vor allem
Missionare aus Neuendettelsau, aber auch Kolonialbeamte
und Vereinsmitglieder haben der NHG seit den 1890er
Jahren Objekte zukommen lassen. Noch heute gibt es immer
wieder Schenkungsangebote und der Verein freut sich, die
ethnologische Sammlung qualitativ ergänzen zu können.
Kolonialbeamte also haben Geschenke gemacht
aber das scheint nichts Aussergewöhnliches zu sein
wenn es bis heute Schenkungsangebote gibt
Aber weiterhin kein Name
keine Daten
nicht in diesem Artikel
und nicht auf der Website
Nach einer weiteren Grabung
nun etwas tiefer
finde ich in einer alten Ausgabe von
„Natur und Mensch - Jahresmitteilungen
der naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg e.V.“
aus dem Jahre 1976 folgenden Hinweis
verfasst von einem gewissen Manfred Lindner
Die rund 1000 Stücke stammen zum größeren Teil von dem
damaligen Missionar Bamler(1907), dem kaiserlichen
Gouverneur Dr. Hahl (1908), zum weitaus geringeren Teil
von Pfarrer C. Beck (1922), Kommerzienrat Kolb (1927) und
dem Architekten Hans Meier (1912).“
Der erwähnte Kolonialbeamte
hat nun also einen Namen
Dr. Albert Hahl
Ein Niederbayer
aus Germ
geboren 1868
gestorben 1945
Zunächst kaiserlicher Richter
Zwischen 1901 und 1914
Gouverneur von Deutsch-Neuguinea
Zu seiner Sammlungstätigkeit
in dieser Funktion
finde ich einen Hinweis
in einer Studie
publiziert von jenem Zentrums für Kulturgutverluste
das die Vorsitzende kontaktiert haben will
allerdings bereits ein Dreivierteljahr vorher
bevor die Vorsitzende ihre Unwissenheit beteuerte
im April 2022 nämlich
verfasst von Eva Künkler
Kurzum, dort steht:
Albert Hahl wurde im Jahr 1912 der württembergische
Friedrichsorden (Komturkreuz zweiter Klasse) für
insgesamt 460 Sammlungsstücke zuerkannt, die das
ethnografische Museum Stuttgarts zwischen 1899 und 1910
von Hahl erhalten hatte. Diese Ordensverleihungen
bezeugen die sekundäre ethnografische Sammeltätigkeit
kolonialer Akteure, die an den exemplarisch
ausgearbeiteten Militäreinsätzen beteiligt waren und
deren primäres Interesse im kolonialen Projekt lag.
Beteiligt
an exemplarisch ausgearbeiteten Miltäreinsätzen
im Fall von Albert Hahl bedeutet dies zum Beispiel,
Zitat aus der Studie:
Aus diesem Grund hatte Albert Hahl (1868–1945)
als Kaiserlicher Richter bereits im Jahr 1898
eine Beschiessung der Insel
mit Granaten durch S. M. S. ‚Bussard‘
unter dem Kommandanten Otto Mandt (1858–1919) veranlasst.
Diese Art von Sammlungstätigkeit
nennt man in meiner Sprache
Plünderung
Immerhin machte sich der Gouverneur Hahl
für die Wissenschaft verdient, Zitat aus der Studie:
Für den weiteren Verbleib der dokumentierten
anthropologischen und ethnografischen Kriegsbeute konnten
einige Hinweise gegeben werden. So verhalfen Angehörige
der Kolonialverwaltung Deutsch-Neuguineas, nämlich der
Regierungsarzt Wilhelm Wendland und der Gouverneur Albert
Hahl, dem deutschen Anthropologen Eugen Fischer zu zwei
oder drei in Spiritus bzw. Formol eingelegten
menschlichen Köpfen.
Die bisher nicht identifizierten Personen, deren Köpfe
abgetrennt wurden, waren während der militärischen
Operationen gegen die Bevölkerung der Baining des Jahres
1904 gefangen genommen, wegen Mordes an Europäern bzw.
Europäerinnen zum Tode verurteilt und erschossen worden.
(…) Drei der Hingerichteten wurden die Köpfe abgetrennt,
um diese als anthropologisches ‚Material‘ für die
Wissenschaft nach Deutschland zu versenden. Die
Betroffenen sind nicht näher identifiziert, jedoch
erklärte Wendland zu diesem Vorgang:
‚So liess ich die Köpfe der zuletzt Erschossenen
abschneiden und in die Apotheke bringen, wo ich geeignete
Blechgefässe mit Spiritus, die nur zugelötet zu werden
brauchten, für ihren Versand bereitgestellt hatte.’
