Sehr geehrte Carolin Amlinger, sehr geehrter Oliver Nachtwey, sehr geehrte Damen und Herren der Jury des Geschwister Scholl Preises 2025, meine Damen und Herren,
in meiner Erinnerung war die Zeit der friedlichen Revolution, des Mauerfalls und des Epochenumbruchs von 1989 von einem unglaublichen Aufbruchsgeist geprägt. Für viele Menschen im Osten Deutschlands herrschte eine aus heutiger Sicht naive, aber starke Hoffnung, dass die Demokratie und die damit verbundene Freiheit und Wiedervereinigung eine neue bessere Ära einläuten würde. In Ost wie West glaubte man, die größten politischen Kämpfe seien gewonnen und Demokratie, Freiheit und freie Marktwirtschaft in der Zukunft unbesiegbar.
Der Epochenumbruch war auch für mich und für viele in meiner Generation ein Moment der Ermächtigung und der Zuversicht. „Wir sind das Volk“ hieß es auf den Straßen der DDR im Herbst 1989 als Antwort auf die Durchsagen der Sicherheitsorgane: „Achtung, Achtung, hier spricht die Volkspolizei“. Aber schon als aus dem Motto „Wir sind das Volk“ “Wir sind ein Volk“ wurde, haben sich die People of Color aus der DDR gedacht: Vorsicht! Jetzt sind wir wahrscheinlich nicht mehr gemeint.
Die Vision eines geeinten, freien und demokratischen Deutschlands und Europas schien zum Greifen nah und unaufhaltsam. Doch mit dieser Freiheit kam eben auch eine Verantwortung, die damals niemand so recht zu Ende gedacht hat.
Die harten Transformationserfahrungen der 1990ger Jahre, die seinerzeit nur im Osten des wieder geeinten Landes gemacht wurden, hätten bereits als Menetekel gelesen werden können, denn die neoliberalen Instrumente damaliger Politik begünstigten wenige Gewinner und vergrößerten die Ungleichheiten auf lange Sicht.
Es macht überdies einen Unterschied, ob man im Kontext eines Wirtschaftswunders demokratiesozialisiert wird oder eben eine Sturzgeburt in die liberale Demokratie mit den Erschütterungen von Massenarbeitslosigkeit und den Abwertungen nachholender Bildungsabschlüsse erlebt.
Wir haben zu wenig berücksichtigt, dass Demokratie nicht im luftleeren Raum praktiziert wird und vor allem kein Selbstläufer ist, sondern im ständigen Ringen um Konsens und Kompromiss ausgehandelt werden muss. Und wir haben uns der Kritik am Kapitalismus weitgehend enthalten, schien uns doch der Sieg über die sozialistische Misswirtschaft eindeutig. Deshalb haben wir gar nicht erst danach gefragt, ob der Kapitalismus auch ohne Demokratie denkbar ist.
Nicht nur dort, wo damals Aufbruchsstimmung herrschte, wächst heute eine tiefe Ernüchterung und Enttäuschung. Die Versprechungen von Aufstieg und Emanzipation, die die liberale Demokratie einst mit der Rendite fossilen Wirtschaftens und ihrer Verteilung einlöste, bleiben mehr und mehr unerfüllt. Und gegen die Blockaden der liberalen Gesellschaft wendet sich nun die Wut und das fast manische Zerstörungsbegehren eines Teils der Gesellschaft, die sich einem gefühlten unaufhaltsamen sozialen Abstieg entgegen gehen sieht.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey gehen in ihrem Werk „Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus“ der beunruhigenden Beobachtung nach, dass sich immer mehr Menschen von der liberalen Demokratie abwenden und die eigene Gesellschaft und ihre Institutionen brennen sehen wollen. Ich will vorausschicken, dass mich als Zeitzeuge der friedlichen Revolution und als langjährigem Akteur der politischen Bildung die Lektüre dieses Buches aufwühlt, nachdenklich stimmt und demütig werden lässt.
Bereits mit ihrer vorausgegangenen Arbeit „Gekränkte Freiheit“ haben die Autoren das Phänomen eines wachsenden libertär-autokratischen Verhaltensmusters sozialpsychologisch identifiziert. Anstatt aber dieses als bloße Regression zu autoritären Traditionen zu deuten, analysieren sie diesen libertären Autoritarismus, der Freiheit nicht nur als gesellschaftliches Gut sondern eben als individuellen Besitzanspruch begreift.
