Katerina Gordeeva, geb. 1977, wurde zu einer der zehn einflussreichsten unab-hängigen Journalistinnen Russlands ernannt (Romir Research Holding) und viel-fach ausgezeichnet, u. a. 2022 mit dem Internationalen Anna-Politkowskaja-Journa-listenpreis. Bis 2012 arbeitete sie als TV-Reporterin und als Kriegsberichterstatterin, 2014 verließ sie Moskau aus Protest gegen Russlands Annexion der Krim. 2020 gründete sie ihren eigenen YouTube-Kanal und erreicht damit heute ein Millionen-publikum. Mit ihrer Familie lebt sie im Exil in Lettland.
Preisträgerin 2024
Katerina Gordeeva
Nimm meinen Schmerz
Geschichten aus dem Krieg
Aus dem Russischen von Jennie Seitz
Droemer Verlag, 2023
ISBN 978-3-426-27917-5
Autorin
Begründung der Jury
Wo der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nicht viel mehr als eine wiederkehrende Nachricht ist, macht man sich selten klar, was er für einzelne Menschen konkret bedeutet: Inmitten unglaublicher Zerstörung leben zu müssen, mit der Bedrohung für den eigenen Körper und das nackte Leben, mit dem Tod von Freunden, Nachbarn, Familienmitgliedern, mit konstanter Gewalt. In 24 Porträts von Überlebenden vor allem aus der Ukraine stellt die Journalistin Katerina Gordeeva die brutale Realität dieses Krieges dar.
In ihrem auch literarisch sehr beeindruckenden Buch „Nimm meinen Schmerz“ stehen die Stimmen dieser Frauen und einiger Männer im Vordergrund. Gordeeva protokolliert in langen Passagen direkter Rede deren Erleben. Aber sie zeigt sich doch auch selbst und ihre schwierige Rolle als Reporterin, die selbst aus dem Land kommt, das Krieg und Leid über ihre Gesprächspartnerinnen gebracht hat. Zumal sie ihre Interviews auf Russisch führt, für viele Gegenüber die kaum noch zu ertragene Sprache des Aggressors.
Statement of the Jury
Where the Russian war of aggression against Ukraine is little more than a recurring news item, it is rarely realised what it means for individual people: having to live in the midst of unimaginable destruction; with the threat to one’s body and bare life; with the death of friends, neighbours, family members; with constant violence. In 24 portraits of survivors, mostly from Ukraine, journalist Katerina Gordeeva presents the brutal reality of this war.
In her book Take My Grief Away, an impressive literary work, the voices of these women and men take centre stage. Gordeeva records their experiences in long passages of direct speech. But she also reveals herself and her difficult role as a reporter who comes from the very country that brought war and suffering upon her interlocutors. Especially since she conducts her interviews in Russian, for many of her interviewees the almost insufferable language of the aggressor.
Verleihung
Der 45. Geschwister-Scholl-Preis wurde am 26. November 2024 in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität in München an Katerina Gordeeva verliehen. Oberbürgermeister Dieter Reiter und Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels - Landesverband Bayern e.V. (rechts), überreichten als Stellvertreter der Stifter die Urkunde. Die Laudatio hielt Alice Bota.
Ansprache von Dieter Reiter
Zum 45. Mal vergibt die Landeshauptstadt München zusammen mit dem Landesverband Bayern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels heuer den Geschwister-Scholl-Preis und prämiert damit ein Buch, „das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen und intellektuellen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben“. Und das dabei im weitesten Sinne an das Vermächtnis der Geschwister Scholl erinnert.
„Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg“ heißt das Buch, das wir dieses Jahr auszeichnen. Geschrieben hat es Katerina Gordeeva, eine der einflussreichsten unabhängigen russischen Journalistinnen und scharfe Putin-Kritikerin. In 24 dokumentarischen Porträts von überwiegend ukrainischen Überlebenden des russischen Angriffskrieges macht Gordeeva in ihrem Buch die brutale Realität dieses Krieges schmerzhaft anschaulich. Und sie bringt das Leid und die Verzweiflung und auch den Hass der Menschen angesichts der entfesselten Unmenschlichkeit noch näher zu uns als alle Berichte über Frontverläufe, zerstörte Infrastruktur oder russische Drohgebärden. Man muss es so sagen: Es ist ein zutiefst erschütterndes und beklemmendes Buch. Eines, das unter die Haut geht und uns die Augen öffnet.
Ansprache von Klaus Füreder
„Nimm meinen Schmerz. Geschichten aus dem Krieg“ lautet der fast schon lapidar klingende Titel Ihres Buches über den Krieg Russlands in der Ukraine. Was sich darin verbirgt, ist allerdings an Grauen und Entsetzen ob des Geschilderten nur schwer zu ertragen. Man kann diese 24 Reportagen und Interviews nur in geringen Dosen verarbeiten. Man muss immer wieder ein- und innehalten in der Lektüre, weil man das Gelesene in seiner Unerträglichkeit nicht wahrhaben will. Ja, man muss sich fast zwingen, die Realität der vielen eindringlichen Schicksale zu akzeptieren. Und doch sind das die sehr schmerzhaften Wahrheiten und Wirklichkeiten eines Krieges, der sich mittlerweile seit über 1.000 Tagen und nur wenig mehr als 1.000 Kilometer von uns entfernt, ereignet.
Laudatio von Alice Bota
Lassen Sie mich mit einer Frage beginnen, die unweigerlich fallen wird angesichts der Würdigung mit einer so besonderen Auszeichnung wie dem Geschwister-Scholl-Preis, immerhin benannt nach Geschwistern, die sich dem Krieg und dem Nazi-Terror der Deutschen entgegengestellt und dafür mit dem Leben bezahlt haben:
Darf eine Russin das?
Darf eine Russin über das Leid schreiben, das Ukrainerinnen und Ukrainer in diesem Krieg erleiden?
In einem Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt?
In einem Krieg, in dem Russen Monat für Monat Kriegsverbrechen begehen? In dem russischen Soldaten vergewaltigen und ukrainische Kinder nach Russland verschleppen? In dem die Besatzer gezielt ukrainische Bücher und Kunstwerke vernichten? In dem sie ukrainische Schulpläne umschreiben, Geschichte verfälschen, die ukrainische Sprache verbieten?
Dankesrede von Katerina Gordeeva
Es ist eine große Ehre für mich, diesen Preis verliehen zu bekommen, nicht nur aus beruflichen, sondern auch aus persönlichen Gründen. Vielen, vielen Dank.
In meinem tiefsten Inneren wünsche ich mir jedoch, dass dieses Buch nie geschrieben worden wäre. Das würde bedeuten, dass der Krieg gegen die Ukraine und das ukrainische Volk – ein Krieg, den der Präsident meines Landes, Vladimir Putin, 2014 begonnen hat und der 2022 auf das gesamte Staatsgebiet der Ukraine ausgeweitet wurde – nie begonnen hätte. Und das hätte bedeutet, dass diese zehn Jahre der Straflosigkeit, der Böswilligkeit und der Geringschätzung des menschlichen Lebens nie stattgefunden hätten.
Dankesrede von Katerina Gordeeva (Englisch)
It is a great honor for me to receive this award not only for professional, but also for personal reasons. Thank you very, very much.
Deep down inside, though, I wish that this book had never been written. That would mean that the war against Ukraine and the Ukrainian people – a war that the president of my country, Mr. Putin, began in 2014, and which entered a full-scale phase in 2022 – had never started. And that would have meant that these ten years of impunity, malice, and the disregard for human life would have never happened.