Die Köpfe der ‚zuletzt Erschossenen‘ wurden dann von Hahl
nach Freiburg i. Br. an den Anatomen, Anthropologen und
Eugeniker Eugen Fischer(1874–1967) verschickt, der ihre
Weichteile für rassistisch motivierte anthropologische
Forschungen verwendete.
Noch einmal die Vereinsvorsitzende in Nürnberg,
jetzt im Wortlaut:
"Ich will keine gestohlenen Sachen im Museum haben,
das ist ganz klar.“
Eine Frage:
Ist es dem Besatzer eines Landes
also dem Generalgouverneur
grundsätzlich möglich
nach Recht und Gesetz zu kaufen
oder ist nicht alles
was er erwirbt
gestohlen
verfolgungs-bedingt entzogen?
Und noch einmal die Vereinsvorsitzende:
„Solange wir nicht wissen, wem was gehört hat, können wir
es auch nicht zurückgeben".
Seit mindestens 47 Jahren
ist der
Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg
aus einer eigenen Publikation bekannt
woher ihre Sammlung stammt
und seit April 2022 weiss sie
auf welche Art und Weise ihre Sammlung zu Stande kam
Das nämliche Zentrum in Magdeburg
antwortete gestern Montag
am 27. November 2023
übrigens aufmeine entsprechende Anfrage:
Es gibt derzeit kein laufendes Projekt der
Naturhistorischen Gesellschaft Nürnberg im Förderbereich
Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des
Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.
Das Resultat
einer Schreibtisch-Recherche
von wenigen Stunden
Verschleierung
Täuschungen
Halbwahrheiten
Zeitspiel
Abwiegelungen
Untätigkeit
Sehen Sie
Es kann nicht darum gehen
ein Museum in einer mittleren deutschen Stadt
an den Pranger zu stellen
Nürnberg ist nur ein Beispiel
Im vergangenen Sommer
wurde vor unser Augen
eine der renommiertesten
Kultur-Institutionen Deutschlands
die Documenta in Kassel
ruiniert
in einem autophagischen Prozess
selbst verdaut
von einer unfähigen Leitung
in Allianz mit der kuratierenden indonesischen Gruppe
die es sich nicht nehmen liess
widerliche antisemitische Karikaturen
zu präsentieren
und kein Verständnis hatte für die Empörung
in Kassel
in einer Stadt
in der wenige Jahre zuvor
der Regierungspräsident Walter Lübcke
ermordet wurde
von einem rechtsextremen Terroristen
Als man den Ruf
dieser wichtigsten Ausstellung
für moderne Kunst
mutwillig in wenigen Tagen
endgültig in den Dreck fuhr
da las ich keine Zeile
von dieser Deutsch-Indonesischen Verbindung
Nichts
Offenbar reichte das Schweigen
über Nürnberg hinaus
Der Zusammenhang zwischen
Nürnberg und Hessen?
Wenn man sich in Deutschland
nicht an die eigene
indonesische Geschichte erinnert
ist es dann nicht unausweichlich
dass man ebenfalls keine Ahnung hat
von der indonesischen Gegenwart?
Und vermutlich Menschen einlädt
ohne zu verstehen
was ihre Ideen sind?