In „Zerstörungslust“ entwickeln sie diese Beobachtung weiter und belegen auf der Basis umfangreicher empirischer Daten, dass die Gesprächspartner die Gesellschaft als „schlechter werdend“ beschrieben und das Gefühl verbalisierten, im eigenen Leben und in ihren Erwartungen um Aufstieg und Wohlstand betrogen worden zu sein. Diese tief sitzende Enttäuschung ist quasi der Treibstoff, der die zerstörerische Wut antreibt, die wir besonders in den sozialen Medien, aber auch im Alltagsleben beobachten.
Verwandte Theorien, wie die der Politikwissenschaftlerin Elisabeth Anker, die in „ugly freedoms“ den Begriff der „hässlichen Freiheiten“ prägt, finden hier eine empirische Bestätigung. Anker beschreibt, wie dieser Freiheitsbegriff das Recht zur Ausbeutung und Zerstörung einschließt, was die Autoren von „Zerstörungslust“ in ihrer Analyse noch einmal detaillierter plausibilisieren. Insbesondere gehen sie auf die Erfahrung ein, dass die zahlreichen zeitgleichen Krisen (Klimawandel, Migration usw.) ein Gefühl der Enttäuschung verstärken, weil und indem sie die Grenzen der individuellen Freiheiten aufzeigen.
Die Revolte richtet sich damit gegen eine blockierte liberale Demokratie, die handlungsunfähig geworden ist, nicht aber gegen einen außer Rand und Band geratenen Neoliberalismus, der einige wenige unverschämt reich gemacht hat und viele in Armut und Existenzangst treibt. Im Gegenteil: Man setzt auf eine entfesselte kapitalistische Dynamik, der die demokratischen Regulierungen und Verfahren nur im Weg stehen. Der durch die explodierenden Ungleichheiten zerbrechende gesellschaftliche Zusammenhalt gebiert dann Monster, die die uneingelösten Versprechen der Demokratie in libertär autokratische Verhaltensweisen verwandeln, in denen der Mensch dem Menschen (insbesondere diversen Minderheiten) zum Wolf wird.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey beschreiben einen „demokratischen Faschismus“, der aus den Erfahrungen mit einer dysfunktionalen liberalen Demokratie erwächst, die als zerstörerisch erlebt wird und einstige Versprechungen aufgrund limitierten Wachstums nicht mehr einlösen kann. Hinzu tritt das Gefühl, dass die liberale Demokratie selber bevormundend, übergriffig und autoritär geworden ist. Ständig wird man erzogen, gegängelt und geimpft. Um der weiteren Zerstörung zuvorzukommen, wenden sich nun mehr und mehr Menschen gegen die liberale Demokratie, indem sie ihrerseits, über den Weg freier Wahlen, zur „Zerstörung“ schreiten und die Institutionen der Demokratie, wie die unabhängige Justiz und freie Medien attackieren und in Grund und Boden stampfen wollen.
Im Unterschied zum klassischen Faschismus höhlt der „demokratische Faschismus“ die Institutionen der Demokratie von innen heraus aus, anstatt sie von außen offen zu bekämpfen. Die Grausamkeiten rassistischen und menschenfeindlichen Denkens sickern in den Alltag ein und prägen die enthemmten, brutalen und willkürlichen Vorstellungen politischer Lösungsszenarien.
„Zerstörungslust“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ist ein Werk, das durch „geistige Unabhängigkeit“, „bürgerliche Freiheit“ und „moralischen Mut“ besticht und damit ganz im Geiste der Geschwister Scholl diesen Preis verdient hat. Gegen Praktiken der Zerstörung der Demokratie gilt es aufzustehen. Vor dem Aufstehen allerdings steht die Reflexion, das Nachdenken und das Analysieren.
Das ausgezeichnete Buch gibt wichtige und mutige Anstöße der Frage nachzugehen, wie wir eigentlich ein gutes Leben zusammen führen wollen, indem es die Gefahren und Drohkulissen beschreibt, die dem im Weg stehen. Die Geschwister Scholl haben sich den Zerstörungen und Verwüstungen ihrer Zeit widersetzt und dafür mit dem Leben bezahlt. Der ihnen gewidmete Preis erinnert daran, dass es auch heute darum geht, sich den Gefahren und Abgründen unmenschlichen Verhaltens entgegenzustellen.