Wir können uns diese Ignoranz nicht leisten
Die Demokratien
können sich diese Ignoranz nicht mehr leisten
Unsere Demokratien sterben
an dieser Ignoranz
ob sie nun Indonesien betreffe
oder die Ukraine
Die Toten sind nicht tot
Wir dürfen sie nicht vergessen
Wir wissen es
Jüdinnen und Juden werden bedroht
und die Mehrheitsgesellschaft
zeigt sich in weiten Teilen
gleichgültig
unsolidarisch
Aber in einer Demokratie
ist der Angriff auf eine Minderheit
ein Angriff auf alle
Als Demokratinnen
und Demokraten
müssen wir den Mut aufbringen
und uns der Wahrheit stellen
Erinnerungspolitik ist niemals erledigt
Jeder Generation steht neu vor der Verantwortung
vor der Frage
wie man sich dem Vergessen entgegenstellt
Wir müssen uns an den Geschwistern Scholl
und an David van Reybrouck
ein Beispiel nehmen
an ihrem Mut
Mut bedeutet
Eine aussichtslose Sache
gegen alle Bedenken
trotzdem zu wagen
Mut bedeutet
Nicht zurückzuschrecken
vor seiner eigenen Angst
Mut bedeutet
nicht erpressbar zu sein
von seiner eigenen Sterblichkeit
Seinen eigenen Vorteil
seine eigene Unverletzlichkeit
sein eigenes Leben
nicht als den höchsten Wert zu betrachten
Der höchste Wert ist die
Wahrheit
und die Freiheit sie auszusprechen
Aber ach
Ich weiss es
Diese Gedanken
diese Worte
muten fast zu gross an
für einen Menschen
meiner Generation und meiner Herkunft
man fühlt sich dabei fast unbehaglich
Wie die meisten bin ich geboren in eine Zeit
in eine Welt
die uns versprach
niemals mehr mutig sein zu müssen
Auch das gehörte zur Friedensdividende
Unser Mut wurde nicht mehr gebraucht
Aber diese Zeiten
sind vorbei
endgültig vorbei
Wir müssen uns an den Mut erinnern
Wir müssen ein Wort wagen
wo es billiger wäre zu schweigen
wenn Menschen
egal welcher Herkunft
bedroht oder beleidigt werden
Wir müssen den Vorhang zerschneiden
den die Lüge und das Vergessen
vor die Wahrheit ziehen
Mut braucht es
so heisst es
sich seines
eigenen Verstandes zu bedienen
Mut braucht es
eine Frage zu stellen
Wenn alle vorgeben
die Antwort zu kennen
Wenn wir es nicht tun
dann verraten wir die Geschwister Scholl
und sind ihrer Tat nicht würdig
sind der Demokratie nicht würdig
Diese Zeit braucht unseren Mut
Wir müssen uns daran erinnern:
Der Preis der Freiheit
ist das eigene Leben
Wir wollen uns ein Beispiel nehmen
Am Mut
den David van Reybrouck auszeichnet
seine Bücher
sein Buch
Revolusi
Indonesien und die Entstehung der modernen Welt
das die Landeshauptstadt München
und der Börsenverein des deutschen Buchhandels
heute auszeichnen
mit dem Geschwister-Scholl- Preis 2023
David van Reybrouck zur Ehre
Uns allen zum Vorbild
Herzlichen Glückwunsch, lieber David!
…Weniger
Dankesrede von David Van Reybrouck
Lieber Hans, liebe Sophie,
da stehen wir wieder, im gleichen Gebäude, nur wenige Meter entfernt von der Stelle wo ihr am Donnerstagmorgen, dem 18. Februar 1943, kurz vor elf Uhr aus dem zweiten Stock einen ganzen Berg Flugblätter in den Lichthof warft. Die Papiere, auf denen zu lesen war, dass die persönliche Freiheit ‘das kostbarste Gut’ war, auf denen zu lesen war, dass es ‘um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit’ ging, auf denen zu lesen war, dass ‘ein neuer Befreiungskrieg’ anbreche, wirbelten hinunter, im filtrierten Morgenlicht des Treppenhauses.
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Am Tag zuvor, liebe Sophie, schriebst du noch in einem Brief an deine beste Freundin wie sehr du Schuberts Forellenquintett, das du dir auf dem Grammophon anhörtest, genossen hattest. ‘Am liebsten möchte ich da selbst eine Forelle sein’, schriebst du, die 21-jährige Studentin der Biologie, die du damals warst. ‘Man kann ja nicht anders als sich freuen und lachen’, fügtest du hinzu, wenn man ‘die Frühlingswolken am Himmel und die vom Wind bewegten knospenden Zweige in der glänzenden junge Sonne sich wiegen sehen kann.’ Und schlossest ab: ‘O ich freue mich wieder so sehr auf den Frühling.’ Fünf Tage später warst du tot.
Das letzte Mal, dass ich in München war, war September 2018. Zwei Jahre vorher hatte ich in einem entlegenen Dorf in den Dünen von Nord-Holland einen Mann von 102 Jahren gesprochen. Er war nur einige Jahre vor dir geboren, lieber Hans, und er hatte auch eine kurze Zeit Medizin studiert, wie du. Ihr hättet bestimmt gut miteinander auskommen können, glaube ich. Auch er machte sich mit einigen Studiengenossen große Sorgen um die Politik seiner Zeit. Auch er war der Meinung, dass Schweigen keine Option war. Auch er wählte die gefährliche Einsamkeit, die Mut heißt. Djajeng Pratomo war sein Name, er war geboren in Batavia, das derzeitige Jakarta, und 1936 war er als Student nach Holland gekommen, dem Land des Kolonisators. Es gab damals nur 800 Indonesier in den Niederlanden, und von ihnen gingen fast hundert schon bald in den Untergrund, wissen wir seit der bahnbrechenden Studie von Hermann Keppy, der heute Abend auch zugegen ist.
Als ich mit Djajeng Pratomo über jene Zeit sprach – der Regen schlug gegen die Scheiben, das Helmgras peitschte in den Dünen – sagte er: ‘Wir entschieden uns, zuerst den Faschismus zu bekämpfen und erst dann den Kolonialismus.’ Und so halfen er und seine niederländische Freundin Stennie Streitschriften zu drucken, Zeitungen zu verteilen, Juden dabei zu helfen unterzutauchen. Wegen dieser Aktivitäten wurden sie verhaftet und landeten im niederländischen Konzentrationslager Vught. Später wurde Stennie nach Ravensbrück und er nach Dachau versetzt. Er erzählte mir, dass er sich bei Ankunft ausziehen sollte und wie verdutzt der Lagerarzt war wegen seiner dunklen Hautfarbe. ‘Aus Indonesien? Hier?’ imitierte Djajeng Pratomo sein Deutsch. ‘Das haben wir noch nie gehabt!’
Und so lief ich im September 2018 durch die unerträglich graue Stille von Dachau und dachte an das, was Djajeng erzählt hatte. ‘Der Deutsche, der angestellt war als Führer des Lagers, griff mich heraus, um mit einem russischen Arzt zusammenzuarbeiten. Als Student hatte ich nur ein Jahr Medizin in Leiden studiert. Wegen dieses medizinischen Wissens habe ich es geschafft.’ Er landete in der Infektionsbaracke. ‘Jeden Morgen, beim Aufstehen, fand ich in den Betten Dutzende von Toten vor, dem Flecktyphus erlegen (…) Mit einem Helfer, einem russischen Jungen von 15 Jahren, brachte ich die Toten zur “Totenkammer”. Es starben so viele Gefangene, dass am Ende kein Platz mehr war. Wir mussten die Toten neben die Totenkammer legen. Jeden Morgen kamen Dutzende Tote hinzu. Am Ende waren wir dazu gezwungen sie aufzustapeln. Der Haufen wurde höher und höher. Wir mussten eine Leiter verwenden, um die Toten obendrauf legen zu können.
Djajeng und Stennie überlebten beide auf wundersame Weise die Lager. Dass ihre Tochter, Marjati Pratomo, hier heute Abend mit ihrem Ehemann zugegen ist, bewegt mich sehr.
Lieber Hans, liebe Sophie, im fünften Flugblatt, das ihr mit euerem Freundeskreis verteilt habt, war zu lesen: ‘Der imperialistische Machtgedanke muss, von welcher Seite er auch kommen möge, für alle Zeit unschädlich gemacht werden (…) Jedes Volk, jeder einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt!’ Ich denke, dass die indonesischen Widerstands- und Unabhängigkeitskämpfer ganz eurer Meinung gewesen wären.
Als ich am Buch Revolusi arbeitete, habe ich Hunderte von Menschen in Asien und Europa interviewt. Oft war ich gerade noch zur rechten Zeit. Viele erzählten zum letzten Mal ihre Geschichte, manche zum ersten Mal. Hamad Puag Abi war 17 Jahre alt, als er das Gemetzel in der Nähe von Galung Lombok auf der Insel Sulawesi sah: mehr als 300 Menschen wurden im Februar 1947 vor seinen Augen von kolonialen Truppen niedergemäht, er musste mit bloßen Händen die Leichen begraben helfen. ‘Noch immer erinnere ich mich an den Krach der Gewehre’, sagte er schluchzend. ‘Und dieses Blut. Überall Blut. Ich habe noch immer Albträume, noch immer sehe ich diese Bilder. Jener Samstag war der schlimmste Tag meines Lebens. Du bist der erste Europäer, der mich danach fragt. Ich erwarte nichts von den Niederlanden. Gar nichts. Nur Frieden.’
Hans und Sophie, Imperialismus und Kolonialismus gibt es heutzutage leider noch immer. Die Gewalt, die Menschen sich gegenseitig antun, wurde nicht für alle Zeit unschädlich gemacht, wie ihr gehofft habt, sondern flackert dann und wann auf mit einer Wucht und einer Rücksichtslosigkeit, die erschüttern. ‘Nur Frieden’ darf kein frommer Wunsch bleiben.