Ein großes Verdienst dieses Werks ist die empirische Tiefe, die durch 2600 Teilnehmende an einer Umfrage und 41 ergänzende, umfassende und problemzentrierte qualitative Interviews mit AfD Anhängern und libertär autoritären Gruppen hergestellt wird, um ihre Motive zu deuten. Diese eigenen Untersuchungen werden sorgfältig mit anderen Befunden korreliert und eingeordnet, so dass eine seriöse Basis für die entwickelten Thesen des Werks geschaffen wird.
Besonders hervorzuheben ist der empathische Umgang mit den Quellen. Die Autoren vermeiden pejorative und abwertende Beschreibungen der Gesprächspartner und entgehen so oberflächlichen Erklärungsmustern. Sie reduzieren ihre Gesprächspartner nicht auf politische Gegner, sondern fragen nach ihren Gefühlen und den Bedingungen und Strukturen der liberalen Demokratie, die zu diesen Haltungen geführt haben. Dabei zeigen sie die Gefahren der „Zerstörungslust“ und die damit verknüpften autoritativen Tendenzen klar und unmissverständlich auf.
Der interdisziplinäre Ansatz, soziologische und literaturwissenschaftliche Methoden zu verflechten, mutige und luzide Begriffsbildungen – ganz im Sinne von Hannah Arendts „Denken ohne Geländer“ zu wagen und dabei einen Zugang für eine breitere Leserschaft zu schaffen, zeichnet das Buch definitiv aus. Diese Intention macht „Zerstörungslust“ dringlicher und drückt die politische Brisanz einer notwendigen und angemessenen Mobilisierung, sich mit den Befunden auseinanderzusetzen und ins Handeln zu kommen, pointiert aus.
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey wollen mit ihren Argumenten, nicht nur analysieren, sondern aufwecken und ermutigen, selber aktiv zu werden. Sie verstehen sich als „Experten für Probleme, nicht für konkrete Lösungen“, plädieren dann aber doch für einen neuen postliberalen Antifaschismus, der im Anschluss an Polanyi und vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen darüber nachdenkt, commons wie Arbeit, Boden und Geld dem Markt zu entziehen. Das wäre endlich ein konkreter Trennungsgrund für die unglückliche Ehe der spätmodernen Demokratie mit dem grenzenlosen Neoliberalismus, der längst fremdgeht und von einem weltweiten Kapitalismus ohne Demokratie träumt.
Im Kern ermutigen die Autoren von „Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus“ politische Akteursgruppen und natürlich ihre Leserschaft ins Handeln zu kommen und sich für eine gerechtere inklusive Gesellschaft zu organisieren und zu formieren. Dazu muss man raus aus der privilegierten Komfortzone.
Demokratie ist kein Erbgut, was sich automatisch auf die nächste Generation überträgt. Sie will täglich aufs Neue verteidigt und begründet werden. Unterstützt wird sie dabei nicht nur von einem vielfältigen Angebot an politischer Bildung, die sich in den verschiedensten sozialen Räumen entfaltet. Sondern immer wieder auch von kritischen wissenschaftlichen Impulsen, die unverzichtbare gesellschaftspolitische Debatten anstoßen. Insofern ist dem Werk – gerade auch in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung – eine breite Rezeption zu wünschen.
Denn Carolin Amlinger und Oliver Nachtweys Buch „Zerstörungslust“ hat – darin durchaus den Ansprüchen politischer Bildung verwandt – einen klaren Kompass, der auf eine inklusive Gesellschaft zielt, die von den normativen Grundsätzen der Menschenwürde und den Menschenrechten getragen ist.
„Zerstörungslust“ berichtet von den Abwegen und Abgründen der spätmodernen Gesellschaft, die dazu führen, den verfassungsrechtlichen Kern des Grundgesetzes zu pervertieren. Die Menschenwürde ist eben unteilbar und kein Privileg, die Meinungsfreiheit braucht kritische Perspektiven und nicht Hass und Hetze. Und das Sozialstaatsprinzip stellt uns die kritische Frage, ob wir ihm in den letzten Jahrzehnten adäquat nachgegangen sind.
„Zerstörungslust“ führt uns vor Augen, dass es aktuell um nicht weniger als um die Verständigung und Interpretation der Grundrechte geht.
Das Buch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey führt uns die Gefahr vor Augen, dass der Sieg der freiheitlichen Demokratie 1989 zu einer Fußnote der Geschichte werden kann, wenn wir nicht begreifen, dass es heute unter veränderten Vorzeichen darauf ankommt, die Demokratie zu erneuern und zu reparieren und ihr Verhältnis zum Neoliberalismus grundlegend neu zu bestimmen, um ihre großen Versprechungen wieder einlösen zu können.