Außerdem hindert die ganze widerliche, zwischenmenschliche Gewalt uns daran, Aufmerksamkeit zu verwenden auf die große unsichtbare Gewalt, die die Menschheit der Welt zufügt. Es hemmt uns, den größten Kampf unserer Zeit aufzunehmen. Nach Congo und Revolusi werde ich öfters gefragt welche Kolonialgeschichte ich mir im nächsten Buch vornehmen werde. Vielleicht wäre es an der Zeit über die Franzosen in Algerien zu schreiben? Über die Portugiesen in Angola? Oder über die Deutschen in Namibia? Das könnte erfolgreich sein, oder? Ich schüttele den Kopf. Die nächsten zehn Jahre sind ausschlaggebend im Kampf gegen den Klimawandel. Jetzt geht es um die Zukunft. Wir machen einen gravierenden Fehler, wenn wir den Kolonialismus beschränken auf die Vergangenheit. Wenn wir so sehr auf historisches Unrecht achtgeben, dass wir nicht sehen, dass Pakistan im letzten Jahr unter Wasser stand wegen einer Erderwärmung, die das Land nicht selber herbeigeführt hat. Wir machen einen Fehler, wenn wir die koloniale Weltkarte kennen, aber nicht sehen, wie sehr sie sich fortsetzt in die klimatologische Weltkarte von heute. Wir machen einen Fehler, wenn wir nicht wahrnehmen, wie sehr die für die Erderwärmung verantwortlichsten und die meist verletzbaren Länder mit den ehemaligen Kolonialmächten und den kolonisierten Gebieten übereinstimmen.
Die Art, wie wir heutzutage den Süden, die Zukunft und das ganze Earth System kolonisieren dadurch, dass wir planetarische Grenzen rücksichtlos überschreiten, ist die größte Herausforderung unserer Zeit. ‘Jedes Volk, jeder einzelne hat ein Recht auf die Güter der Welt’, schriebt ihr; so weit sind wir noch lange nicht, aber die Güter der Welt erschöpfen sich allmählich, verschlungen von einer Minderheit. Und es sind aufs Neue junge Leute, die völlig berechtigt Alarm schlagen, genauso radikal, kompromisslos und ehrlich, wie ihr gekämpft habt.
Wir können nicht dekolonisieren ohne zu dekarbonisieren. Und wir können nicht dekarbonisieren ohne zu demokratisieren. Darüber handelt mein nächstes Buch, lieber Hans und liebe Sophie, und ich hätte so herzlich gerne mit euch und mit eurem Freundeskreis darüber mal gesprochen. Mit Alexander und Christoph und Willi und Kurt. Aber keiner von euch hat es überlebt. Ich denke oft an euch, und noch mehr, seit ich die Nachricht bekam, dass ich den nach euch benannte Preis gewonnen habe. Ich bin der Jury sehr dankbar für die Anerkennung, die ich als die höchste Ehre betrachte, die mir jemals zuteilgeworden ist. Aber ich bin mir darüber im Klaren, dass das Wort Laureat, abgeleitet vom Partizip ‘laureatus’, in der deutschen Sprache eine aktive Einstellung voraussetzt: man wird ‘Preisträger’, man muss eine Auszeichnung auch tatsächlich tragen. Also! Ich möchte diesen Preis gerne tragen in der Hoffnung, etwas von eurem Mut und eurer Unerschütterlichkeit zu ehren. Und vielleicht auch etwas von eurem Lebenswillen zu feiern.
Lieber Hans, ich las, dass du in deiner Zelle, kurz bevor das Urteil vollstreckt wurde, zusammen mit einem Geistlichen Psalm 90 nochmals gelesen hast, deren eindrucksvolle Schlusszeilen lauten: ‘Lass das Werk unsrer Hände gedeihen, ja, lass gedeihen das Werk unsrer Hände!’ Und im Brief an deine beste Freundin, Sophie, schriebst du: ‘Man spürt und riecht in diesem Ding von Schubert förmlich die Lüfte und Düfte und vernimmt den ganzen Jubel der Vögel und der ganzen Kreatur.’ Liebe zur Welt, Liebe zum Leben, was denn sonst? Im Quellenwerk von Martin Kalusche las ich, Sophie, dass bei deinen hinterlassenen Sachen im Stadelheim-Gefängnis vorgefunden wurden: ‘1 Mantel, 1 Halstuch, 4 Marken, 9 Zigaretten, etwas Schokolade, Äpfel und Gebäck.’
Ich kann nichts dafür, aber das Bild der Äpfel werde ich nicht los. Vielleicht liegt für mich darin der Kern dieses außergewöhnlichen Preises. Soll ich deine Äpfel weitertragen, Sophie?
Ich danke euch.
Und ich danke Ihnen allen.